Emine Osê: „Angriffe auf Ain Issa stellen ernste Bedrohung dar“

Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Emine Osê, weist auf die Heftigkeit der türkischen Angriffe auf Ain Issa und die Zustimmung Russlands hin.

Seit Wochen greifen die türkische Armee und ihre Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA) die selbstverwaltete nordsyrische Stadt Ain Issa und ihre Umgebung an. Russland, das als Garantiemacht des Waffenstillstands zwischen der Türkei und der Selbstverwaltung fungieren sollte, schweigt zu den permanenten Angriffen. Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Emine Osê, zeigt sich im ANF-Interview besorgt über die aktuellen Entwicklungen.

 

Im vergangenen Jahr gab es andauernd türkische Angriffe auf Nord- und Ostsyrien. Im letzten Monat haben sich die Angriffe verschärft. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Die Angriffe befanden sich seit langem auf der Agenda der Türkei und begannen mit der Zustimmung der internationalen Mächte. Infolgedessen wurden 2019 Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) besetzt. Hunderttausende Menschen mussten fliehen. Sie müssen nun unter sehr schweren Bedingungen leben. Diejenigen, die in den besetzten Gebiet geblieben sind, weil sie ihr Land nicht verlassen wollten, erleben jeden Tag neue Menschenrechtsverletzungen. Die Selbstverwaltung steht nun vor zwei Hauptproblemen, der Corona-Pandemie und den türkischen Angriffen.

Warum haben gerade in dieser Situation die türkischen Angriffe zugenommen?

Der Astana- und der Genfer Prozess sind in eine Sackgasse geraten und blockiert. Das hat eine politische Lücke geschaffen. Eine weitere politisches Vakuum entstand durch die Präsidentschaftswahlen in den USA. Bündnisse, die vor den Wahlen geschlossen wurden, sind jetzt zweifelhaft. Diese Situation will man nutzen. Der türkische Staat hatte immer einen opportunistischen Charakter. Wo immer sich ein politisches Vakuum oder eine Veränderung ergibt, versucht er sofort Profit daraus zu schlagen, um die Grenzen seiner Besatzungszone zu erweitern. Die Angriffe auf Ain Issa sind vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Vor einem Jahr trat Russland als Garantiemacht des Waffenstillstands auf. Russland und Syrien sind seit einem Jahr hier in der Region präsent, aber die Angriffe gehen weiter. Warum schweigen sie?

Die Streitkräfte der internationalen Koalition wissen aufgrund der Frage des Machtwechsels in den Vereinigten Staaten nicht, wie weit ihre Initiative und Autorität geht. Auch Russland versucht, dies zu nutzen. Die Türkei hätte die Angriffe auf Ain Issa nicht ohne die Zustimmung Russlands durchführen können. Russland ist hier eine Seite, das Regime eine weitere. Sie geben grünes Licht für die Angriffe auf unsere Gebiete. Es geht darum, sich mit der Türkei nicht in Idlib konfrontieren zu müssen und dafür zu sorgen, dass die Türkei dort einige ihrer Stellungen aufgibt.

Was ist die besondere Bedeutung von Ain Issa?

Ain Issa befindet sich in einer besonderen geografischen Lage. Der türkische Staat versucht, Nord- und Ostsyrien zu zerteilen und dessen Status aufzuheben. So soll seine Vorherrschaft in der Region gestärkt werden. Es begann 2018 mit Efrîn. Nun soll auf der Linie Girê Spî und Ain Issa zugeschlagen und die Regionen Cizîrê und Firat voneinander getrennt werden. Deswegen sind die Angriffe sehr ernst. Der türkische Staat ist entschlossen, die von ihm besetzten Gebiete auszuweiten. Der türkische Staat will einerseits dem Status im Nordosten Syriens einen Schlag versetzen und auf der anderen Seite einen Krieg unter den Kurden in Südkurdistan entfachen. Er will durch einen innerkurdischen und einen kurdisch-arabischen Krieg herrschen.

Was macht das Regime?

Das syrische Regime ist ein Teil davon. Seine Medien machen permanent Propaganda für die Übergabe von Ain Issa. So sollen wir unter Druck gesetzt und an gewissen Punkten zu Zugeständnissen gezwungen werden.

Erwarten Sie einen noch größeren Angriff?

Den Plan, den die Türkei 2019 gefasst hatte, konnte sie aufgrund des Widerstands der Bevölkerung nicht umsetzen. Jetzt soll das politisches Vakuum genutzt werden. Außerdem geht es darum, die Haltung der internationalen Mächte zu testen. Russland und das Regime schweigen. Wie gesagt, die Angriffe sind sehr ernst. Der türkische Staat testet, ob er auch mit einem größeren Angriff durchkommen kann.

Was macht die Selbstverwaltung und was die Bevölkerung?

Wir werden unser Volk, unseren Status und unsere Region gegen alle Angriffe verteidigen. Wir nähern uns der Situation aus einer strategischen Perspektive an und versuchen, den gesamten Bedarf der Bevölkerung zu decken. In Syrien gibt es kein Lösungsprojekt jenseits der Selbstverwaltung. Das weiß auch die Bevölkerung. Unsere diplomatischen Bemühungen und unsere Vorbereitungen zu unserer Verteidigung halten an.