„Keine Herrscher und Beherrschten im Demokratischen Konföderalismus“

Das KCK-Exekutivratsmitglied Xebat Andok weist in einem dreiteiligen Interview auf die Bedeutung des Demokratischen Konföderalismus für den Aufbau einer Gesellschaft jenseits von Macht und Herrschaft hin.

Der Demokratische Konföderalismus als radikaldemokratische Alternative zur kapitalistischen Moderne und zur staatlichen Gesellschaft hat immer wieder bewiesen, dass er keine Utopie für eine Zeit nach der Aufhebung des staatlichen Modells ist, sondern eine Form des Selbstorganisierung und Selbstverteidigung auf der Grundlage ökologischer, frauenbefreiender und kommunalistischer Prinzipien. Die ersten praktischen Erfahrungen mit der Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus wurden in Nordkurdistan gemacht. Auf diesen Erfahrungen wurde das Modell von Rojava auf der Grundlage der Prinzipien des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan aufgebaut. Im ersten Teil des dreiteiligen ANF-Interview spricht das KCK-Exekutivratsmitglied Xebat Andok über die Bedeutung des Demokratischen Konföderalismus, seine regionalen und globalen Ansätze und das Modell der Selbstorganisierung.


Was ist Demokratischer Konföderalismus?

Der Demokratische Konföderalismus ist ein System der Organisierung der demokratischen Gesellschaft. In dieser Hinsicht handelt es sich um keine Bewegung oder Partei, sondern um ein gesellschaftliches System. Er kann sowohl in Kurdistan als auch für die Türkei, den Irak, Iran und Syrien umgesetzt werden. Wenn wir ihn erweitern, kann er auch für den Nahen Osten, Europa, ganz Amerika und Afrika eine Alternative darstellen. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) ist der Ausdruck des Demokratischen Konföderalismus in Kurdistan. Das Gleiche ist für den Iran, den Irak, Syrien oder jedes andere Land möglich. Wenn alle Völker, Ethnien, kulturellen Identitäten, religiösen Überzeugungen, kurz gesagt, alle Gesellschaften und Völker im Nahen Osten ein solches System als Grundlage nehmen wollen, dann ist es möglich, einen solchen Konföderalismus unter dem Namen „Demokratischer Konföderalismus der Völker des Nahen Ostens“ oder einem anderen Namen zu etablieren. Es wäre möglich, etwas ähnliches in den Amerikas, in Europa, Afrika oder auf anderen Kontinenten zu schaffen. Und wenn es auf der ganzen Welt eingeführt würde, würde es sich um den Weltkonföderalismus der demokratischen Völker handeln. Es ist ein System, in dem sich alle Teile der Gesellschaft, von lokal bis global, von klein bis groß, selbst organisieren und ihre Selbstverwaltung verwirklichen.

Was bedeutet das inhaltlich?

Da es sich um ein alternatives System zum bestehenden Nationalstaat und dem herrschenden etatistischen System im Allgemeinen handelt, basiert es auf der Organisierung der Bevölkerung und der Gesellschaft als Ganzes und ihrer Selbstverteidigung. Wenn wir genau hinschauen, besteht der Demokratische Konföderalismus aus zwei Grundbegriffen. Der eine ist die Demokratie und der andere ist der Konföderalismus. Der Konföderalismus ist ein sehr flexibles System von Beziehungen, das auf Freiwilligkeit beruht. Es gibt keine geschriebene Verfassung. Es gibt keine Verpflichtung. Die Kollektivität beruht ebenso wie die Trennung auf Freiwilligkeit.

Wer kommt in diesem Sinne zusammen?

Der Demos – also das Volk. Der Konföderalismus kann alle ethnischen Gemeinschaften, religiösen Überzeugungen, kulturellen Strukturen, Männer und Frauen, jede Organisierungsform, die sich zusammengeschlossen hat, um ein gesellschaftliches Problem zu lösen, und alle Komponenten der Gesellschaft umfassen. Kurz gesagt, auf dieser Grundlage regieren sich alle Teile der Gesellschaft, des Demos, des Volkes, selbst. Es handelt sich um Selbstverwaltung. Die Menschen regieren sich selbst und werden nicht von Fremden oder irgendwelchen entfernten Regierung beherrscht. Es wird ein System geschaffen, in dem alle gesellschaftlichen Bereiche im Rahmen konföderaler Beziehungen auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenkommen.

Dies basiert auf zwei Voraussetzungen: Die Gesellschaft muss sich auf allen Ebenen und mit allen Komponenten organisieren und diese organisierten Strukturen müssen sich vernetzen. Die Form der Beziehung macht den Konföderalismus aus. Es darf keine Form der Beziehung geben, die auf Unterdrückung, Gewalt oder ideologischer Hegemonie beruht. Es handelt sich um eine Union, die auf einer gleichberechtigten und freien Grundlage beruht. Dies ist die konföderale Dimension. Der andere Punkt ist, dass es sich um eine organisierte Gesellschaft handeln muss. Alle Komponenten der Gesellschaft können sich auch auf der Grundlage der kleinsten Einheiten, ihren Identitäten und Zugehörigkeiten organisieren. Sie organisieren sich autonom auf der Grundlage eines Verständnisses von lokaler Demokratie und schließen sich auf der Basis von konföderalen Beziehungen zusammen, um eine stärkere organisatorische Einheit zu schaffen. Der Demokratische Konföderalismus ist also ein System, in dem sich alle sozialen Komponenten der Gesellschaften in Kurdistan, der Region und der Welt selbst organisieren und sich gleichzeitig durch ihre Beziehungen zueinander als eine Entität jenseits der Staaten selbst konstituieren. Es handelt nur um eine lokale und gleichzeitig globale Form der Organisierung. Dieses System richtet sich an die Menschen in Kurdistan und der Region, aber auch an alle Unterdrückten der Welt.

Wie kann aber so eine organisierte demokratische Gesellschaft geschaffen werden?

Es handelt sich nicht um eine Form der Organisierung, die auf einem zentralisierten Parlamentarismus beruht. Stattdessen wird die klassische Staatsform vom Kopf auf die Füße gestellt. Der Demokratische Konföderalismus geht von der kleinsten Einheit wie einem Dorf, einem Ort, einer Straße, der Organisierung eines Viertels, einer Fabrik oder eines Hauses aus. Kurzum, er stützt sich auf die Organisierung aller Bereiche, in denen Menschen zusammenkommen.

Von der Kommune zum Kongress der Völker

Die kleinste Organisationseinheit ist die Kommune. Die Kommune beschäftigt sich mit allen Bereichen des Lebens und stellt die kleinste Einheit der direkten Demokratie dar, in der sich die Menschen selbst verwalten. Die Kommune ist der kleinste Rat. Im KCK-Gesellschaftsvertrag oder in der bestehenden Theorie des Demokratischen Konföderalismus entspricht die Kommune daher einer Dorfversammlung, in der Straßen- und Dorforganisierungstrukturen zusammenkommen. Auf einer weiteren Ebene kommen Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen zusammen und bilden beispielsweise einen Rat für das Wohnviertel oder die Gemeinde. Es geht darum, dass alle Probleme als gemeinschaftliche Probleme, die kollektiv gelöst werden müssen, betrachtet werden. So gibt es dann weitere Ebenen, vom Stadtrat über den Provinzrat, bis hin zum Regionalrat. Darüber stünde dann beispielsweise der Volksrat eines Landes. Das sollte länderübergreifend passieren. Der Volkskongress wäre dann das Entscheidungsorgan einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder eines Volkes. Wenn es sich um mehrere Völker handelt, soll ein Kongress der Völker gebildet werden. Im breitesten Sinne kann man sagen, dass ein Kongress aller Völker der Welt durchgeführt wird, wenn globale Entscheidungen getroffen werden müssen.

Ein System direkter und radikaler Demokratie

Es handelt sich also um ein Rätesystem und nicht um ein Parlament. Zum Beispiel gibt es in der Türkei ein Parlament. Alles wird verordnet. Das ist etwas ganz anderes. Wenn wir von Kurdistan oder von der Türkei sprechen, dann geht es uns nicht um zwei, drei oder fünf Räte. In Deutschland gibt es beispielsweise Föderalismus und mehrere Parlamente. Auch in den USA gibt es einen Föderalismus und mehr als ein Parlament. Aber der Demokratische Konföderalismus unterscheidet sich auch davon. Es handelt sich um ein System, an dem Tausende, vielleicht Zehntausende von Räten und Kommunen beteiligt sind, die alle ihre Probleme in ihrem eigenen Gebiet erörtern und Lösungen zu finden versuchen, aber gleichzeitig miteinander vernetzt sind. Deshalb ist der Demokratische Konföderalismus auch ein Rätesystem. Es ist ein System der direkten Demokratie. Es ist ein System, in dem niemand über andere herrscht und alle sich selbst und die Gemeinschaft verwalten. Es handelt sich um kein System, in dem einige das Sagen haben und andere regiert werden. Alle regieren und werden regiert. Es ist ein System, in dem alle entsprechend der Definition eines politischen und moralischen Menschen über die Probleme der Gesellschaft nachdenken, nach Lösungen suchen, sprechen, diskutieren, Entscheidungen treffen und jemanden beauftragen, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Es ist ein System, in dem die Autorität und die Macht vollständig in den Händen des Volkes liegen und direkte Demokratie verwirklicht ist. Da sie nicht staatlich ist, kann sie auch als radikale Demokratie bezeichnet werden.

Freiheit und Einheit der Unterschiedlichkeiten

Man kann das Modell auch als kommunale Demokratie bezeichnen, weil es sich um eine kommunale Haltung und ein kommunales Leben handelt. Demokratie wird hier nicht nur in Form von erhobenen und gesenkten Händen oder als Mitspracherecht bei Entscheidungen verstanden. Auch der Geist und das Leben in diesem Modell sind anders. Das Leben basiert auf freien, gleichberechtigten Beziehungen. Nochmals, wenn man es in einem Satz ausdrücken will: Es handelt sich um ein System, in dem es eine gleichberechtigte Einheit der Unterschiedlichkeiten gibt. Es gibt eine Einheit. Denn die Gesellschaft muss eine Einheit bilden in der Frage nach dem Wer und dem Was, eine Einheit der Unterschiede. Alle Identitäten bewahren ihre eigenen Unterschiedlichkeiten. Die Menschen werden nicht wie in Nationalstaaten als gleichwertige bzw. gleich bedeutungslose Objekte betrachtet. Es soll im Demokratischen Konföderalismus nicht einige Subjekte und sonst Objekte geben. Es soll keine Herrscher und Beherrschten geben. Alle sollen ihre Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit leben. Auf der anderen Seite ist die Art der Beziehung zwischen den Menschen von Gleichberechtigung geprägt. Es gibt keine Überlegenheit einer Identität gegenüber einer anderen. Der Demokratische Konföderalismus kann also auch als die gleichberechtigte Einheit der Unterschiedlichkeiten definiert werden.