„An diejenigen, die ihre Stimme verloren haben“

Der ehemalige Guerillakämpfer Murat Türk, Autor mehrerer Bücher aus dem Genre der Guerilla- und Gefängnisliteratur, beteiligt sich seit zwei Monaten am Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans. In einem Brief schildert er seine Beweggründe.

Murat Türk ist ein ehemaliger Guerillakämpfer. Vor 24 Jahren geriet er in Gefangenschaft und sitzt seitdem in türkischer Haft. Im Gefängnis wandte er sich der Literatur zu. In seinem autobiografischen Werk Zeit der Brombeeren (Böğürtlen Zamanı) schildert Murat Türk das Leben des Protagonisten Şervan, dessen kleine Guerillaeinheit auf nächtlichem Marsch durch die Berge zieht. Als Şervan und seine Genoss*innen ein Camp türkischer Soldaten entdecken, schleichen sie sich in die Zelte und entwenden die Gewehre. Dann aber nimmt die Gruppe eine falsche Abzweigung und gerät in einen Hinterhalt. Nach stundenlangen Kämpfen muss sie sich zurückziehen – und den schwer verletzten Şervan unter einem Brombeerbusch zurücklassen.

Heute sitzt Murat Türk im T-Typ-Gefängnis von Ödemiş (Provinz Izmir). Seit zwei Monaten ist er dort im Hungerstreik gegen die Isolationshaftbedingungen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. An der von der HDP-Abgeordneten Leyla Güven am 7. November initiierten Hungerstreikbewegung beteiligen sich aktuell mehr als 7.000 Menschen innerhalb und außerhalb der türkischen Gefängnisse. In Ländern wie Deutschland, in denen Demokratie andere Ausdrucksmöglichkeiten bietet, werden Hungerstreiks häufig skandalisiert. Der von tausenden Menschen getragene Massenprotest gegen die Isolation verdeutlicht allerdings, dass es in der Türkei keinen Raum mehr für eine freie politische Betätigung gibt. Insbesondere in den türkischen Gefängnissen muss der Hungerstreik als letzter Protestakt verstanden werden, wenn die Gefangenen keine andere Möglichkeit mehr sehen, sich Gehör zu verschaffen.

In einem in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika abgedruckten kritischen Brief hat sich Murat Türk zu den Hintergründen des Hungerstreiks und der Ignoranz gegenüber dieser Bewegung geäußert.

„Wo ist eure Stimme?

Unsere Worte richten sich an die Seelen, die sich in eine dunkle Höhle verwandelt haben.

Ist das Leben selbst nicht eine Sache der Bedeutung?

Künstler, Literaten, Intellektuelle, Akademiker, Schriftsteller, Demokraten, alle, die ein Gewissen tragen...

Unsere Worte richten sich an euch!

Warum ist euer Gewissen so entspannt?

Wo ist eure Stimme?

Ihr, die ihr in Räumen lebt, die mit revolutionären Opfern geöffnet wurden, die mit Möglichkeiten leben, die durch all die Opfer des Marsches für Freiheit geschaffen wurden, warum seid ihr so blind, taub, stumm?

Unsere Worte gelten nicht der Stille der auf Triebe gerichteten Gesinnung. Sie richten sich nicht an diejenigen, die nichts Besseres zu tun haben, als die Zeit mit ihren finster gewordenen Gewissen in Lust und Vergnügen zu verwandeln.

Unser Aufruf richtet sich an diejenigen, in deren Seele das Feuer der Freiheit brennt, die voller Lebensglück und bedeutender Ambitionen für den Menschen sind. 

Seit Leyla Güven ihren Hungerstreik gestartet hat, habt ihr euch mindestens 500 Mal an den Essenstisch gesetzt. Der Hungerstreik hat die kritische Phase schon längst überschritten. Ich schreibe diese Zeilen in Gegenwart von Serhat Güzel, Mehmet Kaplan und Uğur Çiçek. Diese drei Freunde von uns, deren Herzen voller Liebe für den Menschen sind, kämpfen seit ihrer Kindheit für Freiheit. Sie haben nichts für sich selbst getan. Sie haben nichts für sich selbst gefordert. Sie haben gar ihre Mahlzeiten für einen stärkeren Kampf zu sich genommen. Jetzt sind sie seit vier Monaten, seit ganzen 120 Tagen im Hungerstreik. Sie hungern, um uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Für eure Würde und eure Ruhe. Damit die Gesellschaft in Frieden und Geschwisterlichkeit leben kann.

Nicht nur Uğur, Serhat und Mehmet, die schönsten, selbstlosesten, humanistischsten, bescheidensten Kinder dieser Gesellschaft sind mit Liebe eurem Glück verbunden. Könnt Ihr das fühlen?

Ohne jegliche Bedenken, ohne mit dem Auge zu zwinkern, lösen sich ihre Körper jetzt auf.

Hört auf diesen Schrei, der die Gewissen durchbohrt!

Hört zu, erhebt eure Stimme, lasst das Echo groß werden! Freiheit soll wahr werden für uns alle!

Sind die Ohren der Herzen denn taub?

Wenn der Hungerstreik jetzt beendet werden sollte, würdet ihr nur die Tode aufgehalten haben. Aber weil ihr zu spät gekommen seid, werden ihr nicht aufhalten können, dass eine revolutionäre Generation ihr ganzes Leben lang mit Krankheit und Behinderung geplagt sein wird.

Es reicht nicht mehr aus, nur im Gedanken aufzustehen. Erstickt eure Stimme, eure Zukunft nicht.

Wie kann euer Gewissen so rein sein?

Ist der Sinn des Menschen in eurer Seele gestorben?

Wo ist eure Stimme?

Warum habt ihr eure Stimme verloren?

Hunderte Revolutionäre sind seit zwei Monaten im Hungerstreik. Nur durch tägliche Sonderversorgung schaffen sie es, wenn auch nur mit Not, auf den Beinen zu stehen. Wie viele Essenstische habt ihr in den letzten zwei Monaten gedeckt? Wie viele Bissen habt ihr zu euch genommen?

Keiner unserer Freunde hat den Hungerstreik begonnen, um sich dem Tod auszuliefern. Im Gegenteil; sie haben diese Aktion gestartet, um die absolute Nichtigkeit, die der Gesellschaft auferlegt wird, die stockfinstere, eiskalte Stille zu brechen, um die Seelen, die am Rand des Todes ums Überleben kämpfen, wiederzubeleben. Diese Gefangenen sind Menschen mit dem weitesten ideellen Universum. Ihre seelische Tiefe hat die größten Dimensionen. Sekunde für Sekunde schmelzen sie für Freiheit und Reinheit, damit die Menschen mit Würde und glücklich leben können, dahin.

Wo ist eure Stimme?

Wenn der Mensch sein Ziel der Freiheit und die ideellen Werte, an die er gebunden ist, verliert, verstummt er.

Zu kämpfen und seine Stimme denen zu verleihen, die Widerstand leisten, ist die wundervollste unter den Aktionen, die dem Menschen Schönheit verleihen.

Bei Widerstand handelt es sich um eine Haltung, die sogar den Gottesdienst übertrifft. Widerstand bedeutet, die Fackel der Freiheit in der Seele derer zu entzünden, für die die Höhle zum Grab wurde.

Auch wenn ihr jetzt schweigt, hat eure Stille und diese Phase schon jetzt eine enormen Widerstand leistende, revolutionäre Generation geschaffen. Diese Generation ist bereit dazu jeden Schmerz von euch, sogar den Dorn, der eure Fingerspitze sticht, wie eine Kugel im eigenen Herzen zu fühlen.

Das soll euch alle freuen!“


Murat Türk, geboren 1976 in Amed (Diyarbakır), verbrachte seine Kindheit und Jugend im Viertel Bağlar, einer Hochburg des kurdischen Widerstands. 1992 schloss er sich dem bewaffneten kurdischen Befreiungskampf an und ging in die Berge. 1995 wurde er verhaftet und von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Bruder Cemal Türk (Kampfname Xebat) hat sich nach seiner Gefangenschaft der Guerilla angeschlossen und ist 2000 in Qendîl gefallen. Sein erster Roman Zeit der Brombeeren – geschrieben im Hochsicherheitsgefängnis von Bolu - ist 2012 auf Türkisch und anschließend in den kurdischen Dialekten Kurmancî und Soranî und auf Deutsch erschienen. Seine auf Türkisch verfassten Kurzgeschichten und Artikel wurden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Drei Kurzgeschichten von ihm sind preisgekrönt. Sie sind Teil seines 2013 auf Türkisch erschienenen Buches Köprüdeki Düşman (Der Feind auf der Brücke). 2015 ist der zweite Teil der Trilogie Zeit der Brombeeren auf Türkisch erschienen. Murat Türk sitzt seine Haftstrafe in Izmir ab.