Murat Karayilan hat sich als Mitglied des Exekutivkomitees der PKK im Radiosender Dengê Welat zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt des Interviews, in dem es um die Auswirkungen des erfolgreichen Widerstand der HPG-Guerilla gegen die türkische Invasion in der südkurdischen Region Gare im vergangenen Februar geht. Karayilan geht auf die Beziehungen zur PDK und die Perspektive der PKK auf den dritten Weltkrieg im Mittleren Osten ein. Für ihn stellt sich die Frage, ob es den Kurdinnen und Kurden gelingen wird, Raum für sich im neuen politischen System des 21. Jahrhunderts zu schaffen.
Hat sich nach dem Widerstand in Gare die Haltung der PDK zur kurdischen Befreiungsbewegung geändert? Gibt es Gespräche zwischen Ihnen und der PDK?
Der Sieg in Gare war ein Erfolg für das gesamte kurdische Volk, denn der Feind wollte dort Resultate erzielen und seine Herrschaft in der Region ausweiten. Das ist ihm nicht gelungen, er war erfolglos. Darüber hinaus hat der türkische Staat extrem übertrieben und so getan, als könnte er jeden Ort nach Wunsch einnehmen und niemand könnte ihn daran hindern. Die Niederlage der türkischen Armee in Gare hat gezeigt, dass das nicht der Realität entspricht. Wenn die Armee einem starken Willen gegenübersteht, sind ihre Soldaten und ihre technologischen Mittel gar nicht so stark. Diese Tatsache ist in Gare deutlich geworden. Natürlich ist dadurch auch die kurdische Politik gestärkt worden. Genauso war es 2008, als der Feind in der Zap-Region zurückgeschlagen wurden und die kurdische Politik gestärkt wurde. Der Erfolg in Gare hat dieselbe Rolle gespielt. Der dortige Widerstand wird von allen Seiten kommentiert, das gilt nicht nur für die Kurden, sondern für alle Kräfte in der Region. Alle richten ihre Politik auf der Grundlage der in Gare geschaffenen Fakten aus und nehmen entsprechende Veränderungen vor. Wir befinden uns jedoch nicht nur hinsichtlich der in Gare entstandenen Ergebnisse in einer sehr wichtigen und sensiblen Zeit, das ist grundsätzlich so. Wir glauben, dass beides einen positiven Effekt auf die kurdische Politik hat.
Um zu Ihrer Frage zu kommen: Es gibt im Moment keine Kontakte zur PDK, die der Rede wert wären, aber es geht auch nicht nur um Gespräche und Beziehungen. Wichtig ist vielmehr, dass die entstandene Atmosphäre von allen verstanden wird. Wir glauben, dass zu diesem Thema eine bestimmte Ebene erreicht werden wird.
Auch nach dem Aufruf zur Einheit, den Ihre Bewegung gemacht hat, kommt es zu Angriffen der PDK auf Guerillagebiete. Wie ist das zu verstehen?
Zunächst müssen wir die Zeit verstehen, in der wir uns befinden. Im Mittleren Osten findet der dritte Weltkrieg statt. Dieser Krieg verfolgt die Absicht, das politische System des 20. Jahrhunderts zu ändern und an seiner Stelle das System des 21. Jahrhunderts zu etablieren. Bekanntlich hatten die Kurden im System des 20. Jahrhunderts keinen Platz. Mit dem Abkommen von Lausanne sind die Existenz und die Rechte der Kurden verleugnet worden. Natürlich hat unser Volk nicht dazu geschwiegen. Daher finden seit hundert Jahren Kriege in Kurdistan statt. Es ist Blut vergossen worden und es haben sehr tragische Vorfälle stattgefunden. Unser Volk leistet trotzdem weiter Widerstand und ist heute auf der Bühne des Geschehens.
Wichtig ist die Frage, ob die Kurden im politischen System des 21. Jahrhunderts Raum haben werden. Die Kräfte, die Kurdistan ausbeuten und besetzt halten, bemühen sich in großem Umfang, das zu verhindern. Vorreiter ist dabei der Staat der Republik Türkei.
Selbstverständlich dürfen wir in dieser Situation nicht passiv bleiben. Es ist nicht richtig, wenn die kurdischen Bewegungen sich in die jeweilige eigene Ecke zurückziehen und ohne Strategie agieren. Als kurdisches Volk brauchen wir eine gemeinsame Strategie und müssen eigene Bemühungen zeigen. Sollte es zu einem zweiten Lausanne kommen, wird von den Errungenschaften in Südkurdistan, in Rojava und an allen anderen Orten nichts übrig bleiben.
Das Abkommen von Lausanne hat eine Laufzeit von hundert Jahren. In zwei Jahren, also 2023, verliert es laut Erdogan seine Gültigkeit. Erdogan hat bereits früher gesagt, dass er das Abkommen nicht anerkennt. Jetzt führt seine Partei Kongresse durch und bereitet sich in jeder Hinsicht auf eine neue Zeit vor. Im Grunde genommen bereitet der türkische Staat Erdogan auf diese Zeit vor. Und warum? Weil er nach Ablauf des Abkommens von Lausanne erneut die Gebiete in den Misak-i-Milli-Grenzen besetzen will. Darauf zielen alle momentanen Vorbereitungen ab. Es handelt sich dabei um ein sehr wichtiges Thema mit strategischer Bedeutung. Dementsprechend muss auch die gesamte kurdische Politik strategisch denken und vernünftig handeln. Sie darf sich nicht einengen lassen.
Das betrifft auch nicht nur die Kurden, die Besatzungsangriffe des türkischen Staates werden auch dem arabischen und den christlichen Völkern in der Region großen Schaden zufügen. Sowohl die Kurden als auch alle anderen Völker müssen dieser Situation Aufmerksamkeit widmen und das richtige Verhalten an den Tag legen. Niemand darf nach dem Motto „klein aber mein“ damit umgehen. Das ist die falsche Einstellung. Es ist nicht an der Zeit für den Versuch, mit einem eng gefassten politischen Verständnis Kleinigkeiten zu retten. Es geht um die Gesamtsituation. Wer nur für sich selbst kleine Dinge einfordert, wird alles verlieren. So ist die heutige Zeit. Deshalb sagen wir, dass alle die Entwicklungen richtig interpretieren müssen.
Sie haben die Angriffe erwähnt. Es ist richtig, es hat einige Angriffe gegeben. Zum Beispiel hat zu Newroz ein Angriff auf eine kleine Einheit von uns in Berdesor stattgefunden. Gut, dass der Vorfall nicht ausgeartet ist. Darüber hinaus gibt es hier und da Vorfälle wie Straßenblockaden, aber wir betrachten die Zeit aus einer größeren Perspektive und wünschen uns, dass auch alle anderen Seiten das tun. Wenn wir in dieser historischen Zeit keinen umfassenden Gedanken erreichen, werden wir alle verlieren. Es werden Berechnungen hinsichtlich Kurdistan angestellt. Auch wenn keine Einheit hergestellt werden kann, dürfen Kurden nicht dem Feind helfen und gegeneinander arbeiten. Diesen Bedarf hat zumindest unser Volk. Kommt es zu einer Einheit, ist das gut. Kommt es nicht dazu, darf man sich wenigstens nicht gegenseitig bekämpfen. Es darf nicht zu einer gegenseitigen Schwächung kommen. Das ist wichtig. Besser wäre es natürlich, in dieser Zeit mit einer gemeinsamen Strategie zusammen zu arbeiten. An dieser Stelle möchte ich an alle politischen Parteien, Institutionen und Organisationen in Kurdistan appellieren: Halten wir uns diese sensible Zeit vor Augen, die uns alle betrifft, und stellen wir uns der Verantwortung, eine nationale Einheit zu fördern. Bei diesem Thema müssen alle aus eigenem Blickwinkel Bemühungen zeigen. Als PKK interpretieren wir die Zeit in diesem Rahmen. Wir werden die Verantwortung wahrnehmen, unseren Teil für die Entstehung einer gemeinsamen Politik und einer nationalen Einheit zu erfüllen.