Mitten im Herzen Istanbuls liegt das kubanische Viertel, benannt nach der „ewigen Revolution”, zwischen den Bezirken Merter und Tozkoparan. Verwaltungsrechtlich zu Tozkoparan gehörend, ist das kubanische Viertel das am dichtesten mit den „über Nacht und ohne behördliche Genehmigung gebauten” Häusern, den sogenannten Gecekondu, besiedelt. Gecekondus sind einfache ein- und zweistöckige Häuser, meistens mit einem Garten.
Statt seiner engen Gassen und der warmen Herzlichkeit der Menschen dort ist das Viertel für die türkischen Mainstream-Medien ausschließlich im Zusammenhang mit Gewalt erwähnenswert, da es in der Vergangenheit zu Ausschreitungen mit der Polizei kam, die zur Zwangsräumung mit Wasserwerfern und Tränengas angerückt war. Zu einem großen Teil von Kurdinnen und Kurden aus Sêrt (Siirt) und Bedlîs (Bitlis) bewohnt, verkörpert das kubanische Viertel gemeinsam mit seinen arabischen und türkischen Anwohner*innen eine kosmopolitische Nachbarschaftsstruktur, die im Schatten von Luxus-Hochhäusern zum Schauplatz der aggressiven Stadterneuerungspolitik der AKP-Regierung geworden ist. Doch die Menschen im Viertel sind entschlossen, sich der Gentrifizierung zu widersetzen.
Kein „Baufrieden“ für Einkommensschwache
1984 erließ der damalige Ministerpräsident Turgut Özal eine Bau-Amnestie. Illegal errichtete oder veränderte Gebäude konnten angemeldet und gegen die Nachzahlung von Steuern und Abgaben legalisiert werden. Einige der Gecekondu-Bauer, die es sich leisten konnten, erhielten daraufhin eine Besitzurkunde. Die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan hat sich jedoch dem großflächigen Abriss dieser Bauten verschrieben. Laut einem im Jahr 2005 verabschiedeten „Stadterneuerungsgesetz“ dürfen Stadtverwaltungen Gebäude auch gegen den Willen ihrer Besitzer*innen enteignen und abreißen. Mehr als fünfzig solcher „Stadterneuerungsgebiete” wurden seitdem in Istanbul ausgerufen, gemäß Schätzungen sind bis zu einer Million Gebäude in der Stadt betroffen. Die Verlierer dieser Radikalsanierungen sind die einkommensschwachen Familien, die aus ihren gentrifizierten Vierteln in eine Betonwüste am Stadtrand gedrängt werden. Ein im letzen Jahr im Zuge des Wahlkampfs erlassener „Baufrieden“, mit dem sich die AKP Milliarden in die Staatskassen spülte, kam wie erwartet nur der Immobilienbranche zugute. Hotels beispielsweise, die trotz fehlender Baugenehmigung mitten in denkmalgeschützen historischen Vierteln gebaut wurden, erhielten nachträglich eine staatliche Autorisation.
Aufklärungsarbeit gegen Verstädterung
Dass sich das kubanische Viertel für den Widerstand und gegen den profitorientierten Umbau entschied, hat es maßgeblich einer Gruppe junger Menschen zu verdanken. Jeden Sonntag kommen sie ins Viertel, stellen auf dem Hauptplatz eine Leinwand auf und verwandeln Istanbuls Kuba für seine Anwohner*innen - insbesondere die Kinder - in ein Open-Air-Kino. Unter der Woche werden einzigartige Pantomime-Stücke und Straßentheater aufgeführt oder Spielzeug und Schreibwaren verteilt. Mit ihren Aktionen verfolgt die Gruppe hauptsächlich ein Ziel: Aufklärungsarbeit gegen die Verstädterung leisten.
Angefangen mit „Charlie und die Schokoladenfabrik“
Wir haben mit der Gruppe gesprochen, die seit vier Jahren für den Erhalt des kubanischen Viertels kämpft. Zu ihr gehört unter anderem Melek Bengü Şahin, eine junge Psychologin. Sie sagt, dass ein emotionaler Reflex den Anstoß für die Filmvorführungen im kubanischen Viertel gab: „Nach dem IS-Anschlag auf die Wahlkundgebung der HDP im Juni 2015 in Amed herrschte hier eine sehr getrübte Stimmung. Die Kinder bekamen die Gespräche darüber mit. Wir wollten nicht, dass in ihrem Beisein über das Geschehene gesprochen wird und sie diese Erfahrung machen müssen. Also entschieden wir uns, einen Film zu zeigen, um ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken.“
Als erster Film wurde „Charlie und die Schokoladenfabrik“ gezeigt. Es seien mehr Kinder gekommen, als erwartet, erinnert sich Şahin. „Danach haben wir erstmal Schokolade verteilt.“
Gemeinsamkeiten mit Kubaner*innen
In erster Linie ging es der Gruppe aber darum, dass sich im Viertel ein gemeinsamer Nenner gegen die Gentrifizierung herauskristallisieren konnte, erklärt Şahin. „Hier im kubanischen Viertel gibt es viele Gemeinsamkeiten und übereinstimmende Interessen. Sollte es hier zu einer ‚Erneuerung‘ kommen, wollen wir, dass dies unter Berücksichtigung der Rechte aller hier lebenden Menschen geschieht. Dies erfordert Solidarität. Um das zu erreichen, ist die Organisierung von Aktivitäten, in die die gesamte Nachbarschaft eingebunden werden, ganz besonders wichtig.“
Fast alle Aktivitäten drehen sich um das Thema Gentrifizierung. Besonders die Frauen und Kinder des Viertels liegen der Gruppe am Herzen. Şahin berichtet von pädagogischen Projekten zur Entwicklungsförderung, damit die Kinder durch Abwägen und Erkennen von Handlungsabläufen sowie Ergebnissen Selbstsicherheit und Selbsteinschätzung erlangen. „Uns ist es wichtig, dass jedes Kind seine individuelle Ausdrucksmöglichkeit findet, um Probleme anzusprechen. Auf dem Hauptplatz haben wir hierfür ein Podium aufgestellt. Dort versammeln sich die Kinder und tauschen sich über ihr Viertel aus.“
Fotos gegen das Vergessen
Tayfun Kesik fotografiert die Veranstaltungen im kubanischen Viertel. Damit später die Begegnung mit den Bildern des Erlebten das kollektive Gedächtnis prägen, wie er sagt. Außerdem bastelt er aus den Fotografien Lesezeichen und gibt sie gegen eine Spende ab. Mit dem Erlös sollen im Winter geeignete Räumlichkeiten angemietet werden. Denn nur bis zum Herbst spielt sich noch alles auf der Straße ab.
Auf die Frage, was er vom sogenannten „Stadtumbau” hält, antwortet Kesik: „Diesen Ort wird es wahrscheinlich schon in naher Zukunft nicht mehr geben. Das, was wir Transformation nennen, betrifft aber nicht nur das Gecekondu hier, sondern zielt auch auf die nachbarschaftlichen Beziehungen ab. Es geht um den gesamten Bezirk Tozkoparan. Die Leute, die sich im kubanischen Viertel niederließen, wurden größtenteils aus Vierteln in Karagümrük, aber auch aus anderen Stadtteilen Istanbuls vertrieben. Jetzt sollen sie wieder verdrängt werden, damit hier Einkaufszentren, Wolkenkratzer und eingezäunte luxuriöse Wohnanlagen entstehen, die es um uns herum ohnehin schon zu genüge gibt.“
Kinder sind das Leben auf der Straße gewöhnt
Sollte es zur Vertreibung der Anwohner*innen kommen, wäre nicht nur das Viertel ‚zerschlagen‘: „Die Menschen werden in den materiellen und ideellen Ruin getrieben. Das wird schwerwiegende Folgen für ihre Beziehungen haben. Anfangs gestaltete es sich als schwierig, diese Thematik den Leuten zu vermitteln. Sie dachten sich nur, ihr Haus gewinne an Wert. Aber wenn sie vertrieben werden, bleibt ihnen gar kein Dach mehr über dem Kopf.
Auch wenn es nur ein Mindestlohn ist, kommen sie im Moment noch irgendwie über die Runden. Aber selbst wenn ihnen im Zuge der Gentrifizierung eine Eigentumswohnung zur Verfügung gestellt werden sollte, wird es ihnen nicht möglich sein, ihr gewohntes Leben fortzuführen. Ökonomisch wird es schwierig, da hohe Nebenkosten und andere Ausgaben auf sie zukommen werden. Außerdem sind die Kinder daran gewöhnt, auf der Straße zu spielen. An das Leben in einer umzäunten Wohnanlage werden sie sich nicht anpassen können“, meint Kesik.
‚Ich erfülle den Traum meines Sohnes‘
Nesibe İlbaş ist im kubanischen Viertel geboren und aufgewachsen und hilft bei der Umsetzung der Aktivitäten. Sie tue dies, weil es der Traum ihres aus politischen Gründen inhaftierten Sohnes sei, erklärt sie. „Es bereitet mit Freude, weil wir nicht nur die Kinder, sondern alle Menschen im Viertel glücklich machen. Es ist ja auch der Wunsch meines Sohnes. Wenn ich aber an die Zerstörung dieser Nachbarschaft denke, bricht meine Welt zusammen.“
Dem schließt sich der ehemalige Bewohner Erhan Turan an. Zwar sei er vor einiger Zeit weggezogen, das kubanische Viertel liege im jedoch weiterhin am Herzen, deshalb sei er Teil der Gruppe. „Ich lebe mittlerweile in einem Appartement. So etwas wie nachbarschaftliche Beziehungen gibt es dort so gut wie gar nicht. Die meisten Bewohner des Hauses kennen sich noch nicht mal. Wenn ich aber hierherkomme, fühle ich mich wie zu Hause. Dieses Gefühl habe ich in meinen eigenen vier Wänden nicht.“