Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat in einer Botschaft an das 31. Internationale Kurdische Kulturfestival die Wichtigkeit von Kultur als Eckpfeiler der menschlichen Gesellschaft und als wichtiger Bestandteil menschlicher Identität betont. Kurdinnen und Kurden hätten das Bewusstsein um die Wichtigkeit ihrer kulturellen Traditionen zwar bis heute erhalten, sagte Bayik in seiner Botschaft. Doch gerade im Hinblick auf Methoden des „weißen Genozids“, die von der kapitalistischen Moderne und unterdrückenden Nationalstaaten gegen die kurdische Gesellschaft angewendet würden, müsste dieses Bewusstsein seinen Ausdruck in weit mehr Initiativen finden als bisher, um kurdische Kultur in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu schützen und zu fördern. Bayik schlägt die Gründung eines Konservatoriums für kurdische Kunst in Europa vor. Wir veröffentlichen die leicht gekürzte Botschaft in deutscher Übersetzung:
Kunst gilt der kapitalistischen Moderne als Sektor
Es ist eine anerkannte Tatsache, dass ein Leben ohne Kultur und Kunst ein verkrüppeltes, ungeordnetes, verdorrtes und falsches Leben ist. Es gibt kein Leben ohne Kultur und Kunst. Aus diesem Grund betreiben die Nationalstaaten, die Kräfte der kapitalistischen Moderne und alle souveränen Mächte Spezialkriegsmethoden, um die Menschheit zu pervertieren, sie aus ihren Traditionen herauszureißen und sie letztlich dem Völkermord zu unterwerfen. Das Ausmaß der genozidären Politik gegen Nationen und Gemeinschaften war in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß wie im Zeitalter der Nationalstaaten.
Die kapitalistische Moderne betrachtet Kultur und Kunst als einen Sektor. Sie will Menschen und Gesellschaften sowohl mit den Methoden der sogenannten Soft Power als auch mit den grausamen Werkzeugen des Krieges kontrollieren. Jeder Widerstand und Kampf gegen diese Politik und Angriffe ist wertvoll und zu würdigen. Die Kultur ist die Zukunft und die Realität der Völker. Jeder Mensch und jede Gesellschaft wächst, lebt und entwickelt sich aus ihren eigenen Wurzeln. So wie Gras verdorrt, wenn es entwurzelt wird, so gilt das auch für Menschen und Gesellschaften.
Die Kurdinnen und Kurden haben die Politik des kulturellen Völkermords, des Ethnozids, mehr als alle anderen Menschen erlebt. Grausame, genozidale Kräfte wenden auch heute jede erdenkliche Methode an, um die kurdische Gesellschaft zu zerstören. Sie vernichten ihre Sprache, Kultur und Kunst mit der Praxis des weißen Völkermords [Anmerkung: Der Begriff „weißer Genozid” wird häufig im Zusammenhang nicht-physischer Formen von Ethnozid und Völkermord wie Vertreibung, Assimilation, Vernichtung des kulturellen Erbes und der Geschichte usw. im Kontext mit Gräueltaten an Kurden, aber auch Armeniern, Aramäern, Assyrern und Eziden verwendet. Dies hat nichts mit der Verwendung des Begriffs durch rechtsradikale Verschwörungstheorien in westlichen Ländern zu tun, die Rassismus gegen weiße Menschen beinhalten]. Doch das kurdische Volk lässt sich nicht unterkriegen, steht aufrecht, kämpft um seine Freiheit und wird damit zur Quelle der moralischen Kraft und Hoffnung für alle Kräfte der Freiheit und der Demokratie. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Kurdinnen und Kurden seit jeher zu allem entschlossen sind, um ihre Kultur zu bewahren.
Eine große Rolle spielte dabei die Dengbêj-Tradition [Anmerkung: Dengbêj nennen sich kurdische Poet:innen – Barden – die mit mündlich tradierten Liedern verschiedenen Genres, ohne musikalische Begleitung, von Generation zu Generation die Schmerzen und das Leid ihrer Gesellschaft, Kriege und Konflikte zwischen den Völkern und Ethnien, Widrigkeiten der Liebe, Bräuche der Freude, märchenhafte Erzählungen, Klagelieder oder Gebetshymnen weitergeben. Vor allem für das kurdische Volk gilt die orale Literatur als Autobiografie der Gesellschaft, daher werden Dengbêj auch als Historiker:innen betrachtet]. Nicht umsonst hat Rêber Apo [Abdullah Öcalan] gesagt, dass das kurdische Volk schon immer die Musik nutzte, um Widerstand zu leisten.
Kurdinnen und Kurden erleben eine Renaissance
Das kurdische Volk hat jetzt große Vorteile. Unser 50-jähriger Kampf hat große Werte und Möglichkeiten geschaffen. Der epische Widerstand von Rêber Apo, der Guerilla in Zap, Metîna, Avaşîn und Xakurke, der ihrer Freiheit beraubten Menschen in den Gefängnissen erfordert die Schaffung großer Werke. Diese historischen Kämpfe müssen mit literarischen und künstlerischen Werken wie Gedichten, Liedern, Filmen, Bildern, Skulpturen und anderen Gattungen bekrönt werden. Gerade jene Menschen aus den Bereichen der Kultur und Kunst sind gefordert, diese Widerstände zu würdigen. Dank zehntausender Gefallener erleben die Kurdinnen und Kurden heute eine Renaissance, und auch der Nahe Osten erlebt eine Renaissance. Die größte Katastrophe für eine Gesellschaft ist es, ihre Kunst und Kultur nicht zu schützen. Rêber Apo hat sich die historischen Traditionen seines Volkes angeeignet und durch den Kampf der PKK eine Widerstandskultur geschaffen. Damit hat er den Kurdinnen und Kurden die Kraft verliehen, für ihre eigene Freiheit zu kämpfen und die gesamte Menschheit zu inspirieren.
Die Kunstschaffenden sind diejenigen, die Gesellschaften bewahren und ihre Sozialisierung gewährleisten. Von dieser Idee sollten alle Schöpferinnen und Schöpfer von Kunst ihre Kraft tanken. Die kapitalistische Moderne ist gegen den Erhalt der kollektiven Identität; sie fördert Populismus, Individualismus und Materialismus. Das nimmt die Kunst und ihre Schaffenden in den kommerziellen Zangengriff und lenkt sie von ihrer Bedeutung ab. Infolgedessen tötet diese Politik das Leben, die Gesellschaft, die Kunst und ihre Wirkenden.
Daher spielen Kultur und Kunst eine sehr wichtige Rolle bei der Bildung von Mentalität, Persönlichkeit und sozialem Leben. Die Rolle von Kultur und Kunst bei der Entwicklung der Kreativität der Gesellschaft und der Sicherung ihrer Zukunft ist sehr wichtig. Kunstschaffende sind Pioniere und Intellektuelle, welche die Gesellschaft leiten. Es ist ihre Aufgabe, die sozialen, moralischen und politischen Merkmale der Gesellschaft zu entwickeln und zu schützen.
Alles beginnt mit der Mentalität – auch Siege. Rêber Apo kämpfte hart für die Entwicklung der Mentalität, der Persönlichkeit und des Lebens der Kurdinnen und Kurden. Dafür konstruierte er eine Philosophie und Ideologie, Erfordernisse, die das Führen einer Gesellschaft mit sich bringen, Organisierung, Militanz und den Kampf für diese Mentalität. Dadurch hat das kurdische Volk ein erstrebenswertes und beispielhaftes Niveau erreicht. Die Pflicht und Verantwortung der Kunstschaffenden ist es, diese Realität im kurdischen Volk und in anderen Völkern der Welt, international, weiterzuentwickeln. Alle Schwierigkeiten, Hindernisse, Fehler und Unzulänglichkeiten werden in der Denkweise überwunden. Dazu hat Rêber Apo uns die Aufgabe der „Revolution des Gewissens und der Mentalität“ gestellt. Denn Mentalität und Gewissen entwickeln im Menschen Verständnis, Mut, Entschlossenheit und Willen.
Angriffe lassen sich nicht nur militärisch brechen
Die Angriffe der genozidären, verräterischen und kollaborativen kapitalistischen Moderne lassen sich nicht nur durch militärischen Kampf brechen. Um diese Angriffe zu zerschlagen, müssen wir den Kampf und den Krieg auf dem Gebiet der Ideologie führen. Wir können diese Angriffe zunichtemachen, indem wir im Bereich der Kultur und der Kunst kämpfen. Künstlerinnen und Künstler sind die Sprache, das Herz und das Gehirn der Gesellschaft. Sie sehen und verstehen die Probleme der Gesellschaft und führen sie dabei an, Lösungen zu finden. Kurdische Kunstschaffende sind Pioniere bei der Gestaltung der neuen Gesellschaft und der Aufklärung.
Der brutale Staat will die Kurdinnen und Kurden vernichten. Die Aufgabe der Kunstschaffenden ist es, den Kampf dagegen zu entwickeln. Ist ihr Widerstand nicht ausreichend, müssen sie die Auswirkungen der kapitalistischen Moderne und der Nationalstaaten tiefer begreifen und ihre patriotischen und revolutionären Gefühle stärken. Nur dann werden sie nicht nach diesen Kräften streben, nicht unter ihren Einfluss geraten und eine große Wut gegen sie hegen, die sie schließlich in Bewusstsein und Kampf kanalisieren.
Kunstschaffende legen sich niemals selbst Steine in den Weg. Sie sind auch nie zufrieden mit dem, was existiert, sondern immer auf der Suche, sich zu erneuern. Sie sind Anhänger der Wahrheit, sehen ihr Schaffen als ungenügend an und versuchen stets, mehr zu tun, um das Gute und das Schöne zu fördern. Das Gegenteil zu tun, ist für die Gesellschaft nicht von Nutzen. Die Kunstschaffenden halten das Ziel der Gesellschaft, die Freiheit, am Leben, heben die Moral, den Enthusiasmus, die Begeisterung und die Entschlossenheit zum Kampf an.
Die Herzen und Köpfe müssen in Kurdistan sein
Es ist ein epischer Kampf. Die Kräfte des Kampfes für Freiheit und Demokratie in der Welt schöpfen daraus Moral und wecken ihre Hoffnungen. Aber in erster Linie muss er mehr Leben in die kurdischen Individuen bringen. Doch in den letzten Jahren hat es einen Rückschritt gegeben. Das ist das Gegenteil von Fortschritt. Das muss sich ändern, und es müssen sehr hochwertige Werke entstehen. Der Kampf in Kurdistan muss auf dem Gebiet der Kunst in der Welt sehr erfolgreich vertreten sein.
Wir blicken auf fünf Jahrzehnte Widerstand zurück – und befinden wir uns in der kritischsten Phase. Es gibt große Chancen, aber auch Gefahren. Die Gefahr geht nicht nur von der kapitalistischen Moderne und den genozidalen Staaten aus. Sie kommt auch von der Linie des Verrats kurdischer Kollaborateure, die an der Seite der Mörder gegen das kurdische Volk und den Freiheitskampf aufmarschieren. Dagegen gibt es den Widerstand von Rêber Apo, der Guerilla und unseres Volkes. Dieser Widerstand richtet sich gegen die Unterstützung der NATO für ihre zweitgrößte Armee [Anm. gemeint ist die türkische Armee]. Dieser Prozess geht weiter.
Die Herzen und Köpfe unserer Menschen in Europa müssen in Kurdistan sein. Sie sollten alle ihre Mittel dafür mobilisieren. Unser Volk in Europa hat immer eine positive Rolle gespielt. Ich glaube, dass dies auch in Zukunft so sein wird, und ich beglückwünsche unser Volk in Europa für seine Beteiligung und den Kampf. Kulturschaffende und unser Volk in Europa müssen den Schutz und die Entwicklung der kurdischen Kultur und Sprache als eine wesentliche Aufgabe begreifen. Alle Kurdinnen und Kurden müssen in der Lage sein, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen und zu schreiben, und für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder eine freie kurdische Kultur als Ausgangsbasis zu nehmen.
Auf Kurdisch träumen
Rêber Apo sagte einmal: „Kultur ist der Körper, Sprache ist der Körper, Geographie ist der Körper, kümmere dich um deinen Körper.“ Dies ist eine lebenswichtige Perspektive, die stets für uns alle gültig sein sollte. Auch wenn man physisch nicht in der Heimat ist, ist man es mit dem Herzen und dem Geist. Die Verbundenheit unseres Volkes mit seinem Land, seiner Kultur, seiner Sprache und dem Kampf für die Freiheit der Heimat muss immer lebendig und stark sein. So sehr, dass auch Träume nicht in den Sprachen Europas, sondern auf Kurdisch geträumt werden, und von Kurdistan und seiner Kultur handeln. Kultur bedeutet Erde, Erde bedeutet Landwirtschaft, Landwirtschaft bedeutet Arbeit. Sie ist das Leben selbst. Zu diesem Zweck sollte so bald wie möglich ein Konservatorium für Kunst eröffnet werden. Kulturelles und künstlerisches Engagement muss international mit dem Kampf für Freiheit und Demokratie zusammengebracht werden. Es ist an der Zeit, entsprechende Maßnahmen in den Bereichen kurdische Musik, Kino, Theater, Literatur, Folklore, Malerei und Bildhauerei zu ergreifen.
Der Kampf um die physische Freiheit von Abdullah Öcalan
Wir müssen wissen, dass unser Hauptkampf die physische Freiheit von Rêber Apo ist. Wir müssen uns bewusst sein, dass das kurdische Volk seit 25 Jahren in Gefangenschaft gehalten wird. Wenn wir, das kurdische Volk als Ganzes und seine Freundinnen und Freunde, unsere Aufgabe und Verantwortung voll erfüllt hätten, wäre Rêber Apo schon längst frei – und das kurdische Volk ebenso.
Heute werden überall Aktionen für die physische Freiheit von Rêber Apo durchgeführt. Diese Aktionen werden von Tag zu Tag zunehmen. Die Rolle der Kultur und der Kunst im Kampf für die Befreiung Rêber Apos ist wichtig und grundlegend. Wir sind sicher, dass alle Schaffenden von Kunst und Kultur diese historische Bewegung anführen werden. In diesem Sinne beglückwünschen wir die 31. Ausgabe des Internationalen Kurdischen Kulturfestivals. Wir sind fest davon überzeugt, dass dieses Festival seine historische Rolle spielen wird. Zu diesem Anlass übermittle ich allen wertvollen Künstler:innen und Patriot:innen meine Grüße, meine Liebe und meinen Respekt und wünsche Ihnen allen Erfolg.