Zum neunten Todestag: Grabbesuch bei Berkin Elvan

Berkin Elvan ist das jüngste Opfer des Gezi-Aufstands von 2013. Er war 14, als er am Rande der Proteste durch eine von der Polizei abgefeuerte Gaskartusche schwer verletzt wurde und 269 Tage im Koma lag. Heute vor neun Jahren starb er.

Berkin Elvan war 14 Jahre alt und wollte nur Brot holen, als er während den Gezi-Protesten in Istanbul im Juni 2013 von einer Tränengas-Granate am Kopf getroffen wurde. Nach 269 Tagen im Koma erlag er am 11. März 2014 im Alter von 15 Jahren seinen Verletzungen. Zu seinem neunten Todestag versammelten sich am Samstag viele Menschen auf dem Friedhof Feriköy im Istanbuler Bezirk Şişli, um Berkin Elvan zu gedenken.

„Würde mein Junge noch leben, wäre er heute 24 Jahre alt“, sagte Berkins Mutter Gülsüm Elvan. „Doch er wurde aus dem Leben gerissen. Wir sind wütend. Wütend, wir bis heute auf Gerechtigkeit warten. Wütend, weil noch immer unschuldige Kinder sterben – ob durch Polizeihand oder unter den Trümmern von Häusern, die nicht erdbebensicher gebaut wurden. Unsere einzige Hoffnung ist, dass irgendwann jemand die Täter sieht und dann das Verantwortungsbewusstsein aufbringt, Rechenschaft einzufordern.“

Berkins Vater Sami Elvan kritisierte, dass der Polizist Fatih Dalgalı, der die Granate auf den Jugendlichen abfeuerte, noch immer in Freiheit ist. Der Todesschütze zwar war im Juni 2021 – acht Jahre nach dem Angriff auf Berkin Elvan – zu einer Haftstrafe in Höhe von mehr als 16 Jahren verurteilt worden. Da die Entscheidung durch den Kassationshof, das oberste Berufungsgericht der Türkei, bis heute nicht bestätigt wurde, befindet er sich nach wie vor auf freiem Fuß.


EGMR verurteilte Türkei

Für etwas Genugtuung sorge daher eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Im Februar hat das Straßburger Gericht die Türkei im Zusammenhang mit dem Tod von Berkin Elvan verurteilt. Die Behörden seien nicht unabhängig gewesen und hätten ihre Verpflichtung zur Aufklärung nicht erfüllt. So hätten sie etwa nicht genug getan, um zu untersuchen, welche Rolle der Leiter der nationalen Strafverfolgungsbehörden sowie der Gouverneur von Istanbul damals spielten, heißt es in dem Urteil. Die Türkei muss jedoch keine Entschädigung zahlen, weil Gülsüm und Sami Elvan dies nicht beantragt hatten.

Zu dem Grabbesuch waren neben Familienangehörigen auch Vertreterinnen und Vertreter verschiedener politischer Parteien, demokratischer Verbände und zivilgesellschaftlicher Organisationen gekommen. Unter ihnen waren auch die HDP-Abgeordneten Oya Ersoy und Musa Piroğlu sowie die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu. Sie legten rote Nelken auf dem Grab von Berkin Elvan nieder und sprachen den Eltern des Jungen ihr Mitgefühl aus.

Weitere Trostworte kamen vom Rechtsanwalt Can Atalay, der die Familie Elvan juristisch vertritt – allerdings in Form einer schriftlichen Botschaft aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Dort sitzt der Jurist seit rund einem Jahr – auf Grundlage einer konstruierten Anklage. Atalay ist eine von sieben Personen, die im April vergangenen Jahres im wiederaufgerollten Gezi-Verfahren zu jeweils 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Sie werden beschuldigt, den im selben Prozess wegen „versuchtem Sturz der Regierung“ zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilten Kulturförderer Osman Kavala geholfen zu haben.

Gezi-Proteste

Die Gezi-Proteste begannen im Mai 2013 gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks, der unmittelbar an den Taksim-Platz angrenzt. Die lokalen Proteste weiteten sich schnell zu einer landesweiten Widerstandsbewegung gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus, nachdem die Polizei hart gegen die Bewegung vorgegangen war. Schließlich wurden die Proteste blutig niedergeschlagen – elf Menschen starben, Tausende weitere wurden verletzt.