„Das von Männern dominierte System beruht auf Vergewaltigungskultur“

Viyan Leyla (PAJK) hat sich bei Jin TV über „Vergewaltigungskultur“, ihre Auswirkungen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Gegenwehr geäußert. Gerade in Kurdistan hat diese Kriegsmethode schon vor Jahrzehnten jeden Aspekt des Lebens durchdrungen.

Viyan Leyla von der Partei der Freiheit der Frau in Kurdistan (Partîya Azadîya Jin a Kurdistan, PAJK) hat sich beim feministischen Sender Jin TV in der Sendung „Xwebûn“ zum Thema Vergewaltigungskultur und ihre Auswirkungen in Kurdistan geäußert. Die Politikerin zeichnete einen Umriss der Entwicklung dieser patriarchalen Unterdrückungsmethode und legte dar, warum der Begriff „Vergewaltigung“ nicht nur auf körperliche Übergriffe beschränkt ist. Außerdem zeigte sie Möglichkeiten der gesellschaftlichen Gegenwehr und die Wichtigkeit der Selbstverteidigung für Frauen auf:

„Die Art und Weise, wie wir mit Vergewaltigung umgehen, unterscheidet sich grundlegend von der Herangehensweise staatlicher Systeme. In staatlichen Systemen wird Vergewaltigung nur als Angriff auf den Körper der Frau betrachtet. Mit anderen Worten: dieses System definiert Vergewaltigung als einen sexuellen Übergriff auf eine Frau gegen ihren Willen oder einen Übergriff, bei dem ihre Jungfräulichkeit verletzt wird. Wir halten diese Definition für falsch und unzureichend. Wir als Frauenbefreiungsbewegung sehen die gesamte männlich dominierte Mentalität und die daraus entstehenden Denk- und Handlungsmuster als Vergewaltigung. Wir definieren das fünftausend Jahre alte Patriarchat als Vergewaltigungssystem. Auch die Definition des Wortes ‚Vergewaltigung‘ als ‚gewaltsame Inbesitznahme‘ ist zu eng gesteckt. Die Bedeutung dieses Begriffs ist viel umfassender. Gewiss ist die ‚gewaltsame Inbesitznahme‘ ein Aspekt davon. Doch auch die gewaltsame Aneignung, Ausbeutung und Plünderung gesellschaftlicher Werte und die Unterwerfung des Willens durch Spezialkriegsmethoden sind als Vergewaltigung zu werten.


Alle von Frauen geschaffene Werte werden mit Gewalt in Besitz genommen

All dies wird bei einer Vergewaltigung in gewisser Weise auch mit dem Körper der Frau gemacht. Aber der Übergriff ist nicht auf den Körper beschränkt. Frauen sind dem Angriff und der Vergewaltigung durch das männlich dominierte System in jeder Hinsicht ausgesetzt: Sprache, Kultur, Land, Geist, Gehirn und Körper werden vergewaltigt. Alle von Frauen geschaffenen Werte werden mit Gewalt in Besitz genommen und mit den Interessen des souveränen Systems ausgetauscht. Was für Werte setzt dieses System? Willenslosigkeit, Sklaverei und Ungleichheit. Unter diesen Gesichtspunkten ist es unvollständig und fehlerhaft, Vergewaltigung nur im klassischen Sinne zu definieren. Zusammengefasst: wir definieren die Aneignung aller moralischen, ethischen und ästhetischen gesellschaftlichen Werte als Vergewaltigung. 

Vergewaltigung in der Mythologie

In den mythologischen Erzählungen, die in den sumerischen Priesterstaaten weit verbreitet waren, begegnet uns das Thema Vergewaltigung häufig. Wir sehen diese Vergewaltigungskultur zum Beispiel im Mythos von Inanna und Enki. Enki, ein starker und listiger männlicher Gott, begeht die erste unberechtigte Inanspruchnahme, indem er sich durch List und Tücke der ‚104 Me‘[1] der Göttin Inanna, der Beschützerin der Gesellschaft, bemächtigt. Inanna führt einen sehr ernsthaften Kampf, um ihre Kräfte zurückzubekommen. Es werden auch andere Vergewaltigungen durch den listigen Gott Enki an den Göttinnen in den mythologischen Erzählungen geschildert. So wurde die erste körperliche Vergewaltigung dem Mythos nach ebenfalls von Enki an der Göttin Ereschkigal, der Winterschwester der Göttin Inanna, begangen. Auch die Mythologie von Tiamat und Marduk kann in diesem Kontext betrachtet werden. Nach den physischen Vergewaltigungen folgen die kulturellen und systemischen Vergewaltigungen. Dieser Punkt in der Geschichte wird auch als erster sexueller Bruch bezeichnet. Die Essenz des Wortes ‚Staat‘ beruht auf dieser Vergewaltigungskultur. Die Zivilisation hat sich durch diese Kultur entwickelt und ist bis zum heutigen Tag erhalten geblieben.

Was bedeutet der Begriff „Vergewaltigungskultur“?

Der Begriff Kultur bezeichnet die Gesamtheit der materiellen und geistigen Werte einer Gesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt mag es ein wenig seltsam erscheinen, von einer Vergewaltigungskultur zu sprechen. Doch die kapitalistische Moderne höhlt die Begriffe aus und gibt ihnen neue Bedeutungen. Denn sie will eine neue Mentalität, ein System schaffen, indem sie die Wahrnehmung verändert. Die vom kapitalistischen System geschaffene Kultur besteht aus Sexismus, Nationalismus und religiösem Fanatismus. Durch die Zerstörung der Vielfalt und des Reichtums in der Gesellschaft wurde ein einheitliches System geschaffen. Der Frau wurde alles genommen und sie wurde zur Sklavin degradiert. Sie tut alles, was dafür notwendig ist. Es findet auch auf privater Ebene eine Institutionalisierung statt.

Kurdistan ist besonders stark vom Patriarchat betroffen

Kurdistan ist besonders von der dominanten männlichen Mentalität betroffen. Die Kultur der Vergewaltigung, mit anderen Worten die Kultur der gewaltsamen Inbesitznahme, hat jeden Aspekt des Lebens durchdrungen. Ein Beispiel: Obwohl die Hauptsprache in Kurdistan Kurdisch ist, wird diese Sprache ignoriert und stattdessen Türkisch zur Pflicht gemacht. Die Schulen sind die offizielle Institution dafür. Obwohl du Kurd:in bist, legst du jeden Tag einen Eid [auf die türkische Republik] Anm. d. Red.] ab und verleugnest dein Kurdisch-Sein. Stattdessen verschenkst du deine Existenz an ein Dasein als Türk:in. Kann es eine verhängnisvollere Kultur der Aneignung, des Raubes und der Vergewaltigung geben? Die YİBO[2] haben in dieser Hinsicht in Kurdistan eine ganz besondere Rolle gespielt. Die Politik der kulturellen Assimilierung und Unterwerfung wurde durch verschiedene Institutionen durchgesetzt.

Die Institution Familie belegte die Frau durch den aus dem religiösen Kontext entstandenen Begriff der „Ehre“ mit einem Tabu in der Gesellschaft. Im Falle eines körperlichen Übergriffs auf eine Frau wurde der Mord an ihr als Mittel zur Rettung der Ehre angesehen, obwohl die Frau keine Schuld traf. Die Ermordung der Frau war damit legitimiert. Das sind ebenso Produkte der Vergewaltigungskultur.

Das Militär des türkischen Staates muss auch als eine Institution der Vergewaltigung betrachtet werden. So begehen türkische Soldaten im Rahmen der Spezialkriegsführung in Kurdistan alle Arten von Vergewaltigungen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Vergewaltigung. Sie sind speziell dafür ausgebildet, mit allen moralischen Werten der kurdischen Gesellschaft zu spielen. In Kurdistan vergeht kein Tag, an dem Soldaten, Polizisten oder Dorfschützer keine Erpressungen, Plünderungen und Vergewaltigungen begehen. Obwohl diese Handlungen Straftaten darstellen, bleiben die Täter straffrei und werden durch den Staat geschützt, da diese Taten politisch gewollt sind. In Mêrdîn war eine Kurdin von zweihundert Soldaten und Polizisten vergewaltigt worden, in Şirnex wurde ein gehandikaptes Mädchen vergewaltigt. Ipek Er und Gülistan Doku können ebenfalls als Opfer dieser Vergewaltigungskultur genannt werden. Das Ziel all dessen ist es, die kurdische Gesellschaft in der Person der kurdischen Frau anzugreifen. In dieser Hinsicht kommt den Müttern eine wichtige Aufgabe zu. Es ist wichtig sich immer wieder daran zu erinnern, dass der Henker sich niemals in sein Opfer verliebt. Kurdische Frauen sollten sehr sensibel und vorsichtig sein.

Die Haltung der kurdischen Gesellschaft

Es gibt auch eine demografische Vergewaltigung. In Südkurdistan [Kurdistan-Region des Irak] und Rojava [Nordsyrien] geschieht dies jeden Tag. Es reicht den Tätern nicht, Efrîn und Serêkaniyê zu besetzen. Sie wollen Besitz an sich reißen, der ihnen nicht gehört, indem sie die natürlichen Reichtümer zerstören und rauben. Auch dies ist eine Vergewaltigung. Denn eine Vergewaltigung liegt immer dann vor, wenn man sich mit Gewalt etwas aneignen will, was einem nicht gehört.

Gemessen am Niveau der Angriffe, können wir sagen, dass die Reflexe dagegen schwach sind. Auch wenn es von Zeit zu Zeit zu heftigen Reaktionen kommt, wird dies nicht zu einem dauerhaften Zustand. Wenn Angriffe auf Kinder und Frauen aufgedeckt werden, muss die Gesellschaft von einer Welle der Wut erfasst werden. Der Vergewaltiger Musa Orhan etwa kann sich seinem gewohnten Alltag widmen. Auch wenn es Reaktionen gibt, führt dies nicht zu einer Haltung und strafrechtlichen Sanktionen, die ihn und Gleichgesinnte abschrecken würden. In dieser Sache etwas vom Staat zu erwarten ist vergeblich. Denn es ist ja der Staat, der das ermöglicht hat. Die Täter handeln also im Auftrag des Staates. Garibe Gezer versuchte, ihrer Stimme aus dem Kerker Gehör zu verschaffen. Aber weil es nur sehr wenige Menschen gab, die ihre Stimme hörten, ist Garibe heute nicht mehr unter uns.

Die Gesellschaft muss sich selbst gegen die immer mehr um sich greifende Vergewaltigungskultur zur Wehr setzen. Sie sollte in dieser Hinsicht von niemandem etwas erwarten. Geschieht das nicht, wird sich der Verfall in der Gesellschaft durchsetzen. Gesellschaften, in denen Dekadenz und Korruption herrschen, beginnen zu verschwinden. Um dies zu verhindern, müssen gesellschaftlicher Widerstand und Sensibilität auf höchstem Niveau vorhanden sein. 

Bedeutung der Selbstverteidigung

Die Selbstverteidigung muss das wichtigste Kriterium für Frauen sein. Alle Wesen in der Natur sichern ihre Existenz auf der Grundlage der Selbstverteidigung. Jedes Lebewesen hat einen anderen Abwehrmechanismus. Aber die Selbstverteidigung der Frauen wurde ihnen von den Männern abgenommen. Aus diesem Grund ist Feminizid sehr leicht zu bewerkstelligen. Wenn eine Frau sich gegen einen Angriff wehrt, wird sie von der Gesellschaft und dem Staat verurteilt, ihre Selbstverteidigung wird niemals akzeptiert. Sie haben Angst davor, dass Frauen sich wehren können. Wir erleben selbst das konkreteste Beispiel dafür. Das ist der Grund, warum sie die Frauenbefreiungsbewegung so vehement angreifen. Denn es handelt sich um eine Struktur, die bewiesen hat, dass Frauen sich in allen Aspekten selbst verteidigen können. Sie entwickeln alle möglichen Formen von Angriffen, um die Entwicklung dieses positiven Beispiels für Frauen zu verhindern.

Selbstorganisation von Ezidinnen als Beispiel

Die Frauen müssen sich vor allem darüber im Klaren sein, dass keine Frau dazu verdammt ist, mit einem Mann zusammenzuleben. Frauen haben immer die Möglichkeit, ein freies und alternatives Leben zu führen. Dazu müssen die Frauen das bestehende System ablehnen. Sie müssen auf der Grundlage ihrer eigenen Lebensphilosophie gegen das von Männern dominierte System kämpfen. Ohne eine radikale Weiterentwicklung des Frauenbefreiungskampfes wird es keine Veränderung geben. Die Selbstorganisation der ezidischen Frauen ist in dieser Hinsicht atemberaubend und von großer Bedeutung. Eine Frauenorganisation, die eine eigene Selbstverteidigungskraft gegen Genozide, Feminizide und die Vergewaltigungskultur entwickelt, wird in der Gesellschaft wahrgenommen und muss sich entsprechend verhalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich das System des patriarchalen Staates auf der Grundlage von Macht, Inbesitznahme und Plünderung entwickelt hat. Dies hat sich zu einer Vergewaltigungskultur entwickelt. Ich rufe alle Frauen auf, sich dem ehrenvollen Kampf, den wir dagegen entwickelt haben, anzuschließen.


[1] Die 104 Me der Göttin Inanna sind die kosmischen Kräfte und Naturgesetze, die die Welt und das Universum zusammenhalten, sowie die Kulturtechniken, die das Überleben des Menschen auf der Erde und das Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Der listige Gott Enki raubte der Göttin die 104 Me und eignete sich dadurch die Herrschaft über das Universum an.

[2] YİBO, Yatılı Bölge Ortaokulu, waren Internate im ländlichen Raum, die vom türkischen Staat besonders in den kurdischen Gebieten, aber auch gegenüber anderen ethnischen oder religiösen Minderheiten zur Assimilierung gemäß der Staatsdoktrin der türkischen Republik betrieben wurden.