Das Komitee für eine Verfassung von Syrien entstand als Ergebnis der Gespräche zwischen Russland, der Türkei und dem Iran in Astana und schließlich in Sotschi. Die folgenden Treffen des Verfassungskomitees dienten vor allem dem Abstecken der einzelnen Interessensphären und des Aushandels von Deals zwischen Russland und der Türkei.
Die Treffen des Komitees wurden ab Ende 2019 unter die Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gestellt. Die Entwicklungen seitdem zeigen deutlich, dass es zu neuen Absprachen zwischen Russland und der Türkei gekommen ist. Bei diesen Treffen zwischen dem 30. November 2019 und dem 4. Oktober 2020 nahm die von der Türkei kontrollierte Opposition ebenso wie die Türkei selbst immer mehr Abstand von der Position der Einrichtung einer Übergangsregierung.
Hinter UN-Resolution 2254 zurück
Dies bedeutet nicht weniger als einen Schritt zurück hinter die Resolution 2254 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN), die am 18. Dezember 2015 einstimmig angenommen worden ist. In dem Minimalkonsens der UN bekunden diese „ihre Unterstützung für einen von den Vereinten Nationen moderierten politischen Prozess unter syrischer Führung, durch den innerhalb von sechs Monaten ein glaubhaftes, alle Seiten einschließendes und säkulares Regierungssystem geschaffen und ein Verfahren samt Zeitplan für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung festgelegt werden soll, und bekundet ferner seine Unterstützung für freie und faire Wahlen nach der neuen Verfassung innerhalb von 18 Monaten unter der Aufsicht der Vereinten Nationen.“
Da die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates den einzigen einstimmigen Beschluss darstellt, bemühen sich alle lokalen und internationalen Kräfte, die bisher im syrischen Feld tätig waren, ihre Legitimität durch den Verweis auf diese Entscheidung zu unterstreichen. Interessantes Details dabei ist, dass das Verfassungskomitee selbst die Resolution 2254 als Türöffner für eine internationale Anerkennung in Genf nutzte.
Sogenannte Opposition vollständig unter türkischer Kontrolle
Die Entscheidung der sogenannten Opposition, die Forderung der „Übergangsregierung“ nicht mehr zu benennen, wird als Ergebnis russischen Drucks auf die Türkei interpretiert. Welîd Çolî vom „Euphrat-Zentrum für strategische Untersuchungen“ geht auf die Geschichte der syrischen Opposition ein und beschreibt, dass diese bereits am Ende des Jahres 2014 unter der vollständigen Kontrolle des türkischen Staats stand. Mit der Annäherung zwischen Russland und der Türkei in den Prozessen von Astana und Sotschi seien die Forderungen der Gruppen ebenfalls eine nach der anderen von der Agenda genommen worden.
„Die Syrienfrage wird auf einen lokalen Konflikt reduziert“
Çolî kommentiert die faktische Aufgabe der Forderung nach einer „Übergangsregierung“ mit den Worten: „Der türkische Staat hat versucht, diese Forderung im Einklang mit Russland verschwinden zu lassen. In diesem Fall gibt es keine Opposition mehr. In einer solchen Situation haben auch die Genfer Gespräche jede Bedeutung verloren. Die Syrienfrage wird auf einen lokalen Konflikt reduziert.“
„Russland und Türkei wollen die internationale Gemeinschaft hintergehen“
„Der türkische Staat und Russland versuchen mit diesem Verfassungskomitee, Genf und die internationale Gemeinschaft zu hintergehen. Was in dieser Situation geschehen wird, ist, dass das Regime bleibt wie es ist, aber die Muslimbrüder mit in die Regierung einbezogen werden. Das Entscheidende dabei wird die Position der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten sein.“
„Der türkische Staat verkauft die Forderungen der Revolution“
Der Vorsitzende des Kurdisch-Deutschen-Forums, Yûnis Behram, beschreibt das Vorgehen als ein russisch-türkisches Spiel: „Nachdem die syrische Opposition ihr Hauptquartier nach Istanbul verlegt hatte, legte sie all ihre Karten in die Hände des türkischen Staates. Danach machte der türkische Staat alle Forderungen, welche die Revolution in Syrien entfacht hatten, zur Verhandlungsmasse. Die Gruppen, die sich als Opposition bezeichnen, haben zuerst das Land verkauft und jetzt verkaufen sie auch die Forderungen der Revolution.“
Bündnis zwischen Baathisten und Muslimbrüdern
Behram sagt, der türkische Staat habe schon lange von der Idee einer Revolution in Syrien Abstand genommen und spricht von zwei Hauptzielen, welche das AKP/MHP-Regime im Moment verfolge: „Das erste Ziel des Erdoğan-Regimes ist es, zu verhindern, dass die Kurden irgendetwas erreichen. Das zweite Ziel ist die Annexion der besetzten Gebiete in Syrien. Wenn dies garantiert ist, dann können die Muslimbrüder am syrischen Regime beteiligt werden. Das ist alles, worum es bei den Treffen des Verfassungskomitees heute geht.“
Das syrische Verfassungskomitee
Das syrische Verfassungskomitee wurde im Januar 2018 in Sotschi gegründet. Mit Verweis auf Resolution 2254 begann sich das Komitee im Oktober 2019 in Genf zu versammeln. Es besteht aus 150 Personen: 50 aus dem Regime, 50 im Namen der sogenannten Opposition und 50 von den UN bestimmten Personen. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, die etwa fünf Millionen Menschen repräsentiert, wurde nicht in das Komitee aufgenommen. Daher erkennt die Selbstverwaltung das Komitee auch nicht an.