Bedran Çiya Kurd, stellvertretender Ko-Vorsitzender des Selbstverwaltungsrats von Nord- und Ostsyrien, hat sich im ANF-Interview zu der vom Europäischen Parlament verabschiedeten Resolution „Der Konflikt in Syrien: Zehn Jahre nach dem Aufstand“, dem Hintergrund einer gemeinsamen Sitzung von Katar, Türkei und Russland, den Entwicklungen in Idlib und der jüngsten Truppenverlegung der türkischen Armee nach Syrien geäußert.
Das Europäische Parlament hat in einer Resolution die türkische Präsenz in Syrien als Besatzung anerkannt und die Türkei zum Abzug ihrer Truppen aufgefordert. Kann es hinsichtlich eines Abzugs in absehbarer Zeit zu neuen Entwicklungen kommen?
Die Haltung des Europaparlaments ist richtig und wird von uns unterstützt. Wir betrachten die Resolution als positive Haltung hinsichtlich einer Lösung der Syrien-Krise und möchten, dass sie auch in die Praxis umgesetzt wird. Es muss daran gearbeitet werden, die Besatzung und die Rechtsverletzungen zu beenden. Die Besatzung von Teilen des Landes verhindert eine Lösung der Krise in Syrien. Solange Landesteile besetzt sind und es eine massive Truppenpräsenz gibt, lässt sich keine politische Lösung verwirklichen. Ein politische Lösung setzt eine Ende der Besatzung voraus. Das sollte allgemein bekannt sein und es muss darauf hingearbeitet werden. Wir glauben, dass die Besatzung ein Ende finden wird, wenn es international gewollt und entschieden wird. Bestimmte Seiten positionieren sich jedoch aufgrund ihrer Eigeninteressen nicht eindeutig. Das führt dazu, dass die Besatzung in Syrien zu einem Dauerzustand werden kann und die Krise immer tiefgreifender wird. Wer darunter leidet, ist die Bevölkerung Syriens.
Das EU-Parlament hat die QSD als Verbündete bezeichnet. Ist es denkbar, dass in der kommenden Zeit auch der Status der Selbstverwaltung anerkannt wird?
Die internationale Koalition gegen den IS setzt sich aus 79 Ländern und Institutionen zusammen und hat die QSD als Bündnispartner anerkannt. Seit fünf Jahren findet ein gemeinsamer Antiterrorkampf statt. In militärischer Hinsicht ist es dadurch zu wichtigen Fortschritten gekommen. Für die Dauerhaftigkeit dieses erkämpften Fortschrittes muss es endlich auch eine politische Akzeptanz geben. Es muss ein politischer Dialog mit der Selbstverwaltung aufgenommen werden. Ohne eine politische Anerkennung kann es auch keine dauerhafte politische Stabilität in der Region geben. Die Selbstverwaltung muss als politische und administrative Leitung anerkannt werden, damit die Fortschritte im Antiterrorkampf gewahrt bleiben. Sie muss als offizielle Vertretung betrachtet werden. Dafür kämpfen wir. Für eine politische Anerkennung sind wir vor allem mit den Ländern der Koalition im Dialog. Wir wollen erreichen, dass die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien als politischer Ansprechpartner wahrgenommen wird.
Am 11. März hat in Katar eine Sitzung zwischen der Türkei, Russland und Katar stattgefunden. Wie wirkt sich dieses Treffen auf Syrien aus?
Die Bemühungen der Türkei und Russlands gegen die arabischen Länder sind keine neue Sache. Nachdem Genf und Astana keine Ergebnisse gebracht haben, mussten sie ihre Politik und ihre Methoden revidieren. Die USA und Israel haben Druck auf die Türkei und Russland ausgeübt, damit der Iran als Teilhaber des Astana-Formats entfernt wird. Stattdessen sollten diesem Mechanismus einige arabische Staaten hinzugefügt werden, vor allem Katar als ein Land, das den politischen Islam unterstützt. Katar hat im Krieg in Syrien die ganze Zeit „oppositionelle“ Gruppen finanziert. Sogar die Entstehung von Gruppen des politischen Islam innerhalb Syriens wird von Katar finanziert. Diese Gruppen sollten ein weiteres Mal von Katars Finanzmitteln profitieren.
Russland versucht das syrische Regime zu unterstützen, denn in den von Damaskus kontrollierten Gebieten finden schwere wirtschaftliche und soziale Krisen statt. Russland sorgt dafür, dass das Regime auf den Beinen bleibt und nicht verschwindet. Dafür braucht es wirtschaftliche Unterstützung. Es ist beschlossen worden, mit Finanzmitteln aus Katar Gebiete in Syrien zu erreichen. Es ging also um die Rettung des Regimes, aber es ist auch ein weiteres Mal Position gegen die Selbstverwaltung und das demokratische Projekt in Nord- und Ostsyrien bezogen worden. Unserer Meinung sind eine solche Haltung und Politik nicht mehr hinnehmbar. Es hat sich ein weiteres Mal gezeigt, dass die Allianz zwischen diesen drei Seiten nicht auf die Interessen der Bevölkerung und eine Lösung der Syrien-Krise ausgerichtet ist, sondern auf das Geld Katars.
Sie wollen weiter Stimmung gegen die Selbstverwaltung machen und Araber in den selbstverwalteten Gebieten aufhetzen. Diese Allianz dient nicht den Interessen der Bevölkerung Syriens und dagegen muss gekämpft werden. Solange es keine Einigung im ganzen Land gibt und die involvierten Staaten keinen Konsens erreichen, wird das Problem in Syrien nicht einfach zu lösen sein.
Trotz des Sotschi-Abkommens finden in Idlib und anderen vom türkischen Staat kontrollierten Gebiete ständige Kämpfe statt. Kann es in Idlib und ähnlichen Gebieten zu einem Krieg zwischen der Türkei und Russland oder dem syrischen Regime kommen?
Das Sotschi-Abkommen gibt es seit 2018. Damit wurden die Gebiete festgelegt, in denen die Türkei präsent ist. Es wurde bestimmt, welche Gruppierung wo bleibt und welche Orte verlässt. Außerdem wurde festgehalten, dass die internationale Straße zwischen Aleppo und Damaskus sowie zwischen Aleppo und Latakia von Russland und dem syrischen Regime kontrolliert wird. Russland und die Türkei wollen sich daran halten, aber andere Seiten – das syrische Regime, Iran, sogar einige vom türkischen Staat unterstützte radikale Gruppen – wollen dieses Bündnis zerstören. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Kämpfen, die den Eindruck erwecken könnten, dass die Allianz zwischen der Türkei und Russland gefährdet ist, aber nach unseren Beobachtungen entwickelt sie sich zunehmend. In der letzten Zeit sind einige wirtschaftliche Abkommen getroffen worden. Das weist darauf hin, dass kein Territorialkrieg zwischen Russland und der Türkei ausbrechen wird. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering oder sogar gleich Null. Es sieht nicht danach aus. Beide Seite bemühen sich um politische und diplomatische Lösungen. Vor diesem Hintergrund gehen die Türkei und Russland auch Allianzen mit arabischen Ländern wie Katar ein. Es entstehen neue Abkommen und Mechanismen, angeblich für eine Lösung der Syrien-Krise.
Die türkische Armee hat in der Zeit des Jahrestags des Beginns des Syrien-Krieges große Truppenkontingente nach Syrien verlegt. Laut einigen Quellen soll es sich sogar um die bisher größte Truppenverlegung gehandelt haben. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?
Der türkische Staat will seine Besatzung zum Dauerzustand machen, das gilt für alle besetzten Gebiete. Nirgendwo kommt ein Rückzug in Frage. Dabei wird behauptet, dass mit der türkischen Präsenz in Syrien für Stabilität und die Rückkehr der geflüchteten Menschen gesorgt wird. Das ist eine Lüge. Der türkische Staat ist für eine Besatzung in Syrien. Welche Träume und Projekte der türkische Staat im Mittleren Osten verfolgt, ist allgemein bekannt.
Er hat nicht nur Syrien besetzt, sondern auch einen wichtigen Teil vom Irak. Er schickt seine Truppen nach Libyen und Aserbaidschan und rechnet mit einer Rückkehr der „Misak-ı Milli“-Grenzen. Er handelt entsprechend seines Traums vom Osmanischen Reich und reorganisiert sich im Mittleren Osten. Deshalb zeigen die nach Idlib und in den Westen von Aleppo transferierten Truppen, dass die Besatzung mit den in Serêkaniyê und Girê Spî errichteten Stützpunkten dauerhaft ist. Der türkische Staat installiert in den von ihm besetzten Gebieten ein administratives System. Auch seine Handlungen in Bereichen wie Bildung und Wirtschaft sind Anzeichen dafür, dass er dauerhaft dort bleiben will. Nichts weist darauf hin, dass er sich in ein oder zwei Jahren zurückziehen wird. Das muss Beachtung finden und dazu darf nicht geschwiegen werden. Wenn die Welt schweigt und die Völker Syriens nicht gegen die Besatzung kämpfen, wird die Besatzung des türkischen Staates zum Dauerzustand und er wird niemals daran denken, sich von syrischem Territorium zurückziehen.