Wegen „Präsidentenbeleidigung“ hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Eltern von Berkin Elvan verklagt. Der AKP-Chef sieht sich in Kritik am skandalösen Vorgehen der türkischen Justiz im Prozess um den Tod des jüngsten Gezi-Opfers gedemütigt und forderte über seinen Rechtsbeistand die Eröffnung einer Klage. Sollten Gülsüm und Sami Elvan verurteilt werden, drohen ihnen mehrjährige Haftstrafen. Vier Jahre und acht Monate Gefängnis ist die Höchststrafe für Präsidentenbeleidigung in der Türkei. Das Mindeststrafmaß beträgt ein Jahr und zwei Monate.
Konkret geht es um eine Erklärung des Ehepaares nach der 18. Hauptverhandlung am 9. Dezember 2020 gegen den Polizisten Fatih Dalgalı. Dieser hatte am 16. Juni 2013 eine Gaskartusche auf den damals 14-jährigen Jungen abgefeuert und am Kopf getroffen. Nach neunmonatigem Koma starb Berkin am 11. März 2014 an der ihm zugefügten Schussverletzung. Am Ende wog er nur noch 16 Kilogramm. Bei der Verhandlung im Dezember war zudem bekannt geworden, dass der Vorsitzende Richter kurz zuvor an den Kassationsgerichtshof berufen worden war. Der zuständige Staatsanwalt tauchte gar nicht erst auf, weil er sich mit dem Coronavirus infiziert hätte. Der angeklagte Polizist nahm an dem Prozess über eine Videoschaltung von seinem Einsatzort in Wan teil.
„Recep Tayyip Erdoğan, du hat mir mein Kind genommen“
„Unser Schmerz hört seit sieben Jahren nicht auf. Wir wissen, dass Berkin nicht zurückkommen wird, aber wir wollen auch nicht, dass andere Familien ein solches Leid erfahren“, sagte Sami Elvan damals nach der Verhandlung vor dem Justizpalast Çağlayan in Istanbul. Angeklagt sei nur der Polizist, der die Gaspatrone abgefeuert habe, die Familie wolle jedoch auch die Befehlshaber vor Gericht sehen.
Gülsüm Elvan richtete damals das Wort an den türkischen Präsidenten: „Recep Tayyip Erdoğan, du hat mir mein Kind genommen, gib mir wenigstens Gerechtigkeit. Ich will Gerechtigkeit.“ Damit spielte sie auf die Äußerung Erdoğans zur Gezi-Park-Bewegung eine Woche nach dem Angriff auf Berkin Elvan an. Erdoğan hatte damals noch als Ministerpräsident stolz verkündet, er habe der Polizei den Befehl gegeben, mit aller Härte gegen „die Terroristen“ vorzugehen, wie er die Demonstrierenden bezeichnete.
Mörder verurteilt, Strafe noch nicht rechtskräftig
Inzwischen ist die Prozessfarce fürs erste vorbei. Am 18. Juni wurde Fatih Dalgalı wegen Mord zu einer Haftstrafe von 16 Jahren und acht Monaten verurteilt. Der Staatsanwalt hatte nur bis zu neun Jahre Gefängnis wegen Tötung durch bewusste Fahrlässigkeit gefordert. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, bleibt der Polizist auf freiem Fuß und ist weiterhin im Dienst. Lediglich eine Ausreisesperre liegt gegen Dalgalı vor.