„Der Staat schafft eine dysfunktionale Gesellschaft“

Viyan Leyla von der PAJK kritisiert das staatliche Modell als Manifestation von Herrschaft und zeigt auf, dass es zwangsläufig in Assimilation, Zerstörung der Gesellschaft und Blutvergießen mündet.

Die kurdische Freiheitsbewegung ist bekannt für ihre scharfe Kritik an staatlichen Modellen. In der Sendung Xwebûn bei Jin TV sprach Viyan Leyla von der Partei der freien Frau in Kurdistan (PAJK) mit Arjin Baysal über die Gründe für die apoistische Staatskritik und die daraus resultierenden Folgerungen.

Viyan Leyla unterscheidet dabei zwischen dem Begriff der Herrschaft und dem der Autorität. Herrschaft werde im Nachhinein konstruiert, während sich Autorität natürlich entwickle. Leyla differenziert auch zwischen den Konsequenzen von Herrschaft und Autorität. Während Autorität bedeute, Lösungen für soziale Probleme zu finden, schaffe die Herrschaft Probleme und Krisen. Alle Werte der Gesellschaft würden von der Macht usurpiert.

Wie definieren Sie Herrschaft?

Die Frage der Herrschaft ist das Thema, das sich in der heutigen Gesellschaft am stärksten auf der Tagesordnung befindet und am meisten diskutiert wird. Es ist jedoch auch zum kompliziertesten und verzerrtesten Thema gemacht worden, da die Menschen es nicht verstehen sollen. Es wird wie ein Geheimnis behandelt, damit alle das Thema fürchten und sich nicht damit auseinandersetzen. Darum geht es dem System auch. Die Herrschaft hat sich im Zeitalter der kapitalistischen Moderne wie eine Krankheit ausgebreitet und den falschen Eindruck erweckt, dass sich die Gesellschaft als souverän betrachten könnte. Es wurde die Auffassung vermittelt, dass alle an der Macht sein, Autorität haben und entsprechend handeln können.

Es gibt viele Definitionen von Herrschaft. Wie gelangt zum Beispiel der Staat, das herrschende System, an die Macht? Er definiert ein Regierungssystem, das davon ausgeht, dass absolute Autorität zur ultimativen Lösung führt. Anders ausgedrückt wird behauptet, dass je stärker die Herrschaft ist, desto weitreichender die Lösungen sein könnten, die der Gesellschaft angeboten werden. Das ist jedoch eine Lüge. Unsere Sichtweise ist eine andere.

Es existieren auch andere Bewegungen, die sich auf verschiedene Weisen mit Herrschaft befassen. Beispielsweise haben sich die Bewegungen des Realsozialismus auf die Herrschaft konzentriert und sie als eine Form der Governance übernommen. Andererseits gibt es einige anarchistische Bewegungen. Ihr Ansatz unterscheidet sich. Sie betrachten Macht als eine soziale Krankheit. Der bekannte Anarchist Bakunin beschreibt den korrumpierenden Charakter von Macht an sich. Er sagt, dass sich selbst die moralischsten Menschen innerhalb von 24 Stunden verändern, wenn sie an die Macht gelangen.


Alle materiellen und geistigen Produkte sowie Leistungen der Gesellschaft wurden von der Herrschaft beansprucht. Alles, was der Gesellschaft gehört, ihre selbst geschaffenen materiellen und immateriellen Werte, wurde vom Staat geraubt und gestohlen. Dabei wurde so getan, als ob diese Werte von der Herrschaft erschaffen worden wären. Um dies zu erreichen, wurden alle möglichen Methoden angewandt. Neben Gewalt und Enteignung wurden in diesem Sinne auch militärische Operationen durchgeführt. Es wurden Märchen erfunden, damit die Gesellschaft sich nicht erhebt, keinen Widerstand leistet und in tiefem Schlaf verharrt. Wenn die Gesellschaft dies nicht akzeptiert, wird sie zerstört und assimiliert. Wir können ganz klar sagen, dass es sich um ein System des Raubes, der Plünderung und der Lüge handelt. Werte, die zur Gesellschaft, zu einer Ethnie gehören, werden dargestellt, als wären sie Produkte der Herrschaft. Es handelt sich also um unkontrollierte und grenzenlose Macht.

Das ist die heutige Sicht auf die Herrschaft. Sie hat daher alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen, alle Mentalitäten erfasst. Es wird versucht, in der Gesellschaft das Gefühl zu erzeugen, dass die Herrschaft etwas äußerst Mächtiges ist. Es wird der Eindruck erweckt, dass sich niemand der Herrschaft widersetzen könne. Deshalb prahlt die Herrschaft und gibt vor, dass niemand ihre Macht zerstören könnte. Aber wir sollten nie vergessen: Je mehr sich die Herrschaft brüstet, desto verkommener ist sie. In seinen Verteidigungsschriften führt Rêber Apo das Beispiel eines Apfels an. Ein kleiner Apfel wächst, wenn ihn niemand berührt oder wenn er nicht vom Baum fällt. Mit der Zeit verfault der Apfel jedoch am Ast und fällt herunter. Das Bild entspricht der gegenwärtigen Situation der Herrschaft.

Manchmal gibt es Verwirrung über Definitionen. Wie betrachten Sie den Begriff der Autorität? Sind Autorität und Herrschaft dasselbe oder gibt es Unterschiede?

Es gibt Unterschiede zwischen ihnen. Autorität ist gesellschaftliche Stärke. Zum Beispiel manifestiert sich die Kraft der gesellschaftlichen Selbstverwaltung in politischer Autorität oder die Stärke der gesellschaftlichen Ökonomie zeigt sich in wirtschaftlicher Autorität. Jede Form gesellschaftlicher Kraft kann als Autorität definiert werden. Wo liegt der Unterschied? Herrschaft ist konstruiert, während Autorität natürlich ist. Lassen Sie uns ein Beispiel aus unserer eigenen Gesellschaft nehmen: In Kurdistan existieren Rûspîs [gesellschaftliche Autoritäten]. Niemand hat jemals gesagt: „Ich werde ein Rûspî werden und euch regieren.“ Warum gibt es also Rûspîs? Weil sie Lösungen für soziale Probleme bieten. Sie spielen eine Rolle bei der Organisation der Gesellschaft und haben die Aufgabe, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Daher versammelt sich die Gesellschaft um sie.

In der Geschichte hatten Frauen Autorität, und es wurde von der Gesellschaft akzeptiert, dass Frauen Vorreiterinnen waren. Frauen wurden als heilig angesehen. Sie brachten neues Leben hervor, kümmerten sich um die Kinder, schützten die Gesellschaft und engagierten sich in der Organisation der Gesellschaft. Daher war die Frau eine natürliche Autorität.

Es gab also keine Ausbeuter und Ausgebeuteten?

Nein, die Gesellschaft hat sich selbst überzeugt und im Konsens gehandelt. Das war eine gesellschaftliche Entscheidung. Aber die Herrschaft drängt sich von oben auf. Das ist der Unterschied. Zum Beispiel oktroyieren die politischen Parteien heute ihre Macht von oben und fordern die Gesellschaft auf, sie zu akzeptieren. Wenn die Gesellschaft sie jedoch nicht akzeptiert, töten, assimilieren und zerstören sie die Gesellschaft. Wir hingegen definieren Autorität in natürlichen Gesellschaften als matriarchal. Damals griffen die Frauen nicht zur Gewalt. Durch die von ihnen hergestellten Produkte, ihre Teilnahme am Leben sowie den Aufbau und Schutz des Lebens wurden sie ganz natürlich zur Autorität.

Wie organisiert sich das aktuelle Herrschaftssystem?

Wir können feststellen, dass es in allen Bereichen, die der Staat kontrolliert, organisiert ist. Es beschäftigt sich insbesondere mit der Gestaltung der Gesellschaft nach seinen Vorstellungen. Es ist im politischen Bereich organisiert. Vereine, Stiftungen und politische Parteien sind Formen der Organisation der politischen Herrschaft. Die Frauen sind dabei in keiner Weise einbezogen. Jetzt wird weltweit darüber diskutiert: Welche Partei wird die Wahlen gewinnen? Wer wird die Macht innehaben? Diejenigen, die sich als Herrscher der Gesellschaft aufdrängen, tun dies oft durch Kriege.

Die Herrschaft etabliert sich auch im ökonomischen Sektor. Der Gesellschaft werden ihre Produkte geraubt. Wer repräsentiert heute die Herrschaft? Die Bosse und die Reichen. Das bedeutet diejenigen, die über wirtschaftliche Macht verfügen. Die Ökonomie basiert auf gesellschaftlicher Produktion. Die Herrschenden arbeiten nicht, dennoch werden sie reich, indem sie sich die materiellen Produkte der Gesellschaft aneignen. Deshalb versklaven sie die Menschen, machen sie zu Arbeiter:innen, wobei die Frauen größtenteils aus dem Wirtschaftssystem herausgehalten werden. Dabei sind die Frauen jedoch die wahren Eigentümerinnen der Ökonomie. Die Arbeit der Frauen wird jedoch oft als die billigste Arbeitskraft behandelt.

In der Türkei herrscht einerseits große Armut, andererseits gibt es Reichtum, Luxus und ein glamouröses Leben. Es gibt auch soziale Hierarchien, in denen der Vater als Vertreter der Herrschaft in der Familie auftritt. In der Türkei gibt es viele Nationen und Glaubensrichtungen. Dennoch vertreten die sunnitischen Türken häufig die vorherrschende Macht. Sie sind diejenigen, die an der Spitze stehen. Der Mann verkörpert oft die Vorstellung von Herrschaft.

All dies fördert den Fundamentalismus, den Sexismus und den Nationalismus.

Das ist korrekt, das ist die zugrunde liegende Logik. Man organisiert diejenigen, die einen selbst in der Gesellschaft vertreten. Es ist der Mann innerhalb der Geschlechter, der Vater in der Familie, derjenige, der dem Volk an der Macht angehört. Die Vertreter der Herrschaft organisieren sich, um Unterdrückung und Unfreiheit zu legitimieren. Sie organisieren sich auch im ideologischen Bereich. In diesem Sinne werden Bildungsarbeiten durchgeführt, es wird agitiert und propagiert, dazu werden Medien und Schulen aufgebaut. Die Armee wird zur Durchsetzung der Herrschaft eingesetzt. Die Herrschaft organisiert sich international und überträgt die Macht auf eine bestimmte Nationalität. Heutzutage wird die Herrschaft hauptsächlich von den USA repräsentiert. In der Vergangenheit war es Großbritannien. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA diese Rolle. Das Ziel ist, den Nahen Osten sowie ganz Amerika unter Kontrolle zu bringen und sich in Afrika durchzusetzen. Die Herrschaft beschäftigt sich also mit der Frage der Globalisierung und der eigenen zentralen Hegemonie.

Die Herrschaft schadet den Frauen einerseits und benutzt sie andererseits. Was sind die Folgen davon?

Das ist ein wichtiger Punkt. Denn die Herrschaft hat ihren Fokus als erstes auf die Frauen gerichtet. Wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir, dass starke und rücksichtslose Männer zuerst die Frauen ins Visier genommen haben, um die patriarchale Hegemonie durchzusetzen. Sie haben die natürliche soziale Ordnung übernommen und die Frauen ihrer Rechte beraubt. Als die Zivilisation in eine neue Phase eintrat, waren die Frauen immer das erste Ziel. Es wurde eine besondere Politik verfolgt, um zu verhindern, dass Frauen aufbegehrten, und um sicherzustellen, dass sie die Herrschaft akzeptierten. Dieses Vorgehen gegen die Frauen hat seinen Ursprung im staatlichen Denken. Die Frauen wurden dazu gebracht, nicht mehr an sich selbst zu glauben und ihre eigene Wahrheit sowie Geschichte zu vergessen. Sie wurden einer sexistischen Politik ausgesetzt. Die Institutionen der Ehe und Familie dienen dazu, die Frauen dazu zu bringen, all diese Zumutungen zu akzeptieren. Dies basiert auf der Annahme, dass, wenn eine Frau die Macht des Vaters akzeptiert, wenn sie die Macht des Mannes akzeptiert, sie jegliche Form von Herrschaft akzeptieren würde.

Die häusliche Herrschaft wird systematisch über die Frauen realisiert. So wird die Arbeit der Frau missachtet, die Frau wird vom Mann beherrscht. Als beste Frau gilt die Frau, die einem Mann gehört, eine stumme Frau, eine Frau, die alles akzeptiert, was man ihr vorsetzt. Es ist auch wichtig zu begreifen, wie Frauen dazu gebracht werden, diese Dinge zu akzeptieren. Dabei spielen Gewalt, Übergriffe, Vergewaltigungen und Drohungen eine wichtige Rolle. Der Bereich der Sexualität ist bereits zu einem Bereich der männlichen Herrschaft geworden. Gewalt soll die Frauen einschüchtern. Das System selbst organisiert dies durch Medienmanipulation. Die Männer werden regelrecht ermutigt. Es gibt eine Unzahl sexistischer Begriffe. Zum Beispiel werden Männer, die auf dem Gebiet der Sexualität nicht „erfolgreich“ sind, als impotente Männer bezeichnet. Dazu kommt noch das: Man lässt einige Frauen die Herrschaft schmecken, damit sie diese akzeptieren, aber das hat auch seine Grenzen.

Den Frauen wird gesagt: „Ja, ihr werdet euren Platz in der Politik einnehmen, aber in unserem Sinne. Ihr werdet Politik in unserem Stil machen, im männlichen Stil. Ihr werdet in der Wirtschaft mitmischen, aber ihr werdet Ausbeuterinnen sein.“ Jetzt wurde zum Beispiel der Bereich des Militärdienstes für Frauen geöffnet. Man hat das als Alternative zu unserer Bewegung organisiert. Aber auch dort tun Frauen das, was Männer tun. Beim Militärdienst werden Frauen systematisch vergewaltigt. Frauen sollten sich also nicht davon täuschen lassen. Die Herrschaft arbeitet daran, sich den Körper, die Seele und den Geist der Frauen anzueignen.

Sie definieren den Staat als eine Institution der Herrschaft. Könnten Sie näher erläutern, als was Sie ihn begreifen?

Der Begriff des Staates wird, wie der der Herrschaft, durch das System verzerrt. Das System der kapitalistischen Moderne tut dies ständig. Wie wird uns der Staat heute präsentiert? Er wird als unverzichtbare Institution dargestellt, die alle sozialen Probleme löst und die Gesellschaft anführt. Doch wir kennen den Staat aus der Geschichte. Der Staat wurde von Menschen errichtet. Das ist unsere Theorie. Was von Menschenhand aufgebaut wurde, kann auch von Menschenhand zerstört werden. Er ist kein heiliges, grundlegendes menschliches Werkzeug.

In der Realität bedeutet der Staat jedoch, alles in einem Meer von Blut zu ertränken. Der Staat steht für Assimilation, er schafft eine dysfunktionale, bequeme, unkritische und geistlose Gesellschaft. Der Staat ist die Organisation der Herrschaft im juristischen Sinne. Der Staat ist der Körper, seine Seele ist die Herrschaft. Was behauptet der Staat? Er behauptet, dass die Gesellschaft eine Institution benötigt, um sich selbst zu regieren. Diese Institution müsse Regeln aufstellen und Gesetze erlassen. Er sagt auch, dass eine Autorität notwendig sei, um die Gesellschaft zu leiten. Dafür bedürfe es rechtlicher, militärischer, gesundheitlicher, religiöser und wirtschaftlicher Institutionen. Es wird der Eindruck erweckt, dass sich die Gesellschaft ohne den Staat nicht selbst organisieren könne. Auf diesen Lügen gründet der Staat. Doch die Gesellschaft hat schon immer ohne Staat existiert. Der Staat hat lediglich Chaos und Krise geschaffen.

Mit dem Kapitalismus wurde der Nationalstaat geschaffen. Der Nationalstaat betreibt insbesondere Frauenpolitik. Was sind Grund und Inhalt dieser Politik?

Im 19. Jahrhundert wurde der Nationalstaat von den herrschaftsorientierten Mächten als Mittel zur Befreiung des Volkes propagiert. Mit anderen Worten: Jede Gesellschaft sollte einen Nationalstaat haben, um Freiheit zu erlangen. Die Menschen haben sich davon täuschen lassen. Selbst heute sehen wir diese Krise. Der Nationalstaat kann heutzutage für keines der Probleme eine Lösung finden. Er richtet seine gesamte Politik auf den Nationalismus aus. Der Nationalismus wird zum Heiligtum erhoben, für das jeder und alles geopfert wird. Auf diese Weise werden die Menschen betäubt.

Die politische Autorität präsentiert ihre Herrschaft so geschickt, dass sie ein Bild von Wettbewerb schafft, um zu vermitteln, dass jeder an der politischen Macht teilhaben könne. Insbesondere unter den Frauen wird eine Spaltung erzeugt. Nach Ansicht der politischen Autorität ist die am weitesten entwickelte moderne Frau diejenige, die nach den Normen des Kapitalismus lebt. Anders ausgedrückt: Wenn du an der Macht sein willst, musst du mir zustimmen. Der Nationalstaat macht jeden zu seinem eigenen Arbeiter und Beamten. Das ist seine Funktionsweise.

Wie werden die Menschen bedroht? Der Nationalstaat warnt sie davor, dass sie rausgeschmissen werden, wenn sie nicht gehorchen. Jeder Nationalstaat hält einen Anteil an Arbeitslosen bereit, um sie als Drohpotenzial einzusetzen. Die „Arbeitslosigkeit“ ist unter Frauen am weitesten verbreitet. Selbst wenn eine Frau erwerbstätig ist, wird sie schlechter bezahlt als ein Mann. Es ist bedauerlich, dass solche Dinge sogar im 21. Jahrhundert noch diskutiert werden müssen. Frauen arbeiten jedoch auch zu Hause; sie kümmern sich um die Kinder, erziehen sie, organisieren den Haushalt und halten das Haus in Ordnung. Dennoch wird die Hausarbeit oft ignoriert und als nicht zur Arbeitswelt gehörig betrachtet.

Der Staat hat die Staatsbürgerschaft als rechtliches Konzept eingeführt. Wie verknüpft er jedes Individuum mit dem Gesetz? Jede Person besitzt eine nationale Identität. Doch wenn man keinen Ausweis hat, wird man nicht als Person betrachtet. Dies haben wir in der Vergangenheit bereits unter dem syrischen Regime erlebt, das Menschen die Staatsbürgerschaft entzogen hat. Der Status der Kurd:innen in Syrien war nicht einmal mit dem von Tieren vergleichbar. Denn faktisch bedeutet es: „Wenn du keine Identität hast, wirst du nicht als Mensch anerkannt.“

Den Menschen werden also dann alle Rechte verweigert…

Das stimmt. Die Rechte, die gewährt werden, werden von den Staaten definiert. Schauen wir uns diese Gesetze an. Sie richten sich gegen Frauen. In den Verfassungen vieler Staaten gibt es Familiengesetze, mit dem Ziel, das Patriarchat zu stärken. Es gibt so viel Gewalt, Vergewaltigungen und Morde an Frauen. Aber diese Gesetze werden angewandt, um Männer zu schützen. Die Frauen haben mit ihrem Kampf einige Errungenschaften erreicht. Jetzt wird darüber diskutiert, diese Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. In den USA wird das Recht auf Schwangerschaftsabbruch infrage gestellt. Diese Diskussion wurde in Gang gesetzt, um den Frauen dieses Recht zu entziehen.

In der Türkei wurde die Istanbul-Konvention aufgehoben. Es wird behauptet, man verstoße seine Religion, wenn man sich dem Staat widersetze. Mit anderen Worten, die Religion wird benutzt, um den Nationalstaat zu heiligen. Man lässt es so aussehen, als ob Gehorsam gegenüber dem Staat Gehorsam gegenüber Gott wäre. Man nutzt Instrumente wie den Kriegsdienst, das Bildungswesen und die Medien, um passende Bürger:innen zu produzieren. Die ganze Politik beruht auf Sexismus. Sexismus ist für die Existenz des Staates unerlässlich. Was für ein Mensch entsteht durch diese Politik? Ein Mensch, dessen Ziel ein Auto und eine Familie ist. Es wurden Menschen geschaffen, die nur Geld ausgeben und konsumieren.

Sie haben auf alle Übel des Staates und der Macht hingewiesen. Aber ein Teil der kurdischen Gesellschaft will immer noch einen Staat gründen. Es gibt immer noch diejenigen, die in der Staatsgründung das Heil und die Freiheit sehen. Was können Sie zu dieser Haltung in der kurdischen Gesellschaft sagen?

Der Staat stützt sich in dieser Hinsicht auf 5.000 Jahre Geschichte. Dementsprechend gibt es eine Institutionalisierung, eine Systematisierung und einen Druck auf die Gesellschaft. Gegen diese Entwicklung hat sich niemand aufgelehnt. Einige realsozialistische Bewegungen setzten die Herrschaft auf ihre Agenda, doch sie suchten die Lösung im Staat. Es gab kein alternatives Modell. Kaum jemand dachte darüber nach. Uns beschäftigt die Frage, wie das Leben ohne den Staat aussehen könnte. Wie würden die Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllt werden? Die Gesellschaft ist so weit von ihrer eigenen Realität entfernt, dass es keine Alternative zu geben scheint. Die Kurd:innen waren schon immer von kulturellem und physischem Völkermord bedroht. Da sie keine Alternative hatten, suchten sie die Lösung im Staat. Zum Beispiel die Marxisten waren nah an einer Lösung, aber auch sie sahen die Lösung im Staat. Genauso wurde der Staat auch in Kurdistan betrachtet.

Auch unsere Bewegung hatte zu Beginn diese Vorstellung. Doch dank der Weitsicht von Rêber Apo haben wir unser Paradigma geändert: Der Feudalstaat, der Feudalsklave, der liberale Staat und der kapitalistische Staat sind alles Lügen. Der Staat ist der Staat. In seiner Logik gibt es nur Raub, Herrschaft und Usurpation. Wir als Bewegung haben das erkannt. Wie können wir ein System ohne Staat errichten? Diese Diskussionen haben bereits begonnen. Mit diesen Diskussionen kam es zu großen Veränderungen in der kurdischen Gesellschaft. In Kurdistan gibt es einige traditionelle nationalistische Politikansätze, aber wir sehen auch deren Begrenzungen. Die Agenda des staatenlosen Paradigmas wird nun immer mehr in der kurdischen Gesellschaft diskutiert. Es stimmt, dass es anfangs Fehler gab, den Glauben nämlich, dass solange ein Staat existiere, die Menschen geschützt seien. Doch unsere Bewegung hat das widerlegt. Wir sind als Bewegung gegen die Existenz des Staates. Unser System basiert auf diesem Prinzip. Institutionen, die den Werten der Gesellschaft folgen und nicht den Werten des Staates, sind notwendig. Das Modell von Rojava hat alles verändert. In Rojava gibt es keinen Nationalstaat. Mag sein, dass es sich um ein kleines Gebiet handelt, aber es hat die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen. Ja, es gab einen großen Widerstand gegen den IS. Aber dennoch verfolgen Menschen aus vielen Ländern auch die Entwicklungen in Rojava und sind beeindruckt. In mehr als zehn Jahren ohne Staat hat sich die Gesellschaft selbst organisiert, selbst verwaltet und ihre Probleme gelöst. Das Modell, das in Rojava umgesetzt wurde, dient als Vorbild für die ganze Welt.