„Evîn Di Rûyê Qirkirinê De” (kurdisch für „Liebe im Angesicht von Genozid”) – so lautet der Titel des neuen Dokumentarfilms des Filmemachers Şêro Hindê über die orale Literatur der ezidischen Dengbêj in Şengal. Dengbêj, das sind kurdische Poet*innen – Barden – die mit mündlich tradierten Liedern verschiedenen Genres, ohne musikalische Begleitung, von Generation zu Generation die Schmerzen und das Leid ihrer Gesellschaft, Kriege und Konflikte zwischen den Völkern und Ethnien, Widrigkeiten der Liebe, Bräuche der Freude, märchenhafte Erzählungen, Klagelieder oder Gebetshymnen weitergeben. Vor allem für das kurdische Volk gilt die orale Literatur als Autobiografie der Gesellschaft, daher werden Dengbêj auch als Historiker*innen betrachtet.
Zwar existieren Forschungen über die mündliche kurdische Literatur, aber nur in geringem Maß. Insbesondere fehlen ausführliche Arbeiten über die Traditionen in bestimmten Kulturräumen wie in den ezidischen Siedlungsgebieten. Die Ezid*innen, deren überwiegende Mehrheit sich ethnisch als Kurd*innen definiert, sind als synkretistische, monotheistischen Religion, die Elemente aus dem Zoroastrismus und dem Sufismus vereint, nicht erst seit dem Terror der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat” (IS) systematischer Verfolgung ausgesetzt, sondern bereits seit der Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens einschließlich der kurdischen Gebiete in den heutigen Nationalstaaten Irak, Türkei, Syrien und Iran. Es wird davon ausgegangen, dass die Ezid*innen seit dem 12. Jahrhundert Opfer von 74 Ferman – Genoziden bzw. Massakern durch islamisierte Gruppen und Staaten wurden. Ihre Dengbêj trugen diese Erlebnisse mit ihren Stimmen bis in die Gegenwart.
Andauernder Genozid seit August 2014
Das Wort Ferman bezeichnet eigentlich ein Dekret oder einen Erlass in islamischen Ländern, bei den Ezid*innen hat es sich in der Bedeutung „Genozid” festgesetzt. Laut Jan Ilhan Kizilhan, einem international anerkannten und gefragten Experten für transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, der selbst Ezide ist, wurden bisher 1,8 Millionen Ezid*innen zwangskonvertiert und etwa 1,2 Millionen getötet. Ihre Zahl wird heute weltweit nur noch auf 800.000 bis 1.000.000 geschätzt, denn zahlreiche Fatwas (islamische Rechtssprüche) „erlaubten“ ihre Tötung, Verschleppung und Zwangsislamisierung sowie die Plünderung ihres Eigentums, da sie als Angehörige einer polytheistischen Religion angesehen wurden (Kizilhan und Othman, 2012). Auch der IS bediente sich solcher Scheinargumente zur Durchführung des Genozids an den Ezid*innen in Südkurdistan/Nordirak im August 2014, dem neueren Schätzungen nach etwa 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und weitere Tausende werden bis heute vermisst. Die ezidische Gemeinschaft ist Opfer eines andauernden Völkermords.
„Evîn Di Rûyê Qirkirinê De” - Ein Stück kurdische Geschichte
Diese seit Jahrhunderten nicht endende Kette von Verfolgung der Ezid*innen, die auch heute noch ihrer Grundrechte und Freiheiten beraubt und Opfer von politischen Spannungen sowie konfessioneller Gewalt werden, wird auch in den Liedern der Bardinnen und Barden aus Şengal besungen. Sogar viele der Liebeslieder handeln von den Qualen der Ferman. Somit stellt „Evîn Di Rûyê Qirkirinê De” eine herausragende Quelle zur Kenntnis der Geschichte der Ezid*innen dieser Region dar.
Kulturgut aus der Filmkommune Rojava
Produziert wurde „Evîn Di Rûyê Qirkirinê De” von der Filmkommune Rojava (Komîna Fîlm a Rojava), fast drei Jahre dauerten die Dreharbeiten an. Den Soundtrack der Dokumentation lieferte Mehmûd Berazî, der sich auch als Produzent der Guerillaband Awazê Çîya betätigt, aber neuerdings auch als Kompomist von kurdischer A-cappella-Musik. Vielen Menschen außerhalb Kurdistans ist sein Name zudem seit Şervano, dem Lied des Widerstands von Rojava, ein Begriff.
Seine Premiere feiert „Evîn Di Rûyê Qirkirinê De” kommenden Monat beim Donostia Zinemaldia, dem internationalen Filmfestival von San Sebastián. Die Erstaufführung für das kurdische Filmpublikum ist für den 3. August, dem Jahrestag des IS-Überfalls auf Şengal, in der nordostsyrischen Stadt Qamişlo geplant. Wann die ezidischen Poet*innen einem globalen Publikum zugänglich gemacht werden, steht noch nicht fest. Bis dahin müssen wir uns mit dem Trailer zufrieden geben.