Es begann mit einem kleinen Detail, das den ganzen Plan durcheinandergebracht hatte: „Hätte unser Wegweiser Mahir an der Gabelung nicht gezögert, wäre all dies vielleicht gar nicht geschehen. Bei Nachtmärschen ist es nicht ungewöhnlich, dass der Erste in der Reihe an manchen Stellen zögert. Aber diesmal hatte dieses Zögern länger als sonst gedauert. In dem Moment konnte ich es nicht wissen, aber die Gabelung dieses schmalen Pfads sollte auch den Verlauf meines weiteren Lebens verändern. Dabei wäre alles anders gekommen, hätten wir nur die untere Abzweigung genommen. Aber wir hatten uns für den nach oben führenden Weg entschieden. Das sollte uns zum Verhängnis werden.“
Mit diesen Worten beginnt der Roman „Zeit der Brombeeren“ des Autoren Murat Türk, der vor knapp zehn Jahren wie ein Lauffeuer Herz um Herz in Kurdistan und darüber hinaus eroberte. In der autobiografisch gefärbten Erzählung schildert Türk das Leben des Protagonisten Şervan in den Reihen der kurdischen Guerilla. Dessen Odyssee beginnt mit einer Schussverletzung: Şervan und seine Einheit ziehen auf nächtlichem Marsch durch die Berge, als sie ein Camp türkischer Soldaten entdecken. Sie schleichen sich in die Zelte und entwenden die Gewehre. Dann aber nimmt die Gruppe eine falsche Abzweigung und gerät in einen Hinterhalt. Nach stundenlangen Kämpfen muss sie sich zurückziehen – und den schwer verwundeten Şervan unter einem Brombeerbusch zurücklassen.
Von nun an muss sich der junge Guerillakämpfer allein durchschlagen. 45 Tage lang ist er von seinen Weggefährtinnen und Freunden getrennt, durchstreift einsam die Berge. Hügel und Höhlen bieten ihm Schutz, die Bäche und Flüsse stillen seinen Durst, und die Brombeeren helfen ihm, sich der Verzweiflung zu widersetzen. Auf seinem Weg macht er immer wieder Erfahrungen mit der beeindruckenden Solidarität der Bevölkerung. In kleinen Dörfern begegnet er großen Menschen, die das Überleben der Guerilla erst möglich machen. Sie verstecken und versorgen den verwundeten Şervan, geben ihm Kleidung, Brot und Käse, überlassen ihm ein Pferd, besorgen eine Waffe – obwohl sie damit ihr Leben und die Existenz ihres Dorfes in Gefahr bringen.
Doch nicht jedem ist zu trauen: Der Staat hat längst das System der paramilitärischen Dorfschützer etabliert. Dörfer von Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich dem kurdischen Widerstand und seinen Freiwilligen verbunden fühlen, werden kurzerhand niedergebrannt. Trotzdem findet Şervan immer wieder Menschen, die ihm helfen, bis er seine Gruppe schließlich wiederfindet.
Abbild der Realität Kurdistans als Kolonie
Der Regisseur Haşim Aydemir, den Fans des kurdischen Kinos spätestens seit dem Film „14 Tîrmeh“ (14. Juli) über den Gefängniswiderstand von PKK-Kadern in der „Hölle von Amed“ 1982 kennen, hat sich mit der Verfilmung von „Zeit der Brombeeren“ mutig auf schwieriges Terrain gewagt, entsinnt man sich den grundsätzlichen Bedenken gegenüber filmischen Literaturadaptionen und die zahlenmäßig wenigen Erfahrungen in Kurdistan. „Es war uns wichtig, ein dem Anspruch gerechtes Abbild der Realität Kurdistans, in dem der Kolonialismus ein System alltäglicher Unterdrückung einrichtete, alle Lebensbereiche durchdrang und den Menschen ihre Identität nahm, zur Veranschaulichung darzustellen“, sagt Aydemir. Dies sei nicht einfach zu bewältigen gewesen. „Ich habe ‚Zeit der Brombeeren‘ 2013 gelesen und war wie alle anderen sehr beeindruckt. Mir kam sofort die Idee, einen Film zu machen und diese Realität Kurdistans in Verbindung mit der Geschichte von Şervan einzufangen.“ Aber Film und Fernsehen unterdrücken die Fantasie der Zuschauenden, behindern sie durch die Wahrnehmungslenkung in ihrer Eigenaktivität. Der Lesevorgang beim Buch hingegen ist ein kreativer Prozess, der zu eigenen Interpretationen führt, mehr Spielraum lässt und vor allem weniger Grenzen aufweist. Eine heikle Aufgabe also. Für das Drehbuch zur Romanverfilmung holte sich Haşim Aydemir deshalb Hilfe bei Erol Balcı, einer der Macher der ersten kurdischen Sit-Com Ax û Jiyan. „Die Vorbereitungsphase war eine intensive und harte Erfahrung. Besondere Schwierigkeiten bereitete uns die Wirklichkeit der Besatzung“, sagt Haşim Aydemir.
In Silêmanî gedreht, von Mexmûr-Flüchtlingen gespielt
Denn gedreht wurde „Zeit der Brombeeren“, oder wie der kurdische Name lautet Dema Dirîreşkan, im südkurdischen Silêmanî. Die politische Situation im nördlichen Teil Kurdistans ließ die dortige Umsetzung des Projekts nicht zu. „Anfangs hatten wir sehr starke Bedenken, was die räumlichen Eigenschaften betraf. Schließlich sind es die von der türkischen Armee niedergebrannten Dörfer, die den zentralen Ort dieser Geschichte bilden. Wir zerbrachen uns die Köpfe, weil wir dachten, keine passenden Drehorte zu finden. Doch unsere Sorgen waren vollkommen unbegründet. Denn die Herrschenden werden ihrer Rolle an jedem Ort dieser Welt gerecht.“
Auf der Suche nach geeigneten Locations stießen Haşim Aydemir und seine Filmcrew auf kurdische Dörfer, die seinerzeit auf Anordnung des irakischen Diktators Saddam Hussein in Schutt und Asche verwandelt worden waren. „Die Realität der Kurdinnen und Kurden ist überall gleich“, formuliert es der 1979 selbst in einem später niedergebrannten Dorf bei Licê geborene Filmemacher treffend. Bei den Darsteller:innen handelt es sich Flüchtlinge aus Camp Mexmûr. Das Lager ist vor über zwanzig Jahren von Menschen gegründet worden, die in den 1990er Jahren aufgrund der Politik der verbrannten Erde gezwungen waren, ihre Dörfer in der Botan-Region in Nordkurdistan zu verlassen.
Der offizielle Trailer
„Murat Türk hat diese dunkle Phase intensiv durchlebt. Er ist Zeitzeuge der Dorfüberfälle, Zerstörungen, den Machenschaften von JITEM, hat die Augen der Menschen gesehen, die das Leben trotz allem fest umschlungen hielten. Der Film entwirft damit auch ein Panorama der Lebensbedingungen dieser Zeit. Er erzählt den Widerstand eines Einzelnen gegen all diese Erfahrungen und den am Ende des Kampfes errungenen Sieg. Wir haben lediglich versucht, die Perspektive des Romans widerzuspiegeln.“
Kurdischer Film steckt noch in den Kinderschuhen
Haşim Aydemir spricht selbstkritisch und offen. Er sei Künstler eines Volkes, das auf der Suche nach Freiheit ist und dafür kämpft. Als Filmemacher verbinde ihn mit seinen Gleichgesinnten das gemeinsame Ideal und der innige Wunsch, „ein freies kurdisches Kino“ zu etablieren. „Der kurdische Film steckt noch in den Kinderschuhen. Wir streben an, analog zu unserem Paradigma des freien Menschen ein freies Kino zu schaffen. Unser Anspruch ist groß. Denn wir haben Geschichten, die wir seit dem Beginn unserer eigenen Geschichte niemandem erzählten, und wir haben Träume, die wir mit niemandem teilten. Deshalb ist Kino für uns so wertvoll.“
Die Premiere von Dema Dirîreşkan (englischer Titel: Blackberry Season) fand am Sonntag statt, auf der „Mostra de Valencía – Cinema del Mediterrani“ in Spanien. Bei dem Filmfestival werden seit 1980 im internationalen Wettbewerb Filme aus Mittelmeerländern gezeigt. In die deutschen Kinos kommt Dema Dirîreşkan voraussichtlich Anfang 2022.
Blackberry Season
Autor: Murat Türk
Regisseur: Haşim Aydemir
Drehbuch: Erol Balcı
Produzent: Serhat Hulaku (MED-Film)
Ko-Produzent: Diyar Hesso (Filmkommune Rojava)
Kamera: Semih Yıldız
Musik: Mehmûd Berazî
Schnitt: Erhan Örs
Künstlerische Leitung: Jhalal Saedpaneh, Sedat Barış
Darsteller:innen: Şemzîn Şîn, Mehmet Emin Yalçınkaya, Abdullah Tarhan, Leyla Çelik, Remziye Aktan, Serhat Hulaku.