Ilham Ehmed, Exekutivausschussvorsitzende des Demokratischen Syrienrats (MSD), hat sich im ANF-Interview zu den vorsätzlich ausgelösten Konflikten in Nord- und Ostsyrien, dem Embargo gegen die Region, die anhaltende Bedrohung durch den IS, die Bedeutung des Grenzübergangs Yarubiyah (ku. Til Koçer), die diplomatische Arbeit des MSD auf internationaler Ebene und die türkische Invasion in Südkurdistan geäußert.
Einhergehend mit den Besatzungsangriffen auf Nordostsyrien hat auch die psychologische Kriegsführung an Intensität gewonnen. Hinter den provokativen Aktionen in Minbic und Şedade steckt nach vorliegenden Informationen die Verbindung zwischen dem türkischen MIT und dem syrischen Muhaberat. Was unternimmt der MSD gegen die Bemühungen, vorsätzlich Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Region auszulösen?
Nord- und Ostsyrien macht eine sehr sensible Phase durch und die Krise in ganz Syrien dauert weiter an. Die Ergebnisse der Wahlen in Syrien vertiefen die Krise weiter. Das Regime betrachtet sich als großen Gewinner und verschärft seine Politik gegen die Kurden. Es will noch mehr Provokationen zwischen Kurden und Arabern auslösen. Der MIT ist daran direkt beteiligt.
Eine der genutzten Kriegsmethoden ist die psychologische Kriegsführung. Es wird versucht, einen dauerhaft instabilen Zustand herstellen und damit den Anschein zu erwecken, als ob es jeden Moment zu einem Krieg und Konflikten zwischen den Bevölkerungsgruppen kommen kann. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass Konflikte bestehen und die Völker in der Vergangenheit immer bereit waren, sich gegenseitig zu bekämpfen. Das ist eine Form des psychologischen Krieges, der hier geführt wird. Dafür wird auf chauvinistische Personen gesetzt, auf Menschen und Organisationen, die sich noch nicht aus der Umklammerung des Nationalismus befreit haben. Diese Grundstimmung wird für organisierte Provokationen genutzt.
„Das syrische Regime hat die Stämme bewaffnet“
In Minbic, Şedadê und ähnlichen Gebieten gibt es von Zeit zu Zeit Probleme. Diese Probleme mögen gesellschaftlich oder bürokratisch bedingt sein, aber es wird immer versucht, daraus einen kurdisch-arabischen Konflikt zu machen. Die Machenschaften der regionalen Mächte sind gefährlich. Dass an einem Ort mit vielen verschiedenen Identitäten alle mit ihrer eigenen Sprache leben, ist ein natürliches Recht. Es darf jedoch nicht zu Identitätskonflikten, Blutvergießen und Bürgerkrieg führen. Das ist sehr wichtig. Nationalstaaten wollen allen Bevölkerungsgruppen eine einzige Identität verpassen. Dagegen ist schon immer Widerstand geleistet worden von Menschen, deren Identität zu verschwinden droht.
Dieser Spezialkrieg ist sehr gefährlich und es finden weiter ähnliche Versuche statt. Auch in Minbic kann nicht davon ausgegangen werden, dass es der letzte Versuch war. Ich hoffe das, aber es wird interveniert. Dafür gibt es Zeugen, die Geständnisse abgelegt haben. Sie sagen aus, wie sie an diesen Plan herangeführt wurden und welche Rolle sie gespielt haben. Es liegen sogar Informationen vor, dass das Regime die Stämme bewaffnet. Diese Machenschaften bergen große Gefahren.
Durch das Projekt der demokratischen Nation und der Autonomie konnte bisher eine Ausbreitung der Konflikte verhindert werden. Wir gehen davon aus, dass die Autonomieverwaltung künftig mehr auf Details achtet und alle gesellschaftlichen Gruppen einschließt. Bei dieser Art von Problemen muss die Gesellschaft angehört werden, ihre Wünsche müssen so gut wie möglich erfüllt werden.
Als MSD finden wir es politisch richtig, Probleme über einen Dialog zu lösen und Gewalt zu vermeiden. Es geht um das Zusammenleben. Wer Unrecht erfährt, kann gesetzliche Mechanismen nutzen. Ob Kurden, Araber, Turkmenen, Suryoye, alle haben unterschiedslos dieselben Rechte. Alle leben als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zusammen. Das ist ein grundlegendes Prinzip für den MSD.
Die Autonomiegebiete stehen unter einem Embargo und in ganz Syrien herrscht seit langer Zeit eine Wirtschaftskrise. Der türkische Staat nutzt selbst den Grundbedarf an Wasser als Druckmittel. All das macht das Leben schwierig. Wie sehen Sie die Gesamtsituation in Syrien und was muss für eine Lösung getan werden? Was können Sie als MSD tun?
Die Politik des türkischen Staates war immer feindlich. Er greift militärisch an und will einen Völkermord und eine demografische Veränderung herbeiführen. Aktuell gefährdet er durch seine Belagerung und den Wasserentzug Menschenleben. Es gibt internationale Abkommen zwischen den Nachbarländern, auch zwischen der Türkei und Syrien besteht ein früher getroffenes Wasserabkommen. Die Türkei hält diese Vereinbarung nicht ein und das syrische Regime stellt keine ernsten Forderungen. Die Vereinten Nationen (UN) üben vielleicht Druck aus, aber nicht genug. Gegen das Vorgehen der Türkei muss ernsthaft Position bezogen werden. Ohne Wasser breiten sich Krankheiten aus. Das Leben von Millionen Menschen wird gefährdet und auch die Wirtschaft ist davon stark betroffen.
Die Autonomieverwaltung muss für die Wirtschaft sehr spezielle Methoden entwickeln und braucht dafür eine langfristige Strategie. Die Türkei muss unter Druck gesetzt werden, damit die Wasserversorgung wieder hergestellt wird. In den besetzten Gebieten wird vor allem die Versorgung über das Wasserwerk Elok unterbrochen. Wir haben dazu verschiedenen Seiten Vorschläge unterbreitet. Eine unabhängige Institution muss die Situation beobachten und unter Kontrolle bringen. Darüber hinaus muss die Autonomieverwaltung Projekte für die Wasserversorgung entwickeln. Es hat zwar verschiedene Initiativen dafür gegeben, aber bei diesen Projekten sind Probleme aufgetreten. Aus den ausgehobenen Brunnen kommt kein Trinkwasser, das Wasser muss geklärt werden. Es müssen technische Maßnahmen getroffen werden und es muss daran gearbeitet werden, dass das Wasser überall ankommt. Auch beim Thema Strom müssen Maßnahmen getroffen werden. Es wird moderne Technologie benötigt, dafür ist Unterstützung erforderlich.
„Damit der Kampf gegen den IS weitergeht“
Die Mittel der Autonomieverwaltung reichen dafür vielleicht nicht aus. Damit der Kampf gegen den IS weitergeht und für die Stabilität der Region muss jedoch der gesellschaftliche Bedarf gedeckt werden. Stabilität hat nicht nur mit Krieg zu tun, sondern hängt auch zu einem großen Teil von der Wirtschaft ab. Deshalb muss die Koalition, die militärische Unterstützung gegen den IS leistet, auch den zivilen Bereich im Blick haben. Es muss Unterstützungsprojekte für die Bevölkerung geben. Dafür ist eine gemeinsame Koordination erforderlich.
Eines der größten Probleme in der Region ist der IS-Terror. In den Gefängnissen für IS-Mitglieder und in Camp Hol sind Operationen durchgeführt worden, die das Problem zwar nicht vollständig gelöst, aber zu Ergebnissen geführt haben. Was unternehmen Sie, damit die internierten IS-Mitglieder vor Gericht gestellt werden? Wer geht mit dieser Frage wie um?
Die Autonomieverwaltung und der MSD haben mit den Ländern der Koalition über einen Gerichtshof für IS-Anhänger gesprochen, aber bis heute gibt es kein Ergebnis. Diese Länder müssen sich endlich entscheiden. Sie müssen entweder ihre Staatsangehörigen übernehmen und anklagen oder einem Gericht hier vor Ort zustimmen. Und es muss Unterstützung geleistet werden, um die Belastung der Autonomieverwaltung zu mindern. Das thematisieren wir bei den Gesprächen mit den betreffenden Länder. Die Diskussion reicht sogar bis zu den UN. Die Situation muss sich endlich ändern.
Wenn sich nichts ändert, wächst in Camp Hol nicht nur eine neue Generation für den IS auf, sondern gleich mehrere. Diese Bedrohung ist Anlass zu großer Sorge. Der IS reorganisiert sich und stellt eine Gefahr für die Region und die ganze Welt dar.
Yarubiyah (ku. Til Koçer) war der einzige Grenzübergang, über den offizielle UN-Hilfsgüter unabhängig vom syrischen Regime über den Irak nach Nordostsyrien gelangen konnten. Wie wirkt sich die Schließung des Übergangs vor anderthalb Jahren auf die Autonomiegebiete aus?
Die bisherigen Hilfslieferungen vor allem für die Auffanglager von Geflüchteten sind sehr begrenzt, weil sie über das Regime laufen. Ein Großteil der Hilfsgüter bleibt in den Regimegebieten, die anderen Gebiete gehen leer aus. Die Öffnung des Grenzübergangs Yarubiya ist äußerst wichtig, es ist eine zwingende Notwendigkeit. Es besteht sehr hoher Bedarf nach Medikamenten und humanitären Hilfsgütern. Diese Güter dürfen nicht der syrischen Regierung ausgehändigt werden, sie müssen direkt an die Autonomieverwaltung gehen. Für uns ist es sehr wichtig, dass dieser Zustand geändert wird.
Yarubiyah war der einzige direkte Zugang für UN-Hilfslieferungen nach Nordostsyrien
Mit wem und welchen Ländern ist der MSD im Kontakt? Haben die bisherigen Gespräche zu Ergebnissen geführt? Oder ist in der kommenden Zeit eine Entwicklung zu erwarten?
Wir führen ausführliche Gespräche mit verschiedenen Ländern, zivilen Einrichtungen und unabhängigen Personen. Aus unserer Sicht haben wichtige Entwicklungsschritte stattgefunden, aber sie entsprechen nicht dem jahrelangen Kampf und dem großen Einsatz, der hier geleistet wurde. Um eine dauerhafte Stabilität herzustellen, muss Nordostsyrien zumindest von der internationalen Öffentlichkeit als Ort anerkannt werden, an dem die größte Ruhe herrscht und Demokratie sich entwickeln kann. Unsere diplomatische Arbeit in diesem Zusammenhang geht weiter.
Der türkische Staat hat seine diplomatischen Beziehungen zu arabischen Ländern intensiviert. Laut Erklärungen wird bei den Gesprächen insbesondere die Lage in Syrien thematisiert. Diese Situation wird sich auch auf Syrien auswirken. Wenn der türkische Staat Beziehungen aufbaut, geht es jedoch immer auch um eine kurdenfeindliche Zusammenarbeit. Wenn die Profite der Länder zusammenkommen, werden die Interessen der Bevölkerung verletzt. Wie wir beobachten, hat die Türkei in letzter Zeit die meisten diplomatischen Beziehungen verloren. Jetzt will sie das alte Niveau wieder erreichen. Das versucht sie, indem sie den Schwerpunkt auf andere Völker setzt.
Die arabischen Länder, die bisher in der Koalition gegen den IS vertreten waren und die QSD unterstützen, finden wir wichtig, diese Beziehung muss fortgesetzt werden. Sie können sogar ihre Beziehungen zur Türkei verbessern, ohne politische Abstriche zu machen. Das sollte jedoch mit dem Ziel stattfinden, dass eine Lösung in Syrien gefunden wird, und nicht indem die Identität der Völker verletzt wird.
Der türkische Staat hält an seiner Besatzungsoperation Südkurdistan fest. Laut Medienberichten nehmen an der Invasion auch Dschihadisten aus Syrien teil, die als türkische Söldner bereits in Libyen und Arzach eingesetzt wurden. Was sind die Auswirkungen auf Nordostsyrien und die gesamte Region?
Der türkische Staat will mit seinen Angriffen auf Südkurdistan vor allem Mosul und Kerkûk erreichen, das ist das eigentliche Ziel. Die Präsenz der Guerilla ist nur ein Vorwand. Gäbe es die PKK nicht, würde die Türkei andere Gründe für ihren Expansionismus finden. Für den türkischen Staat sind die Kurden ein rotes Tuch, er will sie angreifen. Daher hat er immer vorgeschobene Begründungen parat. Sein Hauptprojekt ist die Erweiterung seines Territoriums. Die Guerilla steht ihm dabei im Weg, deshalb ist sie das größte Angriffsziel.
„Die Kurden sollen sich gegenseitig bekämpfen“
Um seine Pläne zu verwirklichen, hat der türkische Staat für jede kurdische Partei eine eigene Politik. Damit will er einen Krieg unter ihnen auslösen, die Kurden sollen sich gegenseitig bekämpfen. Am Grenzübergang zwischen Rojava und Başûr hat er eine Krise verursacht, die sich sehr negativ auf die Bevölkerung auswirkt. Die humanitäre Lage ist dadurch verschlechtert worden.
In Bakur werden Politikerinnen und Politiker der HDP verhaftet, Tausende Menschen sind im Gefängnis. Gewählte Bürgermeister sind verhaftet und die Rathäuser usurpiert worden. Es finden Terroranschläge gegen die HDP statt, Deniz Poyraz ist im HDP-Gebäude ermordet worden. In Başûr bedroht er Parteien und greift die Zivilbevölkerung und die Freiheitsguerilla Kurdistans an. Auch die Angriffe auf Rojava sind nicht weniger geworden, der türkische Staat sucht nach weiteren Angriffsmöglichkeiten. Unter der Erdogan-Regierung ist die Vernichtung der Kurden eine Existenzfrage des türkischen Staates. Deshalb greift er auch die kurdische Geschichte und die Natur mit großer Brutalität an.
Der türkische Staat will an den Kurden eine Neuauflage des Völkermords an den Armeniern verüben. Das geschieht vor den Augen der Weltöffentlichkeit. In Başûr und allen anderen Orten müssen Möglichkeiten geschaffen werden, damit die Menschen ihren Protest zum Ausdruck bringen können. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Kurden sich spalten lassen. Auch im Ausland muss mit einer geschlossenen Haltung auf die Straßen gegangen werden, die betreffenden Stellen müssen aufgefordert werden, die türkischen Angriffe zu stoppen.
Die internationale Öffentlichkeit schweigt leider immer noch, obwohl der türkische Staat für seine Interessen auch ihre Sicherheit gefährdet.