Die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) fordert die sofortige Freilassung ihres Abgeordneten Can Atalay. Die fortgesetzte Inhaftierung des Parlamentariers sei rechtswidrig und eine Respektlosigkeit gegenüber dem Willen des Volkes, hieß es auf mehr als achtzig zeitgleich in über dreißig Provinzen des Landes am Dienstagabend durchgeführten Aktionen. „Wir verlangen das Ende der Missachtung der Gesetze und erwarten die umgehende Beseitigung aller Hürden, die Can Atalay daran hindern, als gewählter Abgeordneter an der Gesetzgebung mitzuwirken und sein durch die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention geschütztes Recht auf Wählbarkeit auszuüben“, wurde in einer Erklärung gefordert, die bei Kundgebungen unter anderem in Istanbul, Izmir, Çanakkale, Mêrdîn und Amed verlesen wurde.
Can Atalay wurde vergangenes Jahr im wiederaufgerollten Gezi-Verfahren zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Justiz beschuldigt ihn und sechs weitere Personen, dem im selben Prozess wegen eines versuchten Sturzes der Regierung zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilten Kulturförderer Osman Kavala geholfen zu haben. Das Urteil in dem international als politisch motiviert kritisierten Verfahren ist noch nicht rechtskräftig.
Aktion am Bahnhof Haydarpaşa im Istanbuler Bezirk Kadıköy
TIP: Justiz fürchtet sich vor dem „Palastregime“
Bei der Parlamentswahl am 14. Mai wurde Atalay für die TIP aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri heraus in die Nationalversammlung gewählt. Er hatte im Wahlkreis Hatay kandidiert, einer Provinz im Südosten des Landes, die bei den verheerenden Erdbeben im Februar größtenteils zerstört wurde. Seine Anwälte beantragten daraufhin beim Kassationshof in Ankara die Freilassung des 47-Jährigen, außerdem erhielten sie vom Parlament stellvertretend seine Ernennungsurkunde. Doch die zuständige Kammer des obersten Berufungsgerichts der Türkei hat sich auch mehr als drei Wochen nach der Einreichung noch immer nicht mit dem Antrag auf Haftentlassung befasst. Die TIP wirft der Justiz deshalb vor, die Freilassung Atalays aus Angst vor dem „Palastregime“ nicht umzusetzen. „Die Richter haben sich an die Verfassung zu halten und im Sinne des Grundgesetzes Recht zu sprechen. Nichts anderes wird von ihnen erwartet“, betont die Partei.
Anwalt für die politischen Fälle
Can Atalay ist Menschenrechtsanwalt und beschäftigte sich bis zu seiner Verhaftung vorwiegend mit politisch brisanten Justizfällen. Dass er im Gezi-Verfahren verurteilt wurde, kam wenig überraschend. Atalay vertrat die „Taksim Solidarität“, die als Bündnis aus Organisationen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Oppositionsgruppen eine Schlüsselfunktion bei der Koordinierung der Gezi-Proteste im Sommer 2013 hatte, engagierte sich im Fall des 14-jährigen Berkin Elvan, der bei den Protesten von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb, vertrat Hinterbliebene der Opfer der Grubenunglücke von Soma und Ermenek, verteidigte Menschen, die bei Bauprojekten in Istanbul ihrer Häuser beraubt wurden, und übernahm den Fall um einen Brand in einem von einer islamistischen Sekte betriebenen Schülerinnenwohnheim in Adana, der elf Mädchen das Leben kostete.