Ilham Ehmed: Unser Hauptziel ist die Beendigung der Besatzung

Die MSD-Politikerin Ilham Ehmed sagt für 2021 voraus, dass das Autonomiegebiet im Nordosten des Landes zum demokratischen Zentrum Syriens werden wird: „Unser Hauptziel im neuen Jahr ist die Beendigung der Besatzung.“

Ilham Ehmed, Exekutivausschussvorsitzende des Demokratischen Syrienrats (MSD), hat sich im ANF-Interview zu der politischen Arbeit, den diplomatischen Entwicklungen und den Tätigkeiten des syrischen Verfassungskomitees im vergangenen Jahr geäußert und einen Ausblick auf die Pläne für 2021 gegeben.

Welche Pläne und Ziele hatte der MSD für 2020 und was wurde davon erreicht? Was waren die Hindernisse?

Der MSD wollte im vergangenen Jahr einen Oppositionskongress durchführen. Dafür haben mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen Vorgespräche stattgefunden. Es haben sich bestimmte Situationen ergeben, die die ganze Welt beeinflussen. Gewisse politische und inhaltliche Faktoren haben dazu geführt, dass diese Arbeit verschoben wurde.

Durch den seit Jahren andauernden Krieg, durch Flucht, Plünderung, Entführungen, Verhaftungen und sehr viele Tote ist bei den Völkern Syriens und den Gegnern des syrischen Regimes ein Gefühl der Unsicherheit entstanden. Vor allem dadurch wird eine Lösung der Syrien-Krise verhindert. Darüber hinaus führen die äußeren Interventionen in Syrien zur Zersplitterung der Einheit der Völker. Die Syrien-Krise ist tief und erfordert einen hohen Preis. Es gibt nur einen einzigen Weg, um aus dieser Situation herauszukommen: Eine Vereinigung im Sinne einer demokratischen Nation gemäß der Freiheit der Völker Syriens.

Der MSD ist eine politische Dachorganisation für eine Lösung der Syrien-Frage. Sind Ihre Strukturen im vergangenen Jahr gewachsen? Haben sich Ihnen andere demokratische Institutionen und Organisationen angeschlossen? Wie hat sich Ihre Arbeit ausgewirkt?

Wir haben in ganz Syrien gearbeitet. Es kam zu Dialogen mit verschiedenen Personen und Fraktionen und es wurden entsprechende Vereinbarungen getroffen. Einige haben sich der Arbeit des MSD angeschlossen. Diese Arbeit finden wir sehr wichtig. Sie ist schwierig, aber sie führt zu positiven Ergebnissen. Es ist eine strategische Arbeit, mit der die Zukunft Syriens bestimmt wird. Als Bevölkerung Syriens haben wir das Recht, eine eigene Lösung festzulegen. Um lösungsorientierte Ansätze zusammenzubringen, sind Dialoge und Diskussionsforen sehr wichtig.

Im vergangenen Jahr hat ein intensiver diplomatischer Verkehr in Nord- und Ostsyrien stattgefunden. Es sind Delegationen aus arabischen und europäischen Ländern, aus den USA und Russland in die Region gekommen. Werden sich die Gespräche, die die Selbstverwaltung und der MSD mit den ausländischen Delegationen geführt haben, auf die Region auswirken? Wird es in der nächsten Zeit zu einer Entwicklung kommen?

Die Selbstverwaltung hat ein demokratisches Projekt installiert. Dafür hat ein sehr schwieriger und gefährlicher Prozess stattgefunden. Mit diesem Projekt wird gewährleistet, dass sich die Gesellschaft selbst regiert. Das ist für ganz Syrien eine neue Erfahrung. Als die Selbstverwaltung massiv vom türkischen Staat angegriffen wurde, hat die ganze Welt gesagt, dass dieses Projekt keine zwei Tage standhalten kann. Bestimmte Seiten haben erwartet, dass das Projekt zusammenbricht und dadurch eine sehr schlimme Situation entsteht. Es bestand die Besorgnis, dass sich die Lage in Syrien dadurch komplett ändert.

Das Projekt wurde jedoch fortgesetzt. Als sich die Bevölkerung dahinter stellte und es von allen Bevölkerungsgruppen verteidigt wurde, ist klar geworden, dass es sich nicht nur um eine Theorie handelt. Es wurde deutlich, dass es die Gesellschaft selbst ist. Deshalb wurde entschieden, das Projekt zu unterstützen. Die Besuche der Delegationen in der Region haben eine politische und diplomatische Bedeutung. Wir sprechen noch nicht von einer politischen Anerkennung, aber die Bemühungen für eine demokratische Lösung der Syrien-Krise werden mit der Zeit zu einer Anerkennung der Autonomie führen. Dass die Autonomie anerkannt und offiziell in Syrien verankert wird, ist eine Verpflichtung der gesamten Menschheit. Die ganze Welt muss ihre Aufgabe erfüllen und dieses Projekt unterstützen.

Als MSD haben Sie im August in Moskau eine Vereinbarung mit der Partei des Volkswillens Syriens unterzeichnet und sich anschließend mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow getroffen. Was ist seitdem passiert?

Die Gespräche werden fortgesetzt. Wir vertreten dieselbe Haltung hinsichtlich einer Lösung. Die Partei hat erstmalig an einem von uns durchgeführten Kongress teilgenommen. Es findet eine Zusammenarbeit statt. Das war auch wichtig hinsichtlich der Gespräche, die wir mit Russland geführt haben. Wir messen diesen Gesprächen Bedeutung bei, weil es dabei um den Aufbau eines Dialogs mit dem Regime auf der Grundlage der Rechte aller Bevölkerungsgruppen und demokratischer Prinzipien geht.

Bei diesem Thema spielt Russland eine wichtige und einflussreiche Rolle. Aus unserer Sicht ist es für Russland auch die einzige Möglichkeit der Rettung, wenn es das Projekt der demokratischen Autonomie unterstützt. Russland ist in Syrien präsent und die meisten Fehler des Regimes werden Russland zugeschrieben. Außerdem haben auch die Völker Syriens Erwartungen an die Autonomie. Sie sehen, dass dieses Projekt die blutige und zersplitterte Situation in Syrien und die Despotie des Regimes beenden kann.

Haben Sie im vergangenen Jahr Gespräche mit dem syrischen Regime geführt? Wenn ja, wie sind diese Gespräche verlaufen, wenn nein, warum nicht? Wie geht das Regime in Damaskus mit der Selbstverwaltung, dem MSD und den demokratischen Kräften in Nord- und Ostsyrien um?

Das syrische Regime befindet sich in einem gedanklichen und psychologischen Vakuum. Es agiert zunehmend härter und fürchtet Veränderung und Erneuerung. Seine Angst gilt nicht Syrien, sondern der eigenen Macht. Freiheit bedeutet Kapitulation für das Regime. Anstatt Frieden mit der Bevölkerung zu schließen, geht es gegnerische Allianzen mit Nachbarländern wie der Türkei ein. Es will nicht einsehen, dass sich die Lage der Gesellschaft dadurch verschlechtert. Nach wie vor akzeptiert es keinen muttersprachlichen Unterricht. Es betrachtet die Kurden als Gäste, wie soll es da die Demokratie akzeptieren? Die Denkweise des Baath-Regimes hat sich nicht geändert. Es hat alle zu Terroristen erklärt und angegriffen. Heute versucht es dasselbe mit den Demokratischen Kräften Syriens (QSD). Es betreibt Antipropaganda und treibt seine Gegnerschaft auf die Spitze. Es will wie früher die einzige Macht sein. Dadurch wird es mit der Zeit die Möglichkeit verlieren, sich anders zu entscheiden. Unsere Ziele sind ein demokratischer Wandel und die Freiheit der Völker. Ein anderes Leben gibt es nicht.

Aufgrund des UN-Beschlusses Nummer 2254 und des Vetos Russlands und Chinas ist der Grenzübergang Til Koçer geschlossen worden. Mit dem Embargo gegen Nord- und Ostsyrien wird verhindert, dass lebenswichtige Güter einschließlich medizinischer Ausrüstung in die Region kommen. Die Situation hat sich dadurch sehr verschlechtert. Wie bewerten Sie das? Arbeiten Sie daran, dieses Problem zu lösen?

Die Schließung des Grenzübergangs war eine politische Entscheidung. Die innerstaatlichen Konflikte schaden der Bevölkerung Syriens. In Nordostsyrien leben fünf Millionen Menschen. Das Regime will die Hilfslieferungen der UN für sich behalten, die anderen Regionen sollen keine Unterstützung bekommen. Damit will es alle von sich abhängig machen und den eigenen Machtbereich ausweiten.

Die Selbstverwaltung muss unterstützt werden. Die UN müssen für Hilfslieferungen direkte Vereinbarungen mit der Selbstverwaltung treffen. Die Autonomieverwaltung gibt es seit sieben Jahren. Seitdem ist sie für die Dienstleistungen für fünf Millionen Menschen zuständig. Außerdem unterstützt sie auch die Menschen in Gebieten, die vom Regime oder den Banden des türkischen Staates kontrolliert werden. Sie verteilt Brennstoff und Lebensmittel in ganz Syrien und macht keinen Unterschied zwischen den Bevölkerungsgruppen. In der kommenden Zeit sind Vereinbarungen der internationalen Öffentlichkeit und der UN mit der Selbstverwaltung möglich.

Die Sitzungen des Verfassungskomitees für Syrien sind im vergangenen Jahr fortgesetzt worden. Die Selbstverwaltung, die ein Drittel der Bevölkerung repräsentiert, ist daran nicht beteiligt. Diese Gespräche dauern seit 2012 an und haben bisher zu keinen Ergebnissen geführt. Hat sich hinsichtlich dieses Themas etwas bei Ihren Gesprächen mit Russland ergeben? Wie bewerten Sie die Situation?

Das Verfassungskomitee und die Gespräche werden nicht von den Völkern Syriens geführt, sondern von einer zwischenstaatlichen Allianz. Daher kann auch im Verfassungskomitee nur eine zwischenstaatliche Vereinbarung getroffen werden. Aus dem Komitee ausgeschlossen sind die Kräfte, denen die Türkei nicht zugestimmt hat. Das gilt für den MSD und die Selbstverwaltung. Es gibt bisher keinen Fortschritt im Verfassungskomitee. An diesen strategischen und wichtigen Gesprächen müssten alle Bevölkerungsgruppen und die Opposition beteiligt werden. Notwendig ist eine gemeinsame Verfassung, die nicht auf einem Referendum basiert, sondern auf allgemeinen Prinzipien. Das Recht einer Nation kann nicht über ein Referendum entschieden werden. Wenn aus dem bestehenden Komitee eine Verfassung hervorgehen sollte, wird sie nicht den Völkern Syriens dienen.

Der MSD hat am 25. November einen Vorbereitungskongress für einen nationalen Kongress der Völker der Regionen Cizîrê und Firat abgehalten. Wie aus den Medien hervorging, sind wichtige Beschlüsse getroffen worden. Einer davon betrifft eine Neustrukturierung und den Aufbauprozess. Wie wird es jetzt weitergehen und was sind die Ziele des MSD für 2021?

Diese Arbeit soll die Selbstverwaltung stärken. Der MSD ist offiziell für die Selbstverwaltung tätig. An dem Kongress haben Vertreterinnen und Vertreter der Selbstverwaltung teilgenommen und es wurden Beschlüsse zur Neustrukturierung und Weiterentwicklung getroffen. Über Wahlen soll eine Neuorganisierung und ein neuer demokratischer Prozess in Gang gesetzt werden. Die Veränderungen und Erneuerungen werden fortgesetzt. Damit werden Krisen und Probleme verhindert. Es wird zu großen Entwicklungen in der Leitung und Verwaltung der Region kommen.

Im neuen Jahr ist es unser vorrangiges Ziel, die Besatzung zu beendet und den Selbstverteidigungskampf unseres Volkes weltweit bekannt zu machen. Die Autonomiegebiete werden zum demokratischen Zentrum Syriens werden. Wir wollen unsere Zusammenarbeit mit der Opposition und allen Lösungsparteien in Syrien ausbauen.


Der Demokratische Syrienrat (MSD) ist eine 2015 gegründete politische Versammlung, die politische Parteien und Organisationen in Nord- und Ostsyrien vertritt. Der MSD schafft einen politischen Rahmen für die Regierungsführung in Syrien nach einem dezentralen und föderalen Modell. Er ist das politische Gremium, dem die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) Bericht erstatten. Er ist auch das politische Gegenstück zur Selbstverwaltung, die mehr administrative und exekutive Funktionen übernimmt. Die Verhandlungen mit der syrischen Regierung sowie die diplomatischen Beziehungen mit anderen Ländern werden in der Regel über den MSD geführt.