Während in Kurdistan und der Türkei ein Blutbad angerichtet wird, ertönt die Stimme des „nationalen Chors", der sich beharrlich dieser Realität verweigert und sich als Verteidiger der Menschenrechte ausgibt, immer lauter. Die Welt der typisch türkischen Denker, die Regierung und die mit der Regierung verbündeten „Intellektuellen und Journalisten" reden und schreiben schamlos und unmoralisch von ihrer Sorge vor einem Blutbad im Nahen Osten. Sie bezichtigen Europa und den Westen der Heuchelei und vergessen dabei die Farbe ihres eigenen Gesichts. Während sie von der Verteidigung Palästinas sprechen, bombardiert die türkische Luftwaffen die Zivilbevölkerung in Rojava.
Als der türkische Außenminister Hakan Fidan den Angriffsbefehl für die Kampfflugzeuge und Drohnen gab, sagte er offen, dass die Infrastruktur ins Visier genommen wird. Die Bevölkerung wurde direkt angegriffen. Mit den militärischen Angriffen auf Einrichtungen und lebensnotwendige Strukturen sollen wehrlose Menschen zur Kapitulation gezwungen werden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden als Heldentat deklariert und Recht und Unrecht auf den Kopf gestellt.
Und jetzt wollen diejenigen, die es nicht für nötig halten zu fragen, was ihre eigene Regierung in Rojava/Nordostsyrien und der Region tut, der Welt einen guten Rat zur Nahostfrage geben. Kann man so unethisch und rückgratlos sein? Die Kräfte in Nord- und Ostsyrien haben den gesamten Kampf gegen den IS geführt. Es ist offenbar vergeblich, Menschlichkeit, Logik und Recht bei denen zu suchen, die von der Ideologie des Türkentums vergiftet wurden.
Wenn die Freude im Hals stecken bleibt
Die faschistische Erdoğan-Regierung greift Rojava unter Vorwänden an, weil sie das autonome freie Leben der Kurdinnen und Kurden in Syrien nicht akzeptiert. Der türkische Staat hat keine einzige Kugel gegen den IS abgefeuert. Er hat den IS geschützt, ernährt und ausrüstet, ihm seine Grenzen geöffnet und darauf gewartet, dass er Kurd:innen und die ezidische Gemeinschaft massakriert. Während der IS Menschen und vor allem Frauen in Rojava und Şengal abschlachtete und versklavte, hielt Erdoğan Tag und Nacht Wache an der Grenze und erklärte überwältigt vor Freude, dass Kobanê fallen wird. Unter diesem Krampf leidet er noch immer. Er verschärft den Krieg, indem er jetzt selbst militärische Angriffe auf das Gebiet durchführt, das er mit dem IS nicht dauerhaft erobern konnte. Jede getötete Kurdin wird im Wahn eines „nationalen Sieges“ gefeiert.
Völkermord als Antriebsfeder des Türkentums
Um mehr Gründe und Vorwände für militärische Angriffe zu produzieren, wird das Türkentum mit islamischer Soße agitiert. Völkermord entspricht der ideologischen Mentalität des Türkentums und gilt als Antriebsfeder. Wer sich Türkin oder Türke nennt, kann keinen Schritt weitergehen, ohne sich mit der blutigen Vergangenheit der Türkei auseinanderzusetzen und den heutigen AKP/MHP-Faschismus in Frage zu stellen. Niemand hat vergessen, wie Sie ihren zivilen Anspruch vergessen und applaudiert haben, als Erdoğan Efrîn mit Bomben zerstörte.
Für Palästina ein Engel, für Kurdistan ein Monster
Die israelische Kommunistische Partei und demokratische Israelis geben mutige Erklärungen ab und machen Netanjahu für den Krieg verantwortlich. In der Türkei sind dieselben Leute, die zu Erdoğan und seiner Kriegs-Schura schweigen, Demokraten für die palästinensische Sache. Selbst erlesene Kommentatoren lassen Erdoğan außen vor und verweisen auf einige Funktionäre der AKP. Wenn es um Palästina geht, sind sie Demokraten, aber wenn es um die Kurden geht, zeigen sie eine typisch faschistische und rassistische Haltung. Gibt es eine noch krassere Heuchelei als diese?
Für den türkischen Staat ist die palästinensische Sache ein Instrument und eine diplomatische Karte, um Einfluss in der islamischen Welt zu gewinnen. Auch hier gilt: Da man mit den Organisationen des islamischen Dschihad den gleichen Mentalitätscode hat, handelt man für einige Interessen gemeinsam. Erdoğan, der sich auf den IS und die von ihm abgeleiteten Banden stützt, ist ein Engel in der palästinensischen Sache, aber ein Monster, wenn es um die kurdische Sache geht.
Linie des Kampfes gegen das türkische Regime
Da die Praktiken des AKP/MHP-Faschismus hinreichend bekannt sind, geht es vor allem darum, den Prozess nicht länger von der Seitenlinie aus zu beobachten und mit schwachen Reaktionen abzuwarten, sondern den gesellschaftlichen Kampf aufzunehmen, mit einer gemeinsamen Aktionslinie in die Offensive zu gehen und auf richtige Weise die Führung zu übernehmen.
Dazu ist es vor allem notwendig, das klassische Verständnis von Macht und Opposition zu ändern, den Kampf innerhalb des Systems aufzugeben und die Kampflinie mit der Perspektive einer demokratischen Revolution gegen die faschistische Diktatur des Regimes in der Türkei zu bestimmen. Das Bündnis- und Aktionspotential für eine gemeinsame gute Zukunft der Völker der Türkei und Kurdistans zu mobilisieren und zu erkennen, dass eine Politik und Praxis, die nur auf einem Parteienverständnis beruht, nichts anderes bedeutet, als der Macht und der faschistischen Staatsstruktur zu dienen. Die kollektive Kraft all derer zu mobilisieren, deren Hauptanliegen die Freiheit von Frauen, die gesellschaftliche Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und der Frieden ist, indem sie sich für die Grundrechte und -freiheiten zusammenschließen, ohne diese Fragen lokal anzugehen.
Kollektive politische Kampfdynamik
Jede Bewegung, jede politische Partei und jede Nichtregierungsorganisation, die den Kampf gegen den Faschismus wirklich versteht, sollte darauf verzichten, die Tagesordnung nach ihren eigenen Prioritäten zu bestimmen. Alle sollten sich auf die wirklichen Probleme konzentrieren und sich der Suche nach Lösungen und Projekten zuwenden.
Wenn alle, die gegen den Faschismus sind, kein ernsthaftes, gemeinsames Kampfbündnis gegen die Hauptprobleme in der Türkei und in Kurdistan entwickeln und diesen Kampf nicht aufnehmen, wird sich die Lebensdauer des AKP/MHP-Regimes verlängern. Die Hauptaufgabe der gesellschaftlich-politischen Kampfdynamik, aller organisierten Strukturen einschließlich der politischen Parteien, ist der kollektive Kampf gegen den AKP/MHP-Faschismus, der Kurdistan in ein Flammenmeer verwandelt, die Türkei in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zum gesellschaftlichen Zusammenbruch führt und die Kriegsfronten in der gesamten Region erhärtet.
Ohne Lösung der kurdischen Frage kann niemand aufatmen
Der Grund dafür, dass sich die antidemokratische Struktur der Republik Türkei, die mit der Mentalität der Unions- und Fortschrittspartei gegründet wurde, allmählich in ein islamisch-faschistisches Regime verwandelt, liegt einzig und allein in der Politik der Verleugnung und Vernichtung in der kurdischen Frage. Solange das System der Gefängnisinsel Imrali und die Strategie eines totalen Völkermords an den Kurdinnen und Kurden besteht, wird Demokratie ein Traum bleiben. Die faschistische Regierung stärkt den Nationalismus, den Chauvinismus und den politischen Islam, um ihre Militärpolitik durchzusetzen. Solange Abdullah Öcalan nicht frei ist und die kurdische Frage nicht demokratisch gelöst wird, kann sich die Türkei nicht demokratisieren und niemand kann aufatmen.
Die Gefahr steht nicht vor der Tür, sie ist bereits drinnen
Es ist schlichtweg inkonsequent und opportunistisch, wenn regierungskritische Gruppen, die sich nicht gegen Erdoğans Angriffe auf Rojava aussprechen oder etwas dagegen unternehmen, sich die palästinensische Sache zu eigen machen. Es handelt sich um eine ernste Situation, die nicht mit einer Rede im Parlament oder einer schriftlichen Erklärung im Namen der vertretenen Struktur abgetan werden kann. Sollten angesichts der Bombardierung der Bevölkerung von Rojava und der schrecklichen Entwicklungen im Nahen Osten nicht die wirklich demokratischen Kräfte darüber diskutieren, was gemeinsam getan werden kann? Die Erwartung der Gesellschaft ist es, sich nicht mit parlamentarischer Politik zu trösten, sondern sich gemeinsam mit den Menschen am Kampf zu beteiligen. Nicht nur die Zukunft, sondern auch das Leben von Frauen und unserem Volk ist ernsthaft in Gefahr. Die Bedrohung ist zu groß, um sie den internen Gremien und Versammlungen einer einzigen politischen Struktur zu überlassen, und außerdem steht die Gefahr nicht vor der Tür, sondern bereits im Inneren.
Erforderlich sind echte Maßnahmen
Wer seine Stimme nicht gegen die Unrechtmäßigkeit des Isolationssystems auf Imrali erhebt, in dem schwerste Rechts- und Menschenrechtsverletzungen begangen werden, scheitert mit der Forderung nach den Rechten für Can Atalay, wenn sie auf die Waagschale der gesellschaftlichen Moral und der Politik gelegt wird. Wie man sieht, ist der von der TIP für die Freiheit von Can Atalay initiierte Marsch marginalisiert geblieben. Hunderte Menschen wie Can Atalay befinden sich im Gefängnis. Es ist notwendig, über eine singuläre, lokale Politik hinauszugehen und sich einer demokratischen und revolutionären gesellschaftlichen Bewegung zuzuwenden, die einen kollektiven Kampf entwickelt. Obwohl die Aktion an sich sinnvoll und wertvoll war, ist klar, dass solche Aktionen im AKP-Staat, in dem der Faschismus institutionalisiert ist und der von seinen Kadern, Medienorganisationen und der Justiz beherrscht wird, kein Gewicht haben, das darüber hinausgeht, auf das Thema aufmerksam zu machen.
Weder Ausgrenzung noch Vereinnahmung
Wenn das Ziel nicht darin besteht, sich auf der politischen Agenda zu halten, muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren und praktisch werden. Die Freilassung des demokratisch gewählten Abgeordneten Can Atalay ist unser aller Problem. Figen Yüksekdağ, Gülten Kışanak, Leyla Güven, Sebahat Tuncel, Selahettin Demirtaş, Selçuk Mızraklı sind unser aller Problem. Unterdrückte können weder ausgegrenzt noch vereinnahmt werden. Sie vereinigen die Gesellschaft in der Einfachheit und Nacktheit der Wahrheit. Es ist notwendig, das propagandistische Verständnis von Aktion zu überwinden und sich der wirklichen Aktion zuzuwenden. Das ist es, was von revolutionären, linken, sozialistischen, werktätigen, patriotischen und demokratischen Gruppen erwartet wird.
Rolle des Frauenkampfes bei der Beendigung des Krieges
Es sind die Frauenbewegungen, die diesen Prozess anführen werden. Ist es nicht dringend notwendig, dass die Frauenbewegungen und andere Organisationen eine Konferenz mit möglichst breiter Beteiligung über die Rolle des Frauenkampfes bei der Beendigung des Krieges und der Sicherung der Freiheiten organisieren?
Die Tatsache, dass Frauen das Hauptziel des Krieges und das Objekt sexueller Übergriffe und Ausbeutung sind, wird von allen Frauenbewegungen offen verurteilt. Es ist höchste Zeit, unser Programm zur Verwandlung des Lebens in ein Paradies umzusetzen, indem wir die Stimme der demokratischen Nation gegen den Nationalstaat und den männlichen Faschismus erheben.
Massaker an Frauen und Völkern, egal woher sie kommen, können nicht legitimiert werden. Es ist an der Zeit, mit dem Geist und dem Kampfprogramm von Frauen wirksam in den Prozess einzugreifen. Die wichtigste Lösungsperspektive besteht darin, das von Abdullah Öcalan vorgelegte Projekt für einen demokratischen Nahen Osten lautstark zu vertreten.
Neue Horizonte öffnen
Wir brauchen eine führende Kraft, die die Initiative ergreift und sich für die Frauen, die Völker und die Jugend einsetzt. Auf diese Weise werden wir unser eigenes Schicksal bestimmen und dieses Mal nicht zulassen, dass die Herrscher und Kolonialherren die Geschichte schreiben. Mit dem sozialen Kampf der Frauen unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen werden die Völker siegen. Die Geschichte gibt Frauen die Rolle und Aufgabe, in den Prozess einzugreifen und den Kampf der Menschheit gegen die patriarchalischen Mächte anzukurbeln, indem sie die enge Denkweise und die politischen Grenzen der oppositionellen Realität der Türkei überwinden, ihre reichhaltigen Erfahrungen und neue Horizonte offenlegen und sich mit den Jugendbewegungen vereinen. Das neue gesellschaftliche Leben wird durch die Arbeit der Frauen gestaltet, durch die Mentalität der Frauen befreit und durch die Aktion der Frauen gerettet. Die Hoffnung sind die Frauen selbst.
Unsere Autorin Ronahî Serhat ist Koordinationsmitglied der „Partei der freien Frau in Kurdistan“ (ku.: Partiya Azadiya Jin a Kurdistan, PAJK). Der Artikel wurde in der deutschen Übersetzung leicht gekürzt und zum besseren Verständnis bearbeitet.