Mit dem Paradigmenwechsel zum Demokratischen Konföderalismus, dem eine radikaldemokratische, geschlechterbefreite und ökologische Gesellschaft zugrunde liegt, hat der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan in den frühen 2000er Jahren vor die Befreiung der „eigenen Region“ das Ziel der tiefergehenden Demokratisierung und Emanzipation von Patriarchat, Herrschaft und Nation gestellt. Xebat Andok, Mitglied im Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), weist im ANF-Interview auf die Bedeutung des Demokratischen Konföderalismus für den Aufbau einer Gesellschaft jenseits von Macht und Herrschaft hin. Im ersten Teil stellte er das Alternativmodell dieses Projekts vor. Nun geht es um die Geschichte von Herrschaft auf der einen und Freiheitskampf auf der anderen Seite. Dabei beschäftigt sich Andok insbesondere mit dem staatsfixierten Denken. Er sieht darin die Ursache des Scheiterns des Realsozialismus sowie vieler nationaler Befreiungsbewegungen. Der Staat dürfe auch als Übergangsmodell kein Mittel sein, denn er sei als Methode an sich schon verdorben. Xebat Andok unterstreicht, dass die Alternative bereits jetzt radikaldemokratisch sein muss.
Wie sehen Sie das Modell des Demokratischen Konföderalismus im historischen Kontext?
Es war Rêber Apo [Abdullah Öcalan], der den demokratischen Konföderalismus neuformuliert hat. Er ist ein Wegweiser des Volkes. Er ist eine Person, die für die Existenz und Freiheit des kurdischen Volkes gekämpft hat und kämpft. Wir sind Menschen, die an dieses Projekt glauben, die davon überzeugt sind, dass die Frage der Existenz und Freiheit der Kurdinnen und Kurden auf diese Weise gelöst werden kann, und wir kämpfen dafür. Wir wissen, dass es im Laufe der Geschichte immer Menschen wie uns gab, die für Gleichheit, Freiheit, Demokratie und Existenz gekämpft haben. Dieser Kampf wird auf jeder Ebene geführt. Nach unserer Lesart der Geschichte und insbesondere, wenn wir die Zeit der Entstehung der Herrschaft nach dem Neolithikum mit einbeziehen, besteht diese seit 7.000 Jahren. Die ersten ein- bis zweitausend Jahre dieser Periode sind entscheidend für die Herausbildung der Hauptursache der sozialen Probleme, mit denen die Menschen heute zu kämpfen haben. Es handelte sich damals um eine Periode, in der sich der Staat noch nicht herausgebildet hatte, in der aber die patriarchale Mentalität und Ideologie, aus der allmählich Machtstreben und Individualismus entstanden, sich miteinander zu verbinden begannen. Es handelt sich ebenso um die Periode, aus der der spätere Staat und die Klassengesellschaft hervorgehen sollten, aber es noch keine Sklaverei im bekannten Sinne gab. Der Staat entstand einige Zeit später, vor etwa 5.500 Jahren.
Das etatistische System ist die Wurzel der Probleme
Uruk entstand als Staat auf dem Gebiet des heutigen Irak. Dieses System ist die Quelle aller gesellschaftlichen Probleme, mit denen die Menschen heute zu tun haben und die sie aufgrund ihrer historisch gewachsenen Mentalität nicht hinreichend lösen können. Dabei meinen wir zum Beispiel die Machtorientierung, den Nationalismus, die Widersprüche zwischen Unterdrückten und Unterdrückern und die Klassenwidersprüche. Die Probleme heute sind gigantisch, können aber mit der aktuellen Denkweise nicht gelöst werden. Wir untersuchen die Geschichte und gehen dabei an den Tag zurück, an dem diese Probleme entstanden sind, und schreiten von dort bis ins Heute fort. Wir sehen die Probleme als historisch an. Sie wurden von den Herrschenden in ihrer Ausrichtung gegen den kommunalen Geist verursacht. Alles soll unter ihrer Kontrolle stellen. Ihre Realität ist vollkommen von der Menschlichkeit, der Gesellschaft und dem kommunalen Leben entfremdet. Diese Menschen sind Individualisten, die immer regieren und herrschen wollen. Aber die Natur des Menschen ist freiheitlich und egalitär. Sie stellt sich dem entgegen. Während diejenigen, welche den Weg der Menschlichkeit verlassen haben, ihre Herrschaftsambitionen umzusetzen versuchen, hat es immer auch einen Kampf für Gleichheit und Freiheit gegeben. Die Geschichte der Herrschaft ist auch eine Geschichte des Freiheitskampfes dagegen. Früher lebten die Menschen frei in der natürlichen Gesellschaft, aber nachdem sie ihre Freiheit verloren hatten, kämpften sie und leisteten Widerstand gegen diejenigen, die sie dazu zwangen, in einem System der Herrschaft zu leben.
Wir sind Teil dieses historischen Freiheitskampfes
Seitdem geht dieser Kampf für Gleichheit, Freiheit und Demokratie weiter. Wir sind die Fortsetzung davon. In dieser Hinsicht sind wir weder die ersten noch werden wir die letzten sein. Solange es Formationen gibt, die auf Herrschaft, Macht, Sexismus und dem Verhältnis Subjekt-Objekt basieren und die Gesellschaft spalten, wird es einen Kampf für Freiheit gegen sie geben. In diesem Sinne befassen wir uns mit der Geschichte. Wir stellen fest, dass von jenem Tag an bis heute viel für die Freiheit getan wurde, aber die Welt immer noch von Ungleichheit und Unrecht dominiert wird und es immer noch ein Demokratiedefizit gibt. Es geht immer noch um die Existenz und die Freiheit. Das bekommen die Kurdinnen und Kurden, die Frauen, die Jugend und alle Unterdrückten am stärksten zu spüren. Viele Völker sind auf der Welt auf diese Weise ausgelöscht worden. Viele wurden vertrieben. Das ist die Realität, aber es gibt auf der anderen Seite auch den Kampf dagegen.
Selbst wenn man gegen das System kämpft, bleibt man in seinem Denken gefangen
Man kann nicht sagen, dass der Grund, warum die Unterdrückten bisher keinen Erfolg hatten, darin liegt, dass sie zu wenig Opfer gebracht hätten. Millionen von Menschen sterben allein im Laufe eines Krieges. Das kurdische Volk ist seit hundert Jahren einem Völkermord ausgesetzt. In diesen hundert Jahren des Völkermords wurden Millionen Kurdinnen und Kurden vernichtet. Die Armenier:innen wurden vernichtet. Aber es wurde ein Kampf für die eigene Existenz geführt. Das Problem besteht also nicht darin, dass zu wenig gekämpft wird, es ist die Frage der Mentalität, mit der man den Kampf führt. Die Herrschaft lässt heute keine anderen Mentalitäten und Gedanken jenseits der eigenen mehr zu, weil sie sich in Form des Staates sehr gut eingerichtet hat, weil sie alle Lebensbereiche ideologisch, politisch und militärisch monopolisiert und ihre Hegemonie darin geschaffen hat. Selbst wenn man gegen das System kämpft, ist es, als würde man mit den Argumenten des Systems kämpfen. Du betrachtest die Dinge vom systemischen Standpunkt, mit der Mentalität des Systems. Man will seine Ziele mit den Mitteln des Herrschaftssystems erreichen, aber das ist nicht möglich.
Der Staat gehört den Unterdrückern
Die Unterdrückten fordern in allen Teilen der Welt und zu jedem Zeitpunkt der Geschichte Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und ein menschenwürdiges Leben. Kein Herrschender will das, denn es sind die Herrschenden, die diese Probleme erst schaffen. Unterdrückte und Herrschende denken unterschiedlich und deshalb haben sie ihre eigenen Träume, gesellschaftlichen Projekte und Utopien. Sie schaffen die entsprechenden Mittel zu ihrer Umsetzung. Aus ihrem individualistischen, egoistischen und selbstbezogenen Selbstverständnis und Denken haben die Herrschenden, die alles unter ihre Macht zu bringen versuchen, den Staat hervorgebracht. Der Staat ist die am besten organisierte Institution aller machtorientierten Klassen, aller Klassen, die die Macht auf sich monopolisieren wollen. Nun mag es im Laufe der Geschichte Ausnahmen geben, aber im Allgemeinen haben fast alle, die für Gleichheit, Freiheit, Demokratie, ein menschenwürdiges Leben und Gerechtigkeit gekämpft haben, in ähnlicher Weise auf den Staat, der unter der Kontrolle der Herrschenden steht, abgezielt. Das ist den auf Ethnizität beruhenden Auseinandersetzungen, in der Tradition der Propheten und in den nationalen Befreiungskämpfen des 20. Jahrhunderts klar deutlich geworden. Wir haben diese Staatsorientierung auch in allen drei Versionen des Marxismus gesehen, durch die die Unterdrückten einen klassenorientierten globalen Aufbruch gestartet hatten. Man kann sehen, die Unterdrückten wollen normalerweise Freiheit, Gleichheit und Demokratie, aber der Staat als Mittel passt in keiner Weise zu diesem Geist, zu diesen Gedanken und Wünschen. Der Staat gehört anderen. Der Staat ist als Mittel aus dem egoistischen, individualistischen und machthungrigen Herrschaftsstreben hervorgegangen. Er gehört normalerweise den Unterdrückern. Wir können ihn uns nicht aneignen. Es wird einem die Möglichkeit genommen, anders zu denken - weil es eine ideologische Hegemonie gibt, weil es eine Aneignung der Mentalitäten gibt. Auch wenn man andere Vorstellungen hat, stellt man in diesem Zusammenhang immer wieder fest, dass man wie ein Teil der herrschenden Klasse denkt.
Kein Staat kann Gleichheit hervorbringen
Das Werkzeug des Staates, das man für eine Lösung einsetzen zu können meint, gehört einem nicht selbst. Man glaubt es nur. Rêber Apo hat zu dem Thema gesagt: „Die Mittel zur Lösung müssen so sauber sein wie das Ziel.“ Der Staat ist jedoch schmutzig, repressiv, ein Vergewaltiger und Unterdrücker. Wenn wir ihn im Kontext der Herrschaft begreifen, dann wird klar, dass er Auslöser sämtlicher sozialer Probleme ist. Deshalb kann kein Staat Gleichheit hervorbringen. Es gibt auf der Welt so viele Staaten, die von sich behaupten, sie seien demokratisch oder freiheitlich. Aber welcher Staat hat die Probleme von Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Demokratie innerhalb seiner Grenzen gelöst? Keiner von ihnen. Das geht gar nicht, weil es nicht seiner Struktur entspricht. Er ist in seiner Existenz unvermeidlich schlecht. Egal wer ihn in den Händen hält, er kann nicht gut sein. Die Geschichte hat uns hinreichend gezeigt, dass der Staat selbst in den Händen der Besten nicht gut ist. Der Realsozialismus und die nationalen Befreiungsbewegungen sind beispielhaft dafür.
Mittel müssen dem Ziel entsprechen
Die Unterdrückten, alle gesellschaftlichen Gruppen, die für Gleichheit und Freiheit eintreten, haben über die ganze Geschichte hinweg gekämpft. Sie waren aber nicht in der Lage, ein Instrument, eine Form der sozialen Organisation zu finden, das ihren Wünschen, Träumen und Utopien entspricht. Wir behaupten, dass der Demokratische Konföderalismus genau das Modell ist, das den Forderungen aller sozialen Schichten und aller Unterdrückten entspricht. Der Demokratische Konföderalismus ist nicht staatlich, es ist ein Produkt der Unterdrückten und drückt ihre Wünsche aus. Mögen die Kämpfe aller Unterdrückten nun ihr Ziel erreichen. Alle Revolutionen werden von den Völkern gemacht, aber sie erreichten nie ihr Ziel, denn sie konnten sich nicht anders als durch den Staat kanalisieren. Die Auffassung, dass es keine Organisation außerhalb des Staates geben kann, ist so dominant, dass der eigene Staat regelrecht herbeigesehnt wird. Um einem solchen Irrweg zu entgehen, muss man die Herrschaftsmentalität vollkommen hinter sich lassen und ein Werkzeug benutzen, dass dem Streben nach Gleichheit und Freiheit entspricht. Dieses Werkzeug ist das System des Demokratischen Konföderalismus. Auf diese Weise ist ein selbstorganisiertes und autarkes System außerhalb der Staaten möglich. Diese Entwicklung hat ein historisches Ausmaß.
Die Lösung liegt jenseits des Staates
Der von Rêber Apo vorgeschlagene Rahmen bedeutet, dass alle Opfer, die im Laufe der Geschichte im Kampf für demokratisch-kommunale Werte, Gleichheit und Freiheit gebracht wurden, nun zum Ziel führen. In dem Maße, in dem dies verwirklicht wird, werden die demokratisch-kommunalistischen Werte und die Ziele des Kampfes für Gleichheit und Freiheit Realität. Das ist nicht weniger als eine historische Abrechnung. Gegen das siebentausend Jahre alte hierarchisch-etatistische System wird ein System der Völker geschaffen. Dieses System richtet sich gegen die Herrschenden.
Wir sind Kurden. Wir kämpfen für unsere Existenz und Freiheit. Unser Volk soll vernichtet werden. Die Kurdinnen und Kurden leisten dagegen seit mindestens einem Jahrhundert Widerstand. Dieser Kampf kann sogar bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Das kurdische Volk hat für seinen Kampf um Leben und Freiheit Zehntausende Gefallene gegeben. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, dann kann der Genozid vollendet werden. Die Frage, ob der Genozid erfolgreich ist, hängt mit der Frage des Organisierungsgrads der Kurdinnen und Kurden zusammen. Der Kolonialismus und die hegemonialen Kräfte der kapitalistischen Moderne haben den Völkermord an den Kurd:innen beschlossen. Wenn wir uns die gegenwärtige Situation ansehen, dann basieren alle Praktiken auf dieser Grundlage.
Die PKK kämpft als führende Kraft eines existenziell bedrohten Volkes. Sie hat Zehntausende von Gefallenen in diesem Kampf zu verzeichnen. Die Gesellschaft, die sie geschaffen hat, hat sehr starke Werte. So wie die PKK nicht will, dass alle Kämpfe vor ihr umsonst gewesen sind, will sie auch nicht, dass ihr eigener Kampf scheitert. In der gegenwärtigen Situation konzentriert sich die PKK auf den Punkt, wie die kurdische Frage jenseits des Staates gelöst werden kann. So soll ihr fünfzigjähriger Kampf Früchte tragen. Dafür hat sie die Formel des Demokratischen Konföderalismus gefunden. Es handelt sich um ein eigenes System, das sich auf demokratische Autonomie stützt und in dem die Menschen in allen vier Teilen Kurdistans demokratisch-autonom leben, und ihre Freiheit sich auszudrücken und zu organisieren garantiert ist.
Wohin soll einen der Staat bringen? Das sehen wir nicht nur auf die kurdische Frage bezogen. Das sehen wir auch im Realsozialismus und in Vietnam. Wir sehen es in allen nationalen Befreiungskämpfen. Wir sehen es in jedem, der sich der Herrschaft zugewandt hat. Unabhängig davon, ob wir das Potenzial haben, einen Staat zu gründen oder nicht, unabhängig davon, ob es eine solche Möglichkeit gibt oder nicht, handeln wir in der Überzeugung, dass die Lösung der kurdischen Frage jenseits des Staates liegt, nicht im Staat.
Es muss um die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft gehen
Also was wollen wir an Stelle des Staates? Wie bereits gesagt, basiert unsere Alternative auf einem demokratisch-konföderalistischen System, das sich auf demokratische Autonomie stützt. Es geht darum, nicht im System aufzugehen. Es geht darum, dass unter den Kurden nicht neue Aghas und Unterdrücker entstehen. Die Kurdinnen und Kurden kämpften und kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie kämpfen dafür, dass ihre Existenz akzeptiert wird und sie die Möglichkeit haben, als sie selbst leben können (Xwebûn). Dem sollten die Ergebnisse entsprechen.
Es gibt auch das Beispiel Südkurdistan. Auch da stehen die Kurden einer existenziellen Frage gegenüber. Dort wurde so viel gekämpft, aber was jetzt los ist, ist für alle offensichtlich. Es ist bekannt, dass ein dynastisches System installiert wurde. Es wird von Wahlen gesprochen, aber es ist bekannt, dass eine durch und durch korrumpierte Familie dort alle Werte Kurdistans an sich gerissen hat. Es ist bekannt, dass diese Familie versucht, alle Kurden zu Kollaborateuren der kapitalistischen Moderne, des Kolonialismus und des Genozids zu machen. Damit nicht weitere solcher Krebsgeschwüre entstehen, müssen die Kurdinnen und Kurden ihren Kampf auf der Grundlage ihrer Ziele, der Freiheit und Gleichheit führen. Es muss um die Schaffung einer klassenlosen, gerechten Gesellschaft gehen. Alle Menschen müssen aktiv werden. Die Menschen müssen sich gegenseitig selbst verwalten. Sie müssen Verantwortung füreinander übernehmen. Um ein solches Ergebnis zu erreichen, ist der demokratische Konföderalismus, d.h. das demokratische konföderale Organisations- und Gesellschaftsmodell auf der Grundlage der demokratischen Autonomie unserer Meinung nach das Lösungsmodell für das kurdische Volk.