Türkei: Lange Tradition der Parteiverbote

Der HDP droht ein Verbot – nichts Ungewöhnliches in der Türkei. Die Urpartei, deren Nachfolge die HDP heute vertritt, ist die 1990 gegründete HEP. Diese und nahezu alle anderen Nachfolgeparteien wurden durch das Verfassungsgericht verboten, zuletzt 2009.

Der Demokratischen Partei der Völker (HDP) droht ein Verbot. Um das zu umgehen, tritt sie bei den kommenden Wahlen am 14. Mai unter dem Dach der Grünen Linkspartei (YSP) an. Parteiverbote sind in der Türkei nichts Ungewöhnliches und haben eher eine unrühmliche Tradition. Seit Beginn der 1960er Jahre wurden mehr als 20 Parteien vom türkischen Verfassungsgericht aufgelöst, weil es das Prinzip der Trennung von Staat und Religion oder die staatliche Einheit gefährdet sah. Betroffen waren vor allem islamistische und pro-kurdische Organisationen. Doch in den letzten dreizehn Jahren hat es kein Parteiverbotsverfahren mehr gegeben, galt dies doch als Relikt aus instabilen, undemokratischen Zeiten.

Die Urpartei: HEP

Die Urpartei, deren Nachfolge die HDP, die in der politischen Tradition der linken sozialistischen Kurdinnen und Kurden steht, heute vertritt, ist die 1990 gegründete Arbeitspartei des Volkes (HEP). 1991 gelang es der HEP, bei den Parlamentswahlen über eine gemeinsame Liste mit der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ (SHP) 22 kurdische Abgeordneten ins Parlament zu entsenden. Damit begann für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei auf legaler Ebene die Auseinandersetzung mit dem unterdrückerischen Staat. Die HEP war jedoch von Anfang an schweren Angriffen ausgesetzt. Kaum gegründet, setzte eine Welle von Terroranschlägen gegen die Partei und ihre Mitglieder in Nordkurdistan ein. Die Täter: Todesschwadronen des türkischen Staates.

17. Juli 1990: Neuntägiger „Marsch für ein würdevolles und freies Leben“ von HEP-Abgeordneten. Die Route führte von Istanbul nach Amed.


Ermordung von HEP-Politikern durch Todesschwadrone

Ihr prominentestes Opfer war Vedat Aydın, Mitbegründer der HEP und Vorsitzender des Ortsverbands in Amed (tr. Diyarbakir). Am 5. Juli 1991 wurde der Politiker und Menschenrechtler von drei in Zivil gekleideten Männern, die sich als Polizisten ausgaben, aus seiner Wohnung abgeführt. Zwei Tage später tauchte seine verstümmelte Leiche mit zahlreichen Schusswunden und zertrümmertem Kopf und Bein neben einer Landstraße in Xarpêt (Elazığ) auf. Zwei Wochen zuvor war mit Sıddık Tan in Êlih (Batman) bereits ein führendes HEP-Mitglied durch „unbekannte Täter“ ermordet worden. Weitere Hinrichtungen sollten folgen.

Die von Leyla Zana ausgelöste Eid-Krise

Unter den Abgeordneten, die in jenem Jahr für die HEP ins türkische Parlament gewählt wurden, waren Politgrößen wie Hatip Dicle, Orhan Doğan, Ahmet Türk, Zübeyir Aydar und Leyla Zana. Letztere trug beim Amtseid am 6. November 1991 ein Band in den traditionellen kurdischen Farben Rot, Gelb und Grün um den Kopf und löste damit die sogenannte Eid-Krise aus. Den Loyalitätseid legte Zana, so wie es das Gesetz verlangte, in türkischer Sprache ab, fügte dann aber in kurdischer Sprache hinzu: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass das kurdische und das türkische Volk zusammen in einem geschwisterlichen Rahmen leben können.“ Damit hatte sie gegen die Verfassung verstoßen, nach der in der Türkei im Parlament und bei offiziellen Anlässen nur Türkisch gesprochen werden darf. Die Folge war das Verbot der HEP.

Der Moment, an dem Leyla Zana die „Eid-Krise von 1991“ auslöste


Staatliche Morde in Êlih

Die noch vor dem Verbotsantrag als Ausweichmöglichkeit im Juni 1992 gegründete Partei für Freiheit und Gleichberechtigung (ÖZEP) war später mit der HEP fusioniert. Eine weitere Ersatzorganisation war die im Oktober 1992 gegründete Partei für Freiheit und Demokratie (ÖZDEP), die sich ebenfalls mit einem Parteiverbot konfrontiert sah. Im Juni 1994 verfügte das türkische Verfassungsgericht dann das Verbot der Demokratiepartei (DEP). Sie war im Mai 1993 gegründet worden, während noch das Verfahren gegen die HEP lief. Die Mandate der HEP-Abgeordneten blieben erhalten, weil sie frühzeitig zur DEP gewechselt waren. Am 4. September 1993 wurde einer von ihnen, Mehmet Sincar, im Alter von 39 Jahren in Êlih auf offener Straße erschossen. Der Lokalpolitiker Metin Özdemir kam ebenfalls ums Leben, ein weiterer Parlamentarier, Nizamettin Toğuç, wurde schwer verletzt. Sincar und Toğuç waren aus Ankara angereist, um den Mord an Habib Kılıç, dem Kreisvorsitzenden der DEP in Êlih, zu untersuchen. Dieser war erst wenige Tage zuvor am 2. September geschehen.

Der DEP-Abgeordnete Orhan Doğan bei seiner Verhaftung am 2. März 1994 vor dem Parlamentsgebäude in Ankara.


Verhaftung von DEP-Abgeordneten

Im März 1994 hob das türkische Parlament dann die Immunität von sechs DEP-Abgeordneten, die zuvor der HEP-Fraktion angehörten, auf. Unter ihnen waren auch Selim Sadak, Leyla Zana, Orhan Doğan und Hatip Dicle. Die Nationalversammlung begrüßte die Entscheidung mit Standing Ovations. Zana und ihre Fraktionskollegen wurden später wegen „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte sogar die Todesstrafe gefordert.

HADEP gewinnt bei Kommunalwahlen wichtige Großstädte

Im Mai 1994 wurde die Partei der Demokratie des Volkes (HADEP) gegründet. Bei den Kommunalwahlen 1999 gewann die HADEP 37 Gemeinden in der gesamten kurdischen Region, darunter sieben Großstädte. Doch im März 2003 verbot das türkische Verfassungsgericht auch die HADEP. Zur Begründung führte das Gericht „separatistische Bestrebungen“ und damit die vermeintliche Gefährdung des Staates an. Gegen insgesamt 46 führende Mitglieder verhängte es ein fünfjähriges Verbot der politischen Betätigung. Davon war auch der Vorsitzende Murat Bozlak betroffen. Außerdem wurde das Parteivermögen eingezogen. Im September 2003 wurde Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegt. Mehr als sieben Jahre dauerte es, bis die Richter in Straßburg entschieden, dass das Verbot der HADEP gegen die in Artikel 11 der Europäischen Konvention für Menschenrechte gewährte Organisationsfreiheit verstoßen habe.

Letzte verbotene Partei: DTP

Als Nachfolgerin der HADEP wurde im November 2005 die Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) gegründet. Ihre Kandidaten traten bei den Parlamentswahlen 2007 unabhängig an und sie errang 22 Sitze im türkischen Parlament. Bei den Kommunalwahlen 2009 gewann die DTP die Bürgermeisterämter in über 100 Städten und Gemeinden in der kurdischen Region. Das türkische Verfassungsgericht verbot die Partei am 11. Dezember 2009. Auch hiermit verstieß die Türkei gegen Grundrechte, urteilte der EGMR 2016.

Im Zuge der sogenannten KCK-Operationen im Dezember 2009 verhaftete DTP-Mitglieder.


Nach dem Verbot der DTP wurde die Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) gegründet. Ihre Ko-Vorsitzenden waren Selahattin Demirtaş und Gültan Kışanak, die seit 2016 in der Türkei in politischer Geiselhaft sitzen. Die BDP ist die einzige Organisation in der Tradition der HEP, die nicht verboten worden ist: Auf ihrem dritten Parteikongress im Juli 2014 änderte sie ihren Namen in Partei der demokratischen Regionen (DBP) um. Sie ist Schwesterpartei der HDP, der es als erster Partei, die sich für die Rechte der Kurdinnen und Kurden einsetzt, gelungen ist, bei den Parlamentswahlen 2015 die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden. Im selben Jahr beendete der türkische Staat einseitig die Friedensverhandlungen mit Abdullah Öcalan und leitete einen bis heute andauernden, totalen Vernichtungskrieg gegen die kurdische Bevölkerung ein. Bei der Parlamentswahl 2018 konnte die HDP dennoch knapp zwölf Prozent der Stimmen für sich gewinnen, aktuell ist sie mit 56 Sitzen als zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament vertreten.