Mit Beginn der Rojava-Revolution hat Nord- und Ostsyrien viele gesellschaftliche Veränderungen erlebt. Seit nunmehr zehn Jahren wächst eine neue Generation heran - auf Grundlage von Frauenbefreiung, Sozialökologie und radikaler Demokratie, jenseits des syrischen Regimes von Baschar al-Assad.
Das Filmteam um Ferran Domènech Tona sieht sich in der Stadt Kobanê einer anderen Realität gegenüber. Einige nehmen diese sozialen Veränderungen mit Begeisterung an, während andere darüber nachdenken, nach Europa auszuwandern. Basierend auf den Lebensgeschichten der beiden Bewohner:innen Zîlan und Hisên taucht das Team in die Realität einiger junger Menschen ein, um zu verstehen, wovor sie Angst haben und was ihre Ziele sind. Der Film zeigt die Stadt Kobanê, wo der Krieg gegen den Islamischen Staat und Massaker an Zivilist:innen stattfanden. Er versucht nachzuvollziehen, wie Frauen gegen die Autorität von Männern kämpfen und wie sie daran arbeiten, das Patriarchat in der Gesellschaft überwinden.
„Kobanê: To stand up“ ist ein Film, der auf einfache und verständliche Weise die Situation in Rojava und Kobanê erklärt. Die Protagonist:innen erzählen auf eine sehr eindringliche Art, mit welchen Problemen und Sorgen sie konfrontiert sind, wie sie die Schmerzen des Krieges zu überwinden versuchen. Am Sonntag wurde der Film beim Kurdischen Filmfestival Hamburg gezeigt. ANF konnte mit Ferran Domènech Tona am Rande der Veranstaltung sprechen.
Du warst zwei Jahre lang als Journalist in Rojava unterwegs. Was hast du dort vorgefunden?
Ich bin 2019 während des Serêkaniyê-Krieges als Freelancer nach Rojava gegangen. Ich habe für verschiedene Zeitungen geschrieben und mit ihnen zusammengearbeitet. Nach und nach habe ich begonnen, die Realität der Menschen in Kobanê zu verstehen, die Menschen um uns herum, die Freund:innen. Sie hatten alle so kraftvolle Geschichten, die außerhalb einfach bekannt werden mussten. Es war sehr interessant für mich, wie die Menschen sich trotz der Bombardierungen selbst organisieren, obwohl sie tagtäglich angegriffen werden. Sie verlieren nicht ihre Moral und ihren Mut, sie versuchen immer, sich zu organisieren, die schwierige Situation zu verbessern. Sie leisten Widerstand und entwickeln Resilienz. In Europa würden uns wohl kleinere Dinge aus der Bahn werfen. Aber diese Mentalität haben die Menschen in Rojava nicht. Ihre Devise lautet eher: Wir müssen daran arbeiten, die Situation zu verändern.
Es war gar nicht geplant, einen Dokumentarfilm zu machen. Aber irgendwann merkten wir, dass wir richtig gutes Material hatten. Wir haben ein paar Sequenzen bearbeitet, etwa vom 8. März, dem internationalen Frauentag, oder Newroz. Die waren wirklich sehr schön. Und so kam die Idee auf, diese Realität mit anderen Menschen zu teilen. Dabei ging es eher um Leute in Katalonien. An etwas Größeres dachten wir damals gar nicht. Wir waren sehr überrascht, dass diese Dokumentation weltweit in zahlreichen Orten auf der Welt gezeigt wurde, beispielsweise in Indien, Kolumbien oder hier in Deutschland.
Wo warst du in Rojava?
Überwiegend in Qamişlo und Kobanê.
Ferran Domènech Tona (m.) wurde 1990 in Vic (Barcelona) geboren und studierte Werbung und Öffentlichkeitsarbeit an der Autonomen Universität von Barcelona. Er ist Gründer der Journalistenkooperative Directa. Während seines Aufenthalts in Nordsyrien berichtete er für Directa und das Rojava Information Center, einem unabhängigen Informationsportal mit Sitz in Qamişlo, über den Syrienkonflikt. Bei dieser Arbeit wurde er auf die Erfahrungen der kurdischen Bevölkerung aufmerksam und drehte seinen ersten Dokumentarfilm. Zudem arbeitete er mit der Filmkommune Rojava.
Was war die Idee dieses Filmes?
Als wir in Kobanê waren, haben wir die Schönheit dieser Revolution gesehen. Nicht die Stadt selbst, da gibt es viele Ruinen. Aber Kobanê blüht auf und das wollten wir zeigen. Gleichzeitig wollten wir auch Menschen, die noch nie in Kurdistan waren, den Kontext einfach und verständlich erklären. Uns war es wichtig, nicht den Krieg oder die militärischen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, wie es oft der Fall ist. Vielmehr war uns wichtig, die sozialen Aspekte - wie die Gesellschaft lebt und wie sie mit den Schwierigkeiten umgeht - darzustellen. Besonders am Herzen lag uns die Jugend, die oftmals vergessen wird. Sie waren sehr jung, als der Krieg stattgefunden hat und sind in einer Umgebung aufgewachsen, die sehr schwierige Bedingungen bietet. Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Das ist es, was wir teilen wollten.
Hat das Projekt in Rojava bei euch Denkräume eröffnet, die auch für Katalonien interessant sein könnten?
Ja, auf jeden Fall. Unsere weiblichen Genossinnen waren sehr beeindruckt von der Autonomie der Frauenbewegung dort. So etwas gab es zuvor in Katalonien nicht. Auch das System der Doppelspitze fanden wir sehr bemerkenswert, das kann sehr hilfreich sein. Die Dezentralisierung von Entscheidungen, also die Macht nicht an einem Ort, in einem Rat oder bei einer Person konzentrieren, sondern als grundlegendes Prinzip der Demokratie den Bereich der Gleichstellung forcieren, macht Gesellschaften gesünder und stärker.
Wie ist die aktuelle Situation in Katalonien?
Die Solidaritätsbewegung mit Kurdistan ist dort sicher später entstanden als an anderen Orten. Im Grunde hat sie ihre Wurzeln im Kampf um Kobanê. Aber jetzt wächst diese Bewegung sehr stark.
Was die katalanische Frage angeht, muss man festhalten, dass die politischen Parteien stark zerstritten sind. Die bedeutendste unter ihnen verhandelt mit dem spanischen Staat. Da findet eine Art Dialog statt, allerdings vollkommen ohne Lösung. Der spanische Staat wird niemals irgendeine Form von Autonomie anerkennen. Es gibt immer noch Menschen im Gefängnis, weil sie Lieder über die katalanische Sache gesungen haben. Einer von ihnen ist Pablo Hasél [Rapper, Songwriter und politischer Aktivist. Seine Lieder, die nach Meinung der Strafverfolgungsbehörden unter anderem Terrororganisationen unterstützen, zogen mehrfach Strafverfolgungen durch die spanische Justiz nach sich. Seine Verhaftung im Februar 2021 führte zu Massenprotesten in mehreren spanischen Städten]. Carles Puigdemont ist immer noch im Exil in Belgien. Die Situation ist festgefahren. Zwar macht die Unabhängigkeitsbewegung ihre Schritte, aber die Schritte, die der spanische Staat setzt, um uns die Autonomie zu entreißen, sind sehr viel größer. Das ist der Grund, warum wir nicht wirklich etwas von diesem Dialog halten.
Ist die katalanische Sprache erlaubt?
Katalanisch ist erstmal erlaubt, aber es gibt da immer weitere Beschneidungen. Jeden Tag nimmt die spanische Sprache mehr Raum ein, in den Schulen zum Beispiel. Die meisten Menschen beherrschen das Katalanische, aber das Problem ist, dass die Pflege und Ausübung der Kultur und Sprache nicht gefördert werden. Katalanische Filme und Serien gibt es praktisch nicht und das führt eben dazu, dass die Jugend jenseits ihrer Muttersprache aufwächst. In den Schulen und gerade auch in Barcelona wird sehr viel Spanisch gesprochen, zu Hause dominiert Katalanisch, vor allem auf dem Land. Dort ist die Sprache mehr verwurzelt als etwa in Barcelona.