Vor sieben Wochen wurde Zeynep Yıldırım bei einer nächtlichen Razzia von Spezialeinheiten der Istanbuler Polizei festgenommen und anschließend verhaftet. Die 60-Jährige ist Vorsitzende des alevitischen Kulturvereins PSAKD (Pir Sultan Abdal Kültür Derneği) im selbstorganisierten linken Kiez Küçük Armutlu im Stadtteil Sarıyer. Bei dem Verein handelt es sich um ein soziales Zentrum mit öffentlichen Versammlungsräumen, Schulklassen und einem alevitischen Gebetshaus (Cemevi), das am 19. Juli während dem Gottesdienst von maskierten und mit Maschinengewehren ausgerüsteten Antiterroreinheiten überfallen wurde. Die Polizisten hatten sich über alle drei Eingänge gewaltsam Zutritt in das Cemevi verschafft und die anwesenden Personen unter Anwendung von Folter festgenommen. Anschließend verwüsteten Sondereinsatzkräfte die Räumlichkeiten, beschmierten die Wände mit rassistischen Parolen und urinierten in den Korridoren des Gebetshauses. Begründet wurde die „Razzia“ wegen „akuter Explosionsgefahr“. Angeblich habe sich im Verein ein Selbstmordattentäter aufgehalten. Fündig wurde die Polizei nicht.
Schwerbehinderter Ehemann ebenfalls im Gefängnis
Die Razzia, bei der Zeynep Yıldırım festgenommen wurde, führten Antiterroreinheiten am 24. Juli durch. Drei Tage später folgte die Anordnung zur Untersuchungshaft. Zeynep Yıldırım hatte nach dem polizeilichen Überfall im Gebetshaus eine Presseerklärung abgegeben und detailliert geschildert, was vorgefallen war. Für die türkische Justiz Grund genug, sie wegen Terrorismusvorwürfen wegzusperren. Die 60-Jährige lebte seit der Verhaftung ihres Ehemannes Haydar Yıldırım vor einem Jahr mit ihrer 80-jährigen Mutter Kezban Bektaş. Der Schwerbehinderte Ehemann Yıldırıms hatte im Kiez Spenden für die Fertigstellung des Gebetshauses gesammelt, was ihm zum Verhängnis wurde. Vergangenen Mai wurde bekannt, dass der zu 80 Prozent behinderte Haydar Yıldırım seit seiner Verhaftung in einer Einzelzelle festgehalten wird. Der Zugang zu wichtigen Medikamenten wird ihm verwehrt, außerdem wurde er wegen fadenscheinigen Begründungen mit einem dreijährigen Kontaktverbot belegt.
„Ich bin stolz auf meine Tochter“
Seit 48 Tagen protestiert Kezban Bektaş mit einem Akt des zivilen Ungehorsams gegen die Verhaftung ihrer Tochter. Wind und Wetter zum Trotz hält die 80-Jährige an ihrem täglichen Sitzstreik vor dem PSAKD fest und hat angekündigt, solange weiterzumachen, bis Zeynep Yıldırım wieder in Freiheit ist.
„Nachts um zwei Uhr kam die Polizei und nahm meine Tochter mit. Was wirft man ihr vor? Alevitin und Vorsitzende des PSAKD zu sein. Hat sie gestohlen? Nein. Hat sie etwas unterschlagen? Nein. Wenn sie sich etwas hätte zuschulden kommen lassen, wäre ich nicht hier. Sie ist im Gefängnis, weil sie Alevitin ist. Ich bin stolz auf meine Tochter“, sagte Bektaş.
„Seit Kerbela werden die Aleviten unterdrückt“
Nicht erst seit gestern werde die alevitische Bevölkerung unterdrückt, sondern seit der Schlacht von Kerbela im Jahr 680, als der Prophetenenkel Hussein getötet wurde, so die 80-Jährige. „Unser Weg ist der Weg der zwölf Propheten und das Cemevi ist der Ort, an dem wir unsere Andachten halten. Es ist der Ort, an dem wir unsere Toten waschen und sie mit unseren Segensgebeten verabschieden. Das Motto des Staates lautet aber stets: ‚Entweder verhaltet ihr euch so, wie ich es will oder ihr verschwindet‘, daher die Repression. Seit 30 Jahren leben wir in Küçük Armutlu, doch gab es keinen einzigen Tag ohne Unterdrückung oder Gewalt. Nur während dem Wahlkampf haben wir keine Probleme. Sobald die Wahlen aber vorbei sind, geht es wieder von vorne los“.
‚Unser Viertel soll in Ruhe gelassen werden‘
Im selbstorganisierten Kiez Küçük Armutlu, einem Gecekondu-Viertel (türkisch für „über Nacht aufgestellt“), das Anfang der 1980er Jahre mehrheitlich von alevitischen Revolutionär*innen und Arbeiter*innen gegründet wurde, wird in den selbstgebauten Häusern und Gebäuden der Gegenentwurf der staatlich gelenkten Gentrifizierung umgesetzt. Die AKP-Regierung hat viele Viertel in Istanbul zu Arealen der „urbanen Transformation“ erklärt, dazu zählt auch Küçük Armutlu. Das Viertel liegt direkt an der zweiten Bosporusbrücke, Meerblick inklusive. Somit liegt es als teures Spekulationsland im Zentrum des Interesses profitgieriger Immobilienhaie. Die Bevölkerung jedoch ist seit jeher politisch hoch organisiert. Projekte wie beispielsweise ein Volksgarten werden ohne staatliche Genehmigung und sehr oft erst nach massivem Widerstand gegen Behörden und die Polizei durchgesetzt.
„Hier in Küçük Armutlu leben Aleviten, Sunniten, Türken und Kurden friedlich und in Geschwisterlichkeit zusammen. Ständig taucht die Polizei auf und lässt uns einfach nicht in Ruhe. Die willkürliche Repression soll endlich aufhören. Wir werden nicht weggehen. Wir wollen hier einfach nur ein ruhiges Leben führen. Mit ihren 60 Jahren sitzt meine Tochter grundlos in einem Gefängnis, ihr Ehemann ebenfalls. Daher rufe ich alle Menschen auf, eine Einheit zu bilden, damit niemand mehr unschuldig in der Dunkelheit verbringen muss“, fordert Kezban Bektaş.