Der 16. September 2022 gilt als Beginn der „Jin Jiyan Azadî“-Revolution in Rojhilat (Ostkurdistan) und Iran. Heute vor einem Jahr starb die 22-jährige Kurdin Jina Mahsa Amini aus Seqiz an den Folgen ihrer Misshandlung durch die iranische Sittenpolizei in einem Krankenhaus in Teheran. Peyman Viyan, Koordinationsmitglied der Gemeinschaft Freier Frauen Ostkurdistans (Komelgeha Jinên Azad a Rojhelatê Kurdistan, KJAR), hat sich aus Anlass des Jahrestages gegenüber ANF zu den Hintergründen und Zukunftsaussichten der Aufstände geäußert.
Die aufgestaute Wut der Frauen ist explodiert
Peyman Viyan begann ihre Ausführungen mit dem Gedenken an Jina Amini und alle Gefallenen der Revolution und erklärte: „Wir haben ein Jahr der großen Kämpfe, des Widerstands und des Beharrens auf Freiheit hinter uns gelassen. Natürlich war es auch ein Jahr, in dem ein hoher Preis gezahlt wurde. Die Völker von Rojhilat und Iran haben gesehen, dass die Freiheit einen hohen Preis fordert. Aber wie hoch der Preis auch sein mag, sie beharren auf der Freiheit. Sie haben bewiesen, dass sie Freiheit erkämpfen können.
Die Völker von Rojhilat und Iran haben Erfahrung im Kampf. Im Jahr 2022 haben sie deutlich gezeigt, dass sie nicht zurückweichen werden, bis sie die Freiheit erreicht haben. Denn sie wissen, dass ein Rückschritt für sie den Tod bedeutet. Das ist sehr wichtig. Nach dem Tod von Jina Amini gab es eine große Explosion. Was hier explodierte, waren der Groll, die Wut und der Hass, den die Frauen seit Jahren gegen das System der Unterdrückung aufgestaut hatten. Diese Wut verbreitete sich nicht nur in Rojhilat, sondern an einem Tag in allen Städten des Iran. Das zeigte, dass die Probleme und Sorgen aller Frauen und jungen Menschen die gleichen sind. Deshalb gab es eine so große Explosion. Der Aufstand war so wirkungsvoll, weil er auf einem Paradigma beruhte. Die Frauen und Jugendlichen gingen mit einem Ziel auf die Straßen und wussten, was sie taten. Die Revolution wurde von Frauen mit dem Slogan Jin-Jiyan-Azadî angeführt.
Mehr als ein Slogan
Jahrelang wollte das nationalstaatliche System die Bedeutung von Jin-Jiyan-Azadî mit einer patriarchalischen Mentalität zerstören und die Verbindung zu den Frauen kappen. Doch in der Revolution wurde die Verbindung zwischen den Frauen und dem Leben wieder sinnvoll. Die Fragen nach der Bedeutung der Frau und ihrer Verbindung mit dem Leben wurden erneut beantwortet. Jin-Jiyan-Azadî ist mehr als ein Slogan geworden, es hat sich als revolutionäre Philosophie, als eine Lebensphilosophie und sogar eine neue Renaissance im Iran, in Rojhilat und im Nahen Osten verbreitet.
Angeführt von Frauen, entstanden in Rojhilat
Die Revolution hat zwei sehr wichtige Punkte. Erstens waren Frauen die Vorreiterinnen, und zweitens ist sie in Rojhilat entstanden. Mit der Jin-Jiyan-Azadî-Revolution wurde zum ersten Mal die Grenze aufgehoben, die das Regime jahrelang zwischen den Völkern gezogen hatte. Denn die Menschen, die sich an der Revolution beteiligten, hatten alle das gleiche Problem. Deshalb konnten sie sich dem Regime nur mit einem gemeinsamen Kampf für ein neues Leben und Freiheit entgegenstellen."
Alle haben sich an dieser Revolution beteiligt
Peyman Viyan betonte, dass die Jin-Jiyan-Azadî-Revolte als Frauenrevolution begann, sich aber im Laufe der Zeit zu einer sozialen Revolution entwickelte: „Wenn diese Revolution nicht unter der Führung von Frauen begonnen hätte, hätte sie sich nicht so stark verbreitet. Denn die Frauen sind die Wegbereiterinnen der Gesellschaft, die Farbe des Lebens. In der Person der Frauen wurde ein Sklavenleben geschaffen, und als es einen von Frauen angeführten Aufstand gab, fanden alle einen Platz darin. Alle hatten eine Revolution. Arbeiter, Lehrkräfte, Kunstschaffende nahmen an der Revolution teil, die Jugend spielte eine große Rolle. Deshalb wurde sie zu einer Revolution der Mentalität. Es wurde nicht nur ein Mentalitätswandel herbeigeführt, und dieser Wandel dauert an, sondern es wurde auch eine politische, kulturelle und soziale Revolution. Sie umfasste alle, alle konnten sich darin wiederfinden. Die Völker von Rojhilat und Iran, angeführt von den Frauen, akzeptierten die Fortsetzung des Systems in dieser Form nicht. Sie befanden sich bereits auf der Suche, es war nur noch nicht bekannt, wo und wie es explodieren würde. Diese Revolution kann sich noch jahrelang hinziehen, aber sie hat ihren Zweck, ihre Philosophie und ihr Paradigma deutlich gezeigt. Deshalb sagen wir: Ja, die Revolution begann unter der Führung von Frauen, aber alle haben sie angenommen.
Was das iranische Regime jahrelang befürchtet hat, ist eingetreten
In der Revolution, die von Frauen angeführt wurde, gingen auch Männer auf die Straße und kämpften, und in den Schulen und Universitäten nahmen alle an der Revolution teil. Es ist sehr wichtig, was die Errungenschaften dieser Revolution sind und wie sie durch diese Errungenschaften weitergehen wird. Nach Jina Amini starben hunderte weitere Menschen und tausende wurden verhaftet. Der Iran wollte die Revolution unterdrücken und alle zum Schweigen bringen. Denn das, was das iranische Regime befürchtet hat, ist eingetreten. Jahrelang wurde alles dafür getan, damit die Jugend, die Bevölkerung, die Frauen kein Bewusstsein erlangen, nicht aufstehen, nicht für ihre Rechte auf die Straßen gehen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Frauen und Jugendliche aus allen Nationen sind gemeinsam auf die Straße gegangen. Sie haben einen gemeinsamen Kampf geführt und ihre Probleme und Forderungen vorgebracht. Denn sie wissen, dass sie ihre Freiheit erkämpfen müssen.
Es ist eine Kultur des Widerstands entstanden
Je bewusster die Frauen, die Jugend und die Gesellschaft werden, desto schwächer wird das Regime werden und die Revolution wird erfolgreich sein. Zweifellos ist es notwendig, für alles zu kämpfen, und es wird ein hoher Preis dafür gezahlt. Jeder junge Mensch, jede Frau, die auf die Straße ging, war sich bewusst, dass sie Tod, Verhaftung und Folter riskieren. Sie sind auf die Straßen gegangen und haben all diese Kosten in Kauf genommen. Das ist sehr wichtig. Diese Situation hat eine Kultur des Widerstands geschaffen. Vor allem bei den Familien der Gefallenen haben wir gesehen, welche Art von Widerstand sie leisteten, wie die Familien ihre Kinder umarmten, wie sie eine Rolle spielen sollten. Das schuf eine Kultur des Widerstands. Als das Regime die Aufständischen mit Hinrichtungen einschüchtern wollte, wurden die Kerker zu Orten des Widerstands. Hunderte von Frauen wie Zeynab Jalalian leisten immer noch Widerstand im Gefängnis. Zeynab Jalalian leistet seit 16 Jahren ununterbrochen Widerstand, und sie hat keine einzige Minute bereut. Sie beharrt auf ihrer Freiheit. Dank des Widerstands dieser Frauen ist die Jin-Jiyan-Azadî-Revolution ausgebrochen. Diejenigen, die wie Zeynab 16 Jahre lang Widerstand geleistet haben, wissen, dass dieses System eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden wird, koste es, was es wolle."
Die Bevölkerung hat ihre Stärke erkannt
Peyman Viyan erklärte, der iranische Staat habe erkannt, dass er den Willen der Menschen nicht länger brechen und sie unter Androhung von Hinrichtung, Folter, Verhaftung und Mord gefangen halten könne: „Die Jin-Jiyan-Azadî-Revolution hat den Widerstand auf den Höhepunkt gebracht. Es entstand ein gemeinsamer Geist. Alle haben erkannt, dass sie nur erfolgreich sein können, wenn sie sich zusammenschließen. Belutschen, Kurdinnen, Aseri, Perserinnen, allen wurde klar, dass ihre Probleme die gleichen sind, und es entstand eine gemeinsame Kultur. Ja, es wurde jahrelang gekämpft, oft gab es Aufstände in Belutschistan und Kurdistan, aber mit dem letzten Aufstand gab Belutschistan Kurdistan eine Stimme, Aserbaidschan gab Belutschistan eine Stimme. Hier wurde eine gemeinsame Kultur geschaffen, und auf dieser Grundlage wird die Revolution weitergeführt.
Jin-Jiyan-Azadî hat Hoffnung und Überzeugungen geschaffen
Jin-Jiyan-Azadî hat auch Hoffnung und Überzeugungen geschaffen. Das ist bei Revolutionen sehr wichtig. Das ist auch der Grund, warum sie so lange andauert. Die Menschen sind davon überzeugt, dass das Regime so nicht weitergehen kann. Sie erkannten, wie groß die Macht des Volkes war, die unter der Führung von Frauen und Jugendlichen entstand, und dass sie mit dieser Macht Dutzende von Diktatoren stürzen konnten. Das schuf Glauben, Hoffnung und Kraft. Das Ziel von Regimen und Staaten ist es, dem Widerstand Hoffnung und Glauben zu nehmen. Aber diese Revolution schuf Hoffnung und Glauben. Deshalb hat sie alle Völker erfasst.
Die Angst verloren
Der iranische Staat, der Hunderte von Menschen in der Revolution massakriert hat, verhaftet zurzeit Angehörige von Gefallenen, die ihre Kinder und die Revolution beschützen. Derzeit werden aus jeder Familie zwei bis drei Personen festgenommen, gefoltert und verhaftet. Der Iran droht allen, die auf die Straße gehen, die sich erheben und für die Revolution einsetzen, dass dies ihr Ende sein wird. Aber dieser Staat übt diese Unterdrückung seit 44 Jahren aus. Die Völker, die unter Unterdrückung und Verfolgung leben, wissen das bereits. Sie haben keine Angst davor.
Die Opfer dürfen nicht vergeblich sein
Tausende von jungen Frauen wurden vergiftet, Frauen wurden verhaftet, gefoltert und ermordet. Der Staat wollte sich auf diese Weise rächen. Aber trotz alledem konnte er diese Revolution nicht aufhalten. Die Unterdrückungspolitik des iranischen Staates ist zusammengebrochen. Er kann mit dieser Politik nicht gegen die Völker bestehen. Deshalb ist das zweite Jahr der Revolution sehr wichtig. Welche Art von Kampf werden wir führen, wie werden wir diese Revolution fortsetzen? Die Revolution kann nicht in wenigen Monaten vollendete Tatsachen hervorbringen. Denn, wie ich schon sagte, es ist eine Revolution der Mentalität, eine politische Revolution, eine soziale Revolution, und sie muss weitergehen. Das Wichtigste ist, dass wir uns gut auf diese Revolution vorbereiten. Es muss eine starke Organisation geben. Die gezahlten Preise dürfen nicht umsonst sein.
Damit das Feuer der Rebellion nicht erlischt
Es ist sehr wichtig, im zweiten Jahr der Revolution vereint zu sein. Vor allem die Frauen müssen geeint sein. Mit einem besser organisierten, bewussteren, besser ausgebildeten und stärkeren Kampf können wir verhindern, dass das Feuer der Rebellion erlischt. Lehrerinnen und Lehrer haben eine sehr wichtige Rolle in den Schulen. Alle in den Schulen und Universitäten müssen ihre Rolle spielen. Es muss eine sehr starke Einheit in der Gesellschaft und einen gemeinsamen Kampf geben. Wenn der Kampf zersplittert ist, kann er keine Ergebnisse erzielen, aber wenn es einen gemeinsamen Kampf gibt, ist der Erfolg unvermeidlich. Das sollte das Ziel sein. Als KJAR ist unser Hauptziel die stärkere Organisation und Einheit der Frauen im zweiten Jahr der Revolution. Dafür haben wir jahrelang gekämpft und einen hohen Preis gezahlt. Wir müssen den Charakter, den die Revolution geschaffen hat, verteidigen und ausbauen. Eine starke Frauenfront ist notwendig. Wir sehen diese Notwendigkeit als sehr wichtig an und wir kämpfen und unternehmen Anstrengungen dafür. Belutschische, aserbaidschanische, kurdische, arabische und persische Frauen müssen gemeinsam in einer starken und demokratischen Front für die Freiheit kämpfen.
Eine Revolution, die nicht von Frauen angeführt wird, ist zum Scheitern verurteilt
Als Frauen sollten wir nicht länger zulassen, dass Männer über unser Leben entscheiden. Frauen haben so viel gekämpft, so viel bezahlt, die Männer sollten nicht allein entscheiden. Dafür kämpfen wir jetzt, und als Frauen werden wir unseren Kampf in allen Bereichen des Lebens fortsetzen. Eine Revolution, die nicht von Frauen angeführt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hat das jahrelang betont. Er sagte, dass die Gesellschaft nicht befreit werden kann, wenn die Frauen nicht befreit werden. Dies zeigt sich auch am Charakter der Revolution in Rojhilat und im Iran. Wenn also die Frauen ihre Rechte erlangen und befreit werden, wird die gesamte Gesellschaft befreit sein. Die Freiheit aller Völker geht über die Freiheit der Frauen. So wie die Probleme der Frauen die Probleme der ganzen Gesellschaft sind, bedeutet die Befreiung der Frauen die Befreiung der Gesellschaft. Im zweiten Jahr der Revolution, egal wie groß die Unterdrückung und Verfolgung durch das Regime ist, sollten unser Widerstand und unser Kampf mindestens genauso groß sein. Unser Kampf wird weitergehen, egal was passiert."