Aldar Xelîl: Eine Besatzung Südkurdistans würde Rojava ersticken

Der PYD-Politiker Aldar Xelîl erklärt, dass die türkischen Angriffe auf Südkurdistan eine existenzielle Bedrohung für Nord- und Ostsyrien darstellen und eine Besatzung Südkurdistans auch Rojava ersticken wird.

Seit dem 23. April versucht die türkische Armee mit aller Gewalt, Teile Südkurdistans zu besetzen. Während die mit der Türkei kollaborierende südkurdische PDK immer wieder behauptet, die Operation richte sich gegen die Guerilla, zeigt das Vorgehen der türkischen Armee, dass es um eine dauerhafte Besatzung der Region durch die Türkei geht. Bei erfolgreicher Besatzung droht eine Annexion von Südkurdistan. Aldar Xelîl, Vorstandsmitglied der nordsyrischen Partei der Demokratischen Einheit (PYD) bewertet im ANF-Interview die türkische Invasion und die Kollaboration der PDK aus der Perspektive von Rojava .


Im Kern steht das Invasionsprojekt“

Warum hat die PDK während der türkischen Angriffe Truppen in die südkurdischen Medya-Verteidigungsgebiete verlegt und was würde ein Verlust von Südkurdistan für die Kurd:innen und Rojava bedeuten?

Bei den aktuellen Angriffen auf Südkurdistan handelt es sich um eine Invasion. Erdoğan will auch Südkurdistan besetzen. Dieser Plan ist offensichtlich. Es geht darum, noch vor dem Ende des Jahres 2023 Südkurdistan und Nord- und Ostsyrien vollständig zu besetzen. Dass dies bisher noch nicht geschehen ist, liegt allein am Widerstand. Hätten wir uns nicht verteidigt, wäre Erdoğan jetzt bereits in Mossul und Kerkûk angekommen. Ein Grund, warum Südkurdistan bisher erhalten geblieben ist, ist der Widerstand in Rojava, ein weiterer ist der Widerstand der Guerilla in den Bergen Kurdistans und aktuell vor allem in Avaşîn, Zap und Metîna. Bei diesem Kampf geht es auch um den Schutz der Errungenschaften von Südkurdistan.

So sehr der türkische Staat eine Partei oder Organisation in der Presse als Grund für seine Operation nennt, handelt es sich doch nur um Propaganda in der Absicht, eine Basis für seine politische Agenda zu schaffen. Im Kern steht das Invasionsprojekt. Von hier aus betrachtet ist das offensichtlich, aber die südkurdischen Kräfte sind sich dessen noch nicht bewusst. Sie verstehen den Ernst der Lage nicht oder sie verstehen ihn und stimmen dem zu. Die Situation ist sehr ernst.

Haltung gegen den Feind beziehen“

Südkurdistan hat jahrelang gekämpft, um Saddams Regime loszuwerden. Nun sieht Südkurdistan, wie Erdoğans Regime auf die Region zurollt. Die Situation ist noch gefährlicher als damals und stellt eine existentielle Bedrohung für die Kurdinnen und Kurden dar. Die südkurdischen Kräfte und die Regierung, die eigentlich Haltung beziehen müssten, sind sich in ihrer Positionierung nicht einig. Insbesondere die PDK unterstützt derzeit die Angriffe. Sie wendet sich nicht an die Vereinten Nationen, an Bagdad, die arabischen Länder und die internationalen Institutionen, um anzuklagen: „Warum kommt der türkische Staat in unsere Berge, warum werden unsere Dörfer bombardiert?“ Die PDK versucht mit allem, den türkischen Staat zufriedenzustellen. Das ist keine kurdische Haltung. Eine nationale Haltung der Menschen in Kurdistan bestünde darin, das Land zu schützen. Wenn Eindringlinge kommen, kann man nicht sagen: „Warum haben Kurden dieses oder jenes getan, lassen wir die Invasion kommen.“

Einheit bedeutet, gemeinsam Position gegen Feind zu beziehen“

Egal wie viele Widersprüche es unter den Kurden gibt, sie müssen sich gegen die Invasion zusammenschließen. Schauen Sie, es gibt viele Staaten, die uns angreifen, und es gibt viele Widersprüche zwischen ihnen. Aber wenn es um die Kurden geht, legen sie ihre Widersprüche beiseite und agieren vereint. Warum tun das die Kurdinnen und Kurden nicht? Wenn die Guerilla, diejenigen, die die Würde des kurdischen Volkes verteidigen, angegriffen werden, dann sagen einige Kurden: „Die Guerilla muss aus der Region verschwinden.“ Sie sagen: „Ich bin Kurde, ich bin aus Kurdistan, ich will Einheit.“ Aber ist das nicht nur eine Parole? Einheit bedeutet auch, gemeinsam Position gegen den Feind zu beziehen.

Aufrufe sollten auch moralisch gerechtfertigt sein“

Lasst uns nicht der gleichen Partei angehören, lasst uns in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung sein, lasst uns in vielen Bereichen uneinig sein, aber lasst uns eins sein, wenn es um die nationale Frage Kurdistans geht. In einer Zeit wie dieser, in der Einheit nötig wäre, treten unterschiedliche Haltungen zu Tage. Einige bekannte Kräfte betrachten die Unterdrücker und die Unterdrückten auf die gleiche Weise. Alle sprechen von „kurdischer Einheit“. Aber an wen ist das gerichtet? An die Unterdrücker und an die Opfer der Unterdrückung. Diese Kräfte sagen: „Ich richte mich an beide, kämpft nicht, verständigt euch“. Man sollte schon moralisch gerechtfertigte Forderungen aufstellen!

Guerilla kann nicht mit PDK gleichgesetzt werden“

Die Guerilla ist in den Bergen in ihren Stellungen. Der Feind ist gekommen und hat sie angegriffen. Eine kurdische Kraft kommt von hinten und schiebt sich ins Kriegsgebiet hinein. In dieser Situation muss man ihnr sagen: „Stopp, das geht nicht. Ist das jetzt die richtige Zeit, dorthin einzumarschieren?“ Seit zwanzig oder dreißig Jahren war die PDK nicht in diesen Bergen, warum will sie gerade zu dieser Zeit dorthin? Wenn jetzt gesagt wird, dass die Peschmerga und die Guerilla nicht aufeinander schießen sollten, dann wird damit ein Unrecht begangen. Was soll die Guerilla denn machen, sie wird ohnehin schon angegriffen. Ist die Guerilla nach Hewlêr, Silêmanî oder Dihok gekommen und hat Aktionen durchgeführt? Sie ist an Ort und Stelle, die Situation hat sich nicht geändert. Der Feind hat angegriffen. Wenn man Aufrufe startet, dann sollten diese Aufrufe auch gerecht sein.

Das Richtige ist, einander die Wahrheit zu sagen“

Wer auch immer falsch liegt, dem muss zuerst Einhalt geboten werden. Nationale, kurdische und menschliche Emotionen sollten nicht auf diese Weise benutzt werden. Eine falsche Zurückhaltung der Kritik kann keine Haltung für eine kurdische Einheit sein. Die richtige Haltung ist es, einander die Wahrheit zu sagen. Der Feind ist gekommen, hat angegriffen und will uns zerstören, er will unsere Geschwister vernichten. Wenn es in einer Zeit wie dieser eine gemeinsame Haltung geben soll, dann besteht diese darin, gemeinsam Stellung gegen den Feind zu beziehen. Okay, wenn man nicht in den Krieg ziehen kann, dann lässt man es eben, aber niemand soll sich hinstellen und sagen: „Warum bist du in meine Berge gekommen? Komm nicht.“ Man kann nicht neutral bleiben und jedes Mal, wenn der Feind die Guerilla angreift, eine Chance wittern und von hinten kommen.

Erdoğan bedroht uns – nicht umgekehrt“

Die Türkei rechtfertigt ihre Invasionen mit ihrer „nationalen Sicherheit“. Was sind die Folgen der Invasionen in Südkurdistan und Rojava für die Kurd:innen?

Wir haben Erdoğan nicht als Feind gewählt. Wir haben diese Entscheidung nicht getroffen. Erdoğan hat entschieden, in Efrîn einzumarschieren. Er hat Serêkaniyê, Girê Spî, Cerablus, Bab und Azaz besetzt. Erdoğan bedroht uns, nicht umgekehrt.

Deshalb liegt ein Ende Erdoğans in unserem Interesse. Das ist nichts, worüber wir uns politisch zusammensetzen und darüber entscheiden. Wenn er uns angreift und uns zu zerstören versucht, müssen wir Grenzen setzen, um zu überleben. In diesem Sinne möchte ich Folgendes feststellen: Erstens, er ist nach Südkurdistan gekommen und hat die Guerilla angegriffen. Zweitens, er vertreibt die Menschen aus den Dörfern in Südkurdistan. Drittens, er greift die Zivilbevölkerung an. Viertens, er baut dort seine Militärbasen. Fünftens, er erweitert seine Stützpunkte in den besetzten Gebieten. Südkurdistan ist ohnehin nicht groß. Was bedeuten 30 türkische Militärbasen? Es bedeutet, dass Südkurdistan besetzt worden ist. Morgen wird es keine Regierung mehr in Südkurdistan geben. Ist es in Rojavas Interesse, wenn Südkurdistan fällt? Wir wollen nicht, dass Südkurdistan fällt. Wir wollen ebenso wenig, dass der türkische Staat diese Region besetzt, wie wir wollten, dass er Efrîn okkupiert. Wenn Südkurdistan besetzt wird, dann erstickt Rojava.

Die Besetzung Südkurdistans bedeutet das Ende aller Errungenschaften“

Damit würden alle Errungenschaften der Kurden zerstört werden und verschwinden. Alle müssen dazu Haltung beziehen. Warum schauen wir zu und verschließen die Augen? Es gibt einen Widerstand historischem Ausmaßes und alle sollten ihn unterstützen. Nicht jeder muss in der Guerilla kämpfen oder sich dieser Bewegung anschließen. So meine ich das nicht. Aber wenn unser ganzes Volk den Widerstand unterstützt, wird er greifen.

Deshalb sind alle in Rojava, Kurdistan und Europa verantwortlich. Von den Jugendlichen bis zu allen weiteren Teilen der Gesellschaft ist es die Aufgabe, diesen Widerstand zu unterstützen. Es geht hier nicht um eine Bewegung, so wie es manche darstellen wollen, sondern es geht um unsere Existenz. Wenn der Widerstand gewinnt, wird dieser Sieg eine Bedeutung haben wie in Kobanê. Wenn der Widerstand in Avaşîn, Metîna und Zap siegt, werden Rojava und Nordsyrien einen Status erhalten und die Errungenschaften werden eine neue Ebene erreichen und verstetigt. Andernfalls wird es negative Konsequenzen geben.

PDK kann Kriegsverbrecher ertragen, aber keine Kurden“

Die PDK hat am 10. Juni Vertreter der Selbstverwaltung und der PYD festgenommen. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt. Warum hat das die PDK getan?

Jemand wie Nasır Hariri [an der Besetzung von Efrîn beteiligter Kriegverbrecher] wird in Hewlêr empfangen. Er wird wie ein Minister und ein Held empfangen. Aber Kurden können sie offensichtlich nicht ertragen.

Sie können die Kurden nicht ertragen. Schauen Sie, Vertreter der Selbstverwaltung und der PYD wurden in Hewlêr festgenommen. Warum wurden sie festgenommen? Sie vertreten die Kurden und haben nichts Böses, keinen Diebstahl oder Verbrechen begangen. Sie haben sich nicht in die inneren Angelegenheiten Südkurdistans eingemischt.

Sie vertreten nur ihre Partei bzw. die Selbstverwaltung. Sie gehen zum Flughafen, um Gäste zu treffen. Um drei Uhr morgens werden sie festgenommen und wir wissen immer noch nicht, was mit ihnen geschehen ist. In Südkurdistan werden jedoch Leute begrüßt, welche die Türkei im Nordosten Syriens willkommen heißen und ihre Entschlossenheit bekunden, gegen die kurdische Bewegung zu kämpfen. Sie heißen diejenigen willkommen, die Massenvertreibungen durchführen, Bäume fällen, Menschen Zwangskonversionen unterziehen und die Identität der Region verändern. Wie kann das sein?

Das ist ein offensichtlicher Widerspruch. Wo ist der Patriotismus, das Gerede von Nation, Einheit und Kurdistan? Das ist die Wahrheit. Das sind keine Theorien, die wir uns selbst einfallen lassen. Es ist eine Tatsache, die geschieht. Wenn die Wahrheit gesagt wird, dann gefällt das nicht allen. Wir leben aber nicht in einer Zeit, in der wir uns gegenseitig zufrieden stellen und eine andere Sprache sprechen können. Wir sind in einer Zeit, in der es um Sein oder Nichtsein geht. Wenn ich das sage, dann meine ich das ganze kurdische Volk.

Wenn Erdoğan gewinnt, bleibt nichts von Südkurdistan. Wenn Erdoğan gewinnt, bleibt keine Hoffnung für Ostkurdistan. Wenn Erdoğan gewinnt, wird nichts von Rojava bleiben. Unser Schicksal ist eins.

Der Vertreter von Rojava sind weiter in Haft und wir kennen ihre Lage nicht. Nach unbestätigten Informationen, die ich erhalten habe, sind türkische Geheimdienstagenten eingetroffen und befragen unsere Freunde. Das ist eine gefährliche Situation. Wir wissen nicht, wo sie jetzt sind. Wir wissen nicht, wie sie verhört und was sie gefragt werden.

Was passiert am Grenzübergang Sêmalka? Hat die PDK ihre Praxis verändert?

In Sêmalka haben wir große Schwierigkeiten. Die Menschen, die ein- und ausreisen, werden geheimdienstlich befragt. Es sind entwürdigende Fragen, die gestellt werden. Manche Fragen gehen über die Fragebögen hinaus. Diese Fragen sind absolut unerträglich, es ist, als wären wir in einem Geheimdienstgefängnis. Es ist aber ein Grenzübergang. Was ist denn die Aufgabe eines Grenzübergangs? Wenn man zur Fahndung ausgeschrieben ist, dann wird man verhaftet und kann die Grenze nicht passieren. Wenn man etwas Verbotenes oder Schmuggelware dabei hat, dann passiert das Gleiche. Wenn man aber jemanden an der Grenze fragt: „Wie viele Mitglieder hat deine Familie? Was denkst du? Was isst du? Wer sind deine Verwandten und aus welchem Stamm kommst du? In welcher Partei bist du und was ist deine Aufgabe? Wann finden Versammlungen statt? Wer ist verantwortlich? In welcher Nachbarschaft befindet sich dein Haus? Wie heißt deine Kommune? Wo sind eure Räte?“, dann ist das einfach nur schockierend.

Ich weiß, nicht einmal der türkische oder syrische Geheimdienst stellt solche Fragen, wenn sie einen festnehmen. Diese Situation ist unerträglich. Die Menschen sind deswegen beunruhigt. Die Selbstverwaltung debattiert darüber, was dagegen zu tun ist. Als die Selbstverwaltung deutlich machte, dass sie diese Situation nicht akzeptiert, wurde der Diskurs einfach umgedreht und behauptet, Rojava wolle die Grenze dichtmachen. Die Selbstverwaltung will, dass die Menschen die Grenze in Würde passieren können.

Warum stellt sich die YNK nicht gegen diese Verstöße?

Unser Volk soll wissen, dass wir das nicht für uns selbst machen. Diese Fragen richten sich nicht gegen uns. Wir sind ja ohnehin bekannt. Mit diesen Fragen wird die Bevölkerung unter Druck gesetzt. Die Menschen akzeptieren diese Situation nicht und sind beunruhigt. Die Frage des Grenzübergangs von Sêmalka ist ein ernstes Problem. Alle kurdischen Kräfte müssen dagegen Stellung beziehen. Die YNK ist dort, aber ich weiß nicht, was die YNK dort macht. Die YNK ist in der Regierung. Aufgabe der YNK ist es nicht nur, politische Reden über Rojava zu halten und Beziehungen zu den Parteien in Rojava aufzubauen. Sie muss ihre Rolle innerhalb der Regierung erfüllen.

Frauen werden an diesem Grenzübergang durchsucht, wie es nirgendwo anders geschieht. Überall sonst gibt es zumindest etwas Respekt vor Frauen. Eine Haltung für Einheit und Gemeinsamkeit zeigt sich, indem man sich gegen eine solche Praxis stellt. Behauptungen und Reden kann jeder halten. Das Wichtigste aber ist die praktische Einstellung.

Die Menschen sind aufgrund des Sêmalka-Problems, der Situation der in Hewlêr inhaftierten Vertreter und der Unterstützung der PDK für die türkischen Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete äußerst beunruhigt. Wir betrachten das nicht als Normalität. Wir sind als Menschen in Rojava und Nord-Ostsyrien gezwungen, die Gefährlichkeit dieser Lage zu sehen.