Türkdoğan: „Wir wollen ein dezentrales System“

Der stellvertretende HEDEP-Vorsitzende Öztürk Türkdoğan beschreibt die Forderung seiner Partei nach dem Aufbau eines dezentralen Systems und fordert eine aktive Diskussion über den Prozess einer neuen Verfassungsgebung.

Zur Parlamentseröffnung hatte der türkische Staats- und Regierungschef Tayyip Erdoğan die schnellstmögliche Schaffung einer neuen Verfassung für die Türkei angekündigt. Das verspricht nichts Gutes, denn das AKP/MHP-Regime steht für die Entwicklung der Türkei hin zu einer offen faschistischen Diktatur. Doch das entmutigt die Oppositionspartei HEDEP nicht, eigene Akzente in der Debatte um eine neue Verfassung zu setzen. Der stellvertretende Ko-Vorsitzende der HEDEP und renommierte Menschenrechtsanwalt Öztürk Türkdoğan fordert eine neue Verfassung für die Türkei und Nordkurdistan auf der Grundlage von Pluralismus, Partizipation und Menschenwürde und sagt, dass das eine Chance für das Land darstelle. Die HEDEP hat bereits Entwürfe für eine solche Verfassung vorbereitet.

Militär wie AKP setzten ihre Verfassungen im Ausnahmezustand durch“

Türkdoğan ist entsprechend seiner Profession verantwortlich für den Ausschuss der HEDEP für Recht und Menschenrechte. Er unterstrich im ANF-Gespräch die Dringlichkeit einer von Grund auf neuen Verfassung, um die Probleme des Landes zu lösen: „Die derzeitige Verfassung wurde von den Putschgenerälen von 1980 verfasst und unter Kriegsrecht durchgesetzt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die Verfassungsänderung, mit der 2017 das Präsidialmodell eingeführt wurde, von der AKP ebenfalls unter Ausnahmezustandsbedingungen durchgesetzt wurde. Tatsächlich ist die Regierung mit der Verfassung, die sie selbst gemacht hat, nicht zufrieden, aber ich denke, die wesentliche Frage ist, um was für eine Verfassung es der Regierung hier geht.“

Der Verfassungsgebungsprozess ist eine Chance“

Türkdoğan erinnerte daran, dass die AKP nach ihrer Regierungsübernahme in den 2000er Jahren Intellektuelle mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragte und dass nach den Wahlen von 2011 die vier Parteien im Parlament eine Versöhnungskommission bildeten und etwa ein Jahr an einem Verfassungsentwurf arbeiteten:

„Als Ergebnis dieser Arbeit einigten sie sich auf etwa 60 Artikel über individuelle Rechte und Freiheiten, Grundrechte und Grundfreiheiten. Das Regierungssystem des Staates, d.h. ob es ein streng zentralisierter Staat oder ein dezentralisierter Staat werden soll, wurde ebenso diskutiert wie die Frage, ob muttersprachlicher Unterricht kostenlos sein sollte oder nicht. Die neue Verfassung war eigentlich eine Chance, denn 2013 hatte der ‚Dialogprozess‘ begonnen. In Ländern wie der Türkei, d.h. in Ländern, die ihre Konflikt- und Lösungsprozesse nicht abgeschlossen haben und diese auf der Strecke geblieben sind, stellen Verfassungsgebungsprozesse auch eine Chance dar. Mit anderen Worten: Während des Verfassungsgebungsprozesses hat man die Möglichkeit, die grundlegendsten Probleme zu lösen.

Die Probleme können nicht mit einem starren zentralistischen System gelöst werden“

Das elementarste Problem der Türkei ist die kurdische Frage. Die kurdische Frage kann nicht durch ein starres zentralistisches Staatssystem gelöst werden. Sie kann nur mit dezentralisierten Modellen gelöst werden, in denen die Befugnisse der lokalen Verwaltungen gestärkt werden - manche nennen es demokratische Autonomie, manche Autonomie, manche ermächtigte lokale Regierungen. Solche Strukturen waren im Verfassungsentwurf von 1921 vorgesehen. Daher sollte der Prozess der Verfassungsgebung in diesem Sinne angegangen werden. Der Präsident hat dies erklärt, aber er muss es weiterverfolgen. Wir erinnern ihn daran und fordern ihn auf, das zu tun. Eine neue Verfassung, eine zivile Verfassung ist schön und gut, aber was für eine Verfassung wollen wir schaffen? Wenn es sich hier um das Familienmodell dreht oder auf ein noch rigideres, zentralistischeres Staatssystem hinausläuft, dann werden wir uns natürlich fernhalten. Wenn es aber darum geht, dass wir uns erst einmal an einen Tisch setzen, gemeinsam über die Verfassung reden und entscheiden, was wir wollen, dann sind wir natürlich dabei.“

Wir werden auf jeden Fall über die kurdische Frage sprechen“

Türkdoğan fuhr fort: „Wir betrachten den Verfassungsgebungsprozess als einen Ort, an dem Lösungen grundlegender Fragen diskutiert werden. Wenn dieser Prozess beginnt, werden wir natürlich die kurdische Frage diskutieren. Wir werden die Forderungen der alevitischen Bevölkerung nach gleichen Staatsbürgerrechten diskutieren. Wir werden die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter im Gegensatz zum Konzept der Familie diskutieren. Wir werden über das Recht auf freie Meinungsäußerung sprechen. Wir werden über Pressefreiheit sprechen. Wir werden über Folter und Misshandlungen in den Gefängnissen sprechen. Wir werden über die Freiheit für politische Gefangene sprechen. Wir werden über wirtschaftlichen Wohlstand sprechen, über eine gerechte Einkommensverteilung. Wir werden über die Wiederherstellung unseres Rechts auf den Haushaltsentwurf sprechen, also das Recht auf die Erstellung eines Haushalts, mit dem das Geld des Volkes dem Volk zurückgegeben wird. Wir haben viele Themen, über die wir sprechen müssen. Wenn jemand es vermeidet, darüber zu sprechen, dann macht er keine Politik. Der Prozess der Verfassungsgebung ist genau der Ort, an dem Politik gemacht wird.

AKP hat Rechtsruck und konservativen Schub mit sich gebracht“

Die AKP hat einen Rechtsruck und einen Konservatismus in der Türkei durchgesetzt. Sie hat verschiedene islamistische Bezüge. Dies steht im Widerspruch zu der säkularen Linie, die die Türkei seit ihrer Gründung verfolgt. Bei dem Prozess der Rechtsentwicklung und Rückwärtswendung ist kein Ende abzusehen. Der Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zeigt, an welchem Punkt die AKP in diesem Prozess angelangt ist. Die Istanbul-Konvention ist ein Abkommen, das die Gleichstellung der Geschlechter regelt. Die Tatsache, dass ein Land aus dieser Konvention austritt, und die Diskussionen über, wenn ich mich nicht irre, Artikel 42 der Verfassung, in dem der Begriff der Familie geregelt wird, waren sehr negativ. Es könnte eines der politischen Ziele der AKP sein, das Kopftuch als Vorwand zu benutzen, um diesen Prozess der grenzenlosen Ausweitung des Konservatismus in eine Verfassung zu gießen. Ich bin mir nicht sicher, wie sich andere Parteien in diesem Prozess verhalten. Im Moment hat die AKP nicht die Macht, dies allein zu erreichen. Die anderen Parteien sollten daran erinnert werden, dass wenn sie bereit sind, grundlegende soziale Prinzipien aufzugeben, um ihr Bündnis mit der AKP aufrechtzuerhalten, wenn sie bereit sind, die säkulare Struktur dieses Landes aufzugeben, dass sich dann auch ihre politische Identität verändert. Alles in der Türkei hat sich auf unglaubliche Weise verändert.“

Der Verfassungsentwurf der HEDEP liegt bereit“

Türkdoğan erklärte, dass der Verfassungsentwurf der HEDEP fertig sei und viele Probleme mit einer neuen Verfassung gelöst werden könnten. Der 53-Jährige, der bei den Parlamentswahlen im vergangenen Mai nur knapp den Einzug in die türkische Nationalversammlung verfasste und seither Mitglied im Parteirat der HEDEP ist, betonte die demokratischen Grundsätze der Offenheit, des Pluralismus und der Partizipation: „Die Verfassung muss mit der Menschenwürde beginnen, mit dem Grundsatz der Gleichheit in Bezug auf Würde und Rechte. Wenn man von Pluralismus in der Demokratie spricht, wird die Verleugnung der Kurdinnen und Kurden oder der kurdischen Identität und die Verleugnung anderer Völker aufhören. Hierfür gibt es Formulierungen. Man muss nicht unbedingt alle Völker benennen, man muss einen Ansatz vorschlagen, der sie alle beinhaltet. Es muss eine Formulierung in der Verfassung stehen, die die Verleugnung von Weltanschauungen und Religionen beendet. Pluralismus hängt mit diesen Themen zusammen: sprachlicher Pluralismus, ethnischer Pluralismus, Glaubenspluralismus. Wenn wir an Minderheitenrechte denken, dann ist dies die eigentliche verfassungsrechtliche Garantie dieser Rechte. Partizipation ist sehr wichtig. Wenn man den Pluralismus akzeptiert, kann man nicht die von den Kurden gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in einem Ort mit einer großen kurdischen Bevölkerung entlassen. Das verstößt gegen das Prinzip der Partizipation. Die Treuhänderpolitik muss aufgegeben werden. Es kann keine offene Regierung geben, wenn das Land weiterhin mit geheimen Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates regiert wird. Im Moment macht die Regierung schon, was sie will. Wenn sie mit einer neuen Verfassung an die Öffentlichkeit tritt, dann müssen darin die in modernen Demokratien üblichen Verfassungsprinzipien verankert sein. Die Türkei muss einen Weg nach vorne einschlagen. Wir müssen so schnell wie möglich gesellschaftlichen Frieden sichern. Der Weg dahin führt über eine Auseinandersetzung mit unseren sozialen Problemen. Der Prozess der Verfassungsgebung ist auch ein Prozess der Aufarbeitung.“

Eine ökologische und soziale Verfassung ohne Diskriminierung

Türkdoğan betonte, dass in einer neuen Verfassung nach Auffassung der HEDEP alle Rechte und Freiheiten, die in internationalen Übereinkommen, denen die Türkei beigetreten ist, garantiert werden müssten. Außerdem sei es unabdingbar, die Rechte der gesellschaftlichen Gruppen und Gemeinschaften in die Verfassung aufzunehmen: „Einige Parteien in der Türkei stimmen uns in Bezug auf die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu. Wir erinnern daran, dass auch Kurden, Aleviten, Araber, Lasen, Tscherkessen ebenso wie die verschiedenen Glaubens- und Religionsgruppen Rechte haben, und wir wollen, dass diese kollektiven Rechte in der Verfassung garantiert werden. Wir erinnern daran, dass auch die Natur Rechte hat, und wir sagen, dass es verfassungsmäßige Garantien für den Schutz der Natur geben sollte. Wir wollen, dass die Sozialsysteme in der Verfassung verankert werden, damit die Menschen ein Einkommen haben, das ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Wir wollen eine dezentralisierte Staatsordnung. Die Türkei hat das mit der Verfassung von 1921 verwirklicht. Sie hat diese Prinzipien akzeptiert. Wir müssen mit der Politik der Verleugnung aufhören und uns zusammensetzen. Wir wollen, dass das Zusammenleben der Gemeinschaften, wie es in den Resolutionen der Vereinten Nationen verankert ist, zum Verfassungsprinzip wird. Kurz gesagt, wir wollen mit dieser Verfassung die kurdische Frage lösen, die Rechte der verschiedenen Gemeinschaften garantieren, die alevitischen Forderungen nach gleichen Staatsbürgerrechten sicherstellen und natürlich auch Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter erzielen.“