Abdullah Öcalan hat sich ungefähr zwanzig Jahre in Syrien und Libanon aufgehalten. In Rojava, Aleppo und Damaskus hat er die Bevölkerung organisiert und wichtige Bildungsarbeit geleistet. An der Mahsum-Korkmaz-Akademie im Libanon sind unter seiner Ägide Tausende PKK-Militante und Sympathisant:innen ausgebildet worden. Durch diese Arbeit ist die Realität kämpfender Frauen und eines kämpfenden Volkes entstanden.
Muhammed Ali hat die PKK 1984 kennengelernt und war 1988 zum ersten Mal an der Mahsum-Korkmaz-Akademie. Nach dieser Ausbildung betätigte er sich als „Frontarbeiter“ in der gesellschaftlichen Organisierung. Heute ist er 58 Jahre alt und setzt seinen Kampf fort. Für ANF berichtet er, wie er Abdullah Öcalan (Rêber Apo) erlebt und welche Wirkung der PKK-Gründer bei ihm hinterlassen hat:
„Ihr müsst einen Plan haben“
Wir gingen zu Rêber Apo. Er fragte, ob wir schon gegessen hätten. Als wir bejahten, bestellte er Tee für uns. Der Tee wurde gebracht und Rêber Apo selbst servierte ihn uns. Das überraschte mich, weil ich zum ersten Mal sah, dass eine Führungspersönlichkeit einen solchen Dienst erweist. Wir hatten bisher nur die Vorsitzenden anderer Parteien oder irgendwo im Ausland gesehen. Sie alle ließen sich bedienen, aber unser Vorsitzender bediente uns.
Die Freunde hatten Rêber Apo von mir erzählt und er fragte: „Bist du Muhammed Ali?“ Ich sagte ja und er stellte gleich noch eine Frage: „Wer von uns beiden ist jünger?“ Ich antwortete, dass ich es nicht weiß. Er fragte nach meinem Alter, ich war damals 25 Jahre. Daraufhin sagte er: „Weißt du, wie alt ich bin? Ich bin 42. Ihr tötet euch selbst. Macht euch einen täglichen Plan, ihr müsst ein System haben. So könnt ihr eure Lebensdauer nutzen. Bei mir geht keine Minute ins Leere. Ich stehe morgens auf, mache Sport und frühstücke. Dann gehe ich zum Unterricht. Danach mache ich wieder Sport. Mein ganzes Leben ist geplant. Bei euch ist das anders. Ihr nehmt ein Buch, lest eine Seite und legt es wieder weg, um ein anderes Buch zu öffnen. So geht das nicht.“
Kein Satz war umsonst
Ich bin 45 Tage an der Mahsum-Korkmaz-Akademie ausgebildet worden. An der Schulung haben hochrangige Mitglieder der PKK-Leitung, Kader und Sympathisanten wie ich teilgenommen. Rêber Apo hat alle gleich behandelt, er machte keine Unterschied.
Bei ihm gab es wirklich keine Minute Stillstand. Er arbeitete immer. Morgens fing nach dem Sport und dem Frühstück um acht Uhr der Unterricht an. Auch beim Unterricht machte er keine Pause, er begann morgens und dauerte ohne Unterbrechung bis zum Mittag. Nach dem Essen war wieder Sport und zwischen 20 und 22 Uhr wurden die Praxisberichte der Freundinnen und Freunde gelesen. Fast der gesamte Unterricht wurde von ihm gegeben. Die Freundinnen und Freunde filmten den gesamten Unterricht und machten später Bücher daraus. Kein Satz von ihm war umsonst.
Materielle und ideelle Werte
Rêber Apo war sehr empfindlich, was materielle und ideelle Werte anging. Eines Tag stieß er beim Gehen gegen einen Stein und unter dem Stein kam ein bisschen Reis zum Vorschein. Er sagte zu mir: „Hol einen Teller und sammele den Reis auf.“ Nachdem ich das getan hatte, sagte er: „Geh in die Akademie und sammele die Freundinnen und Freunde zusammen.“ In der Akademie sagte er zu allen: „Wisst ihr, wem dieser Reis gehört? Diese Reiskörner gehören Mazlum, Kemal, Akif, Hayri... wie könnt ihr sie einfach fallen lassen?“ Er fragte, wer den Reis verschüttet hat. Ein Freund stand sofort auf und sagte, dass er es war. An der Akademie lief alles offen ab. Jeder stand zu seinen Fehlern, niemand verleugnete seine Fehler und Schwächen.
Das herrschende System erkennen
Ein großer Teil von Rêber Apos Unterricht behandelte den Kapitalismus. Er versuchte uns begreiflich zu machen, wie das herrschende System das gesellschaftliche Leben zerstört. Er sagte: „Ihr müsst wissen, wer die Gesellschaft zerstört und durcheinander bringt und wer dem Volk schadet und sich dabei verbirgt. Ihr müsst erkennen, um was für ein System es sich dabei handelt.“ Er erzählte von der Zivilisationsgeschichte bis zur Gründung der Nationalstaaten. „Wenn du gegen diese Staaten kämpfst, musst du sie genau kennen“, wiederholte er.
„Mit unserer Revolution werden alle Völker befreit“
Rêber Apo maß allen Völkern großen Wert bei. Er arbeitete für alle Völker. Ich habe nie gesehen, dass er einen Unterschied zwischen den Völkern gemacht hat. Nie habe ich miterlebt, dass er schlecht über ein Volk redete und feindselig war. Im Unterricht hat er kein einziges schlechtes Wort über die Türken, die Araber oder ein anderes Volk gesagt. Er sprach immer nur über das System und den Staat, der die Gesellschaft verdirbt und die Völker gegeneinander aufhetzt. Dabei betonte er folgendes: „Wenn unsere Revolution erfolgreich ist, werden alle Völker befreit. Ihre Befreiung hängt von unserer Revolution ab. Die Befreiung der türkischen, arabischen, tscherkessischen, palästinensischen und sogar europäischen Völker ist mit dem Sieg unserer Revolution verbunden.“
Die arabische Gesellschaft wertschätzen
Auch der erste arabische Gefallene der PKK, Aziz Arap, war mit uns an der Akademie. Über ihn sagte Rêber Apo: „Seht, er hat sich der PKK angeschlossen, denn das arabische Volk sieht seine Rettung in der PKK. Wenn ihr die arabische Gesellschaft wertschätzt und mehr an ihrer Organisierung arbeitet, werden noch viel mehr Menschen der PKK beitreten, denn sie haben ein Bedürfnis nach der Revolution und Freiheit.“ Den Fehler sah er bei den Frontarbeitern und den Kadern. Wir würden nicht genug dafür tun, die arabische Bevölkerung zu organisieren, und das sei unser Fehler, sagte er.
„Die Frauen äußerten harte Kritik“
Durch den Unterricht haben sich meine Persönlichkeit und meine Denkweise geändert. An der Akademie habe ich zum ersten Mal erlebt, dass Frauen Unterricht geben, zur Leitung gehören und Waffen benutzen. Bei der Ausbildung wurde Kritik und Selbstkritik geleistet. Die Freundinnen standen auf und äußerten harte Kritik. Ich habe an der Akademie Demokratie, Gleichheit und das Leben gesehen. Mir ist die Stärke von Frauen bewusst geworden. Bei Rêber Apo gab es keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Er wollte bei der Frauenbefreiung helfen. Damals gab es nur wenige Frauen. Rêber Apo gab sich mit ihrer Ausbildung besondere Mühe. Er arbeitete daran, die Frauenarmee und die Bewegung zu vergrößern. Er redete ständig mit ihnen und bildete sie weiter.
Kollektives Bewusstsein
An der Akademie gab es wirkliche Gleichheit. Alles wurde geteilt und alle waren gleichberechtigt. Gab es ein Brot, gehörte es allen, bestand ein Bewusstsein, bestand es bei allen. Auch die Fehler und Schwächen betrafen alle. Wenn jemand etwas falsch machte, sagte Rêber Apo zu uns: „Dieser Freund hat einen Fehler gemacht. Warum habt ihr ihm nicht geholfen, damit das nicht passiert?“ Gab es an der Akademie einen Freund mit einem schwachen Bewusstsein oder anderen Fehlern, rief Rêber Apo einen anderen Freund und sagte: „Wenn du über ein Bewusstsein verfügst, wirst du auch diesen Freund so bewusst und stark wie dich selbst machen.“ Damit motivierte er dazu, sich um den Freund zu kümmern und sich mit ihm zu beschäftigen.
Er wollte, dass alle Militanten und Patrioten sich weiterentwickeln. Niemand sollte schwach und ohne Bewusstsein bleiben. Um Gleichheit herzustellen, versuchte er alle zu stärken. Dank seines Systems haben sich an der Akademie alle gegenseitig weitergebildet und gestärkt. Alle hatten miteinander zu tun. Wenn sich jemand über etwas ärgerte und bedrückt war, versuchten die anderen, das Problem zu verstehen und bei einer Lösung zu helfen.
„Wer sein Land liebt, muss es kennen“
Rêber Apo wollte, dass wir uns ständig weiterbilden. Wir sollten immer Bücher lesen. Kurdisch war ihm sehr wichtig. Es gab auch kurdischen Unterricht an der Akademie. Ich habe dort Lesen und Schreiben auf Kurdisch lernen. Außerdem wollte er, dass wir jeden Ort in Kurdistan kennen. Er sagte: „Als ein Mensch, der sein Land liebt, musst du seinen Boden Schritt für Schritt kennenlernen. Erst wenn du es kennst, kannst du auch etwas für dein Land tun.“
Er vermittelte eine wirklich große Liebe zum Land. Damals hatte der Feind die Liebe zum Land abgetötet, er ließ nicht zu, dass zwei Patrioten zusammen kommen. Wenn man von Kurdistan oder der kurdischen Sache sprach, galt das als Straftat. Man durfte nur sagen, dass man Türke, Araber oder Perser ist. Rêber Apo sagte: „Um euch von dieser Krankheit zu befreien, müsst ihr euch bilden. Und was ihr dadurch lernt, müsst ihr in die Praxis umsetzen.“
Nach welchem Ort in Kurdistan man auch fragte, er kannte sie alle. Das war ein Bestandteil seiner Liebe zum Land. „Um für Kurdistan zu arbeiten, muss man selbstlos und opferbereit sein, und man muss von unserer Bewegung überzeugt sein. Wenn du nicht an die Bewegung glaubst, kannst du nicht mit uns laufen und keine Arbeit machen. Ich gebe euch alles, was ihr für euer Bewusstsein und eure Arbeit braucht“, sagte er.
„Natürlich habe ich mich verändert“
In der Ausbildung ging es vor allem um die Persönlichkeit. Er schuf eine neue Persönlichkeit. „Wer unsere Ethik nicht annimmt, wird in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert werden und kann nicht in der Bevölkerung arbeiten“, sagte er, und dass die kurdische Persönlichkeit verloren gegangen ist. Er erschuf eine neue sozialistische und revolutionäre Persönlichkeit. Zum Beispiel gab es auch bei mir und allgemein in der Gesellschaft einen extremen Familienbezug, ein Stammesdenken. Nach der Schulung von Rêber Apo habe ich mich sehr verändert. Meine Familie, mein Umfeld, alle nahmen diese Veränderung wahr. „Du bist nicht wie früher, dein Denken hat sich verändert“, sagten sie. Und ich antwortete: „Natürlich bin ich nicht wie früher, ich bin von Rêber Apo und der PKK ausgebildet worden.“
Gegen das Angriffsprojekt standhalten
In der Zeit, in der ich von Rêber Apo ausgebildet wurde und mit ihm gearbeitet habe, sind mir viele Dinge aufgefallen. Vieles geht mir immer noch durch den Kopf. 1991 sprach er über den heutigen Krieg und sagte: „Die Mittelostpolitik des Kapitalismus ist festgefahren. In den kommenden Zeiten wird es sehr ernste Angriffe auf unsere Bewegung und mich geben. Wenn es zu einem großen Krieg kommt und wir uns nicht gut organisiert haben, werden wir nicht einmal etwas zum Essen finden. Aber ich bin von dieser Bewegung überzeugt. Sie wird sich organisieren und auch gegen dieses Angriffsprojekt standhalten. Der Schwerpunkt dieser Angriffe wird sich gegen unsere Bewegung und mich richten.“ Daran erinnere ich mich noch, als wäre es heute gewesen. Ich glaube, dass er schon damals von dem späteren internationalen Komplott ahnte.
„Wenn wir uns gut organisieren“
Auch an dem Tag, als er gefangen genommen wurde, musste ich daran denken, was er uns gesagt hatte. Wir waren in der Akademie im Libanon. Für Rêber Apo standen die Organisierung und die Bildung im Mittelpunkt seiner Arbeit. Er arbeitete ständig daran, die Bewegung zu vergrößern. Im Unterricht sprach er über den heutigen Krieg, also den dritten Weltkrieg und den Krieg gegen unsere Bewegung. Er sagte: „Wenn wir nicht stärker werden, uns nicht gut organisieren und unsere Bewegung nicht vergrößern, werden wir verlieren. Wenn wir uns jedoch gut organisieren, werden Amerika und die ganze Welt zu uns kommen.“
„Du entdeckst die Kraft in dir selbst“
Ich lese die Verteidigungsschriften, die Rêber Apo auf Imrali geschrieben hat. Das fünfte Buch habe ich hier. Wenn ich nicht täglich zwei Stunden darin lese, kritisiere ich mich selbst. Die Kurden werden seit einem Jahrhundert isoliert. Diese Isolation wird heute gefährlicher denn je gegen Rêber Apo und das kurdische Volk eingesetzt. Das betrifft jedoch nicht nur die Kurden, sondern das arabische, das türkische und alle anderen Völker der Region. Es soll verhindert werden, dass das Modell der demokratischen Moderne und einer demokratischen Nation, das Rêber Apo als Alternative zur kapitalistischen Moderne vorgelegt hat, Verbreitung findet. Es soll Blut vergossen werden. Als Völker der Region und vor allem als Kurden müssen wir gegen die Isolation und das Foltersystem auf Imrali aufbegehren und kämpfen. Gleichzeitig müssen wir unsere Revolution weiterentwickeln. Wir müssen die Verteidigungsschriften von Rêber Apo und seine früheren Bücher lesen und dafür sorgen, dass sie gelesen werden. Wer diese Bücher liest, lernt etwas über sich selbst. Man lernt etwas über das kapitalistische System, das die Völker, die Frauen und die Werktätigen foltert. Und du entdeckst in dir selbst die Kraft, gegen dieses System zu kämpfen.