Çiğdem Doğu, Koordinationsmitglied der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans), hat in der von Arjîn Baysal moderierten Sendung Xwebûn bei Jin TV über Ethik und Ästhetik in der kurdischen Frauenbefreiungsideologie gesprochen. Wir veröffentlichen den dritten Teil des Interviews in deutscher Übersetzung.
Wie geht das männerdominierte kapitalistische System mit Ästhetik um?
Als der Kapitalismus zu einem System wurde, gab es einige grundlegende Faktoren. Die Massaker an Frauen, vor allem in Westeuropa, und die Hexenverbrennungen waren ein sehr grundlegender Aspekt. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Verständnis des Szientismus, das positivistische Verständnis. Anstelle einer ganzheitlichen Betrachtungsweise natürlicher Gesellschaften hat der Szientismus einen Ansatz, der die Wahrheit fragmentiert. Die Realität wird zerstückelt, um sie besser analysieren und aufzeigen zu können. Diese Denkweise ist zu einer wesentlichen Methode in der Politik des kapitalistischen Systems gegen die Gesellschaft und gegen Frauen geworden. Wenn wir das System überwinden wollen, müssen wir zuallererst die Methode des Szientismus überwinden. Denn solange wir sie nicht überwinden können, können wir auch nicht über die von ihr gezogenen Grenzen hinausgehen.
Warum ist das wichtig oder was hat das mit unserem Thema zu tun? Das männliche Herrschaftssystem basiert auf Spaltung, alles wird zersplittert. Wir gehen davon aus, dass Frauen, Gesellschaft und Moral eine grundlegende Trinität bilden. Im Entwicklungsprozess des Patriarchats wurden die Frauen zunächst zu Hause eingesperrt und von der Gesellschaft abgeschnitten. Der Kapitalismus hat diese spaltende Methode der Machtausübung noch wissenschaftlicher gemacht. Sie wird derzeit sehr professionell ausgeübt. Die Gesellschaft und das Individuum sind zerrüttet. Es wird versucht, Gesellschaft und Moral vollständig voneinander zu trennen. Die Trennung ist noch nicht vollständig vollzogen, und wir kämpfen dagegen an. Frauen sollen dazu gebracht werden, sich völlig von der Gesellschaft und der Moral zu lösen. Es wird versucht, Männer vollständig von Moral abzutrennen. Es gibt eine Lebenswirklichkeit, die in Stücke gerissen wird. Wenn wir die Ethik und Ästhetik im Ansatz des kapitalistischen Systems betrachten, stellen wir fest, dass sie ebenfalls zerrissen sind. Wir haben darüber bereits in der vorangegangenen Sendung gesprochen.
Ethik und Ästhetik sind eine unzerstörbare Einheit. Ihre Ganzheitlichkeit schafft unermessliche Schönheit und bedeutende Werte, sie ist erhebend. Das Gegenteil davon offenbart das Böse und Hässliche. Wir erleben derzeit einen solchen Prozess. Der Punkt, der angegriffen und zu schwächen versucht wird, ist vor allem die moralische Struktur der Gesellschaft. Hier setzt die Spezialkriegsführung am deutlichsten an. Das Individuum bezieht keine Kraft mehr aus der Gesellschaft. Das ist es, was Individualismus und Liberalismus ausmacht. Das Individuum lebt in einem Leben des Wettbewerbs, der Gier nach Geld, Komfort, Bequemlichkeit, Schönheit, Autos. Es gibt eine menschliche individuelle Realität, die in einfachen Lebensidealen gefangen ist. Auf der anderen Seite siehst du eine Gesellschaft, die nicht mit ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Sprache, ihrer eigenen Dynamik, ihrer eigenen Wirtschaft und Selbstverteidigung, ihrer eigenen Gesundheitspolitik, ihren eigenen Bildungsorganen lebt. Das Individuum kann keine Kraft daraus schöpfen, es gibt sie nicht. Es gibt einen Nationalstaat, eine Regierung und Männerherrschaft. Die Gesellschaft wurde geschwächt und räumlich eingeengt. Der Moralbegriff wurde zusammengestaucht und auf Frauen beschränkt. Er wird auf die Beziehung der Frau zum Mann reduziert und als Ehre bezeichnet. Es gibt Diebstahl, Massaker, Vergewaltigung, Belästigung, sogar Kinder werden sexuell und als Arbeitskraft ausgebeutet.
Auch die nationale und kulturelle Identität der Bevölkerung ist ein wesentliches Element der moralischen Struktur einer Gesellschaft. Die Fähigkeit, die eigene Sprache zu sprechen, drückt einen sehr wichtigen Aspekt der moralischen Struktur aus. Was tut der Kapitalismus? Er versucht, sie wie eine Dampfwalze plattzumachen. Unterschiedlichkeiten werden ausgemerzt. Moral ist jedoch auch Ausdruck kultureller Vielfalt. Der Kapitalismus lässt keine Unterschiedlichkeit bestehen, er hat alles homogenisiert. Die Robotisierung und Technisierung im Kapitalismus, der Übergang zur fabrikmäßigen Produktion in der Industrialisierung, die Umwandlung von allem Materiellen und Ideellem in Geld - all das fördert Unmoral. Auf diese Weise werden Frauen isoliert, und gleichzeitig wird behauptet, dass Frauen jetzt frei sind. Kein menschliches Wesen kann allein frei sein. Das gilt nicht nur für Frauen, aber Frauen wird diese Einsamkeit noch mehr aufgezwungen, und dadurch wird ihnen ihre Willensstärke genommen.
Es geht um eine Freiheit, die in einer Vitrine ausgestellt wird.
Der westliche Kapitalismus stellt die in seiner gesellschaftlichen Struktur entstandene weibliche Identität als idealen, modernen Frauentypus dar. Wir wissen jedoch, dass es hier keine Freiheit gibt. Wie Statistiken zeigen, sind Gewalt, Vergewaltigung, Selbstmord und Morde an Frauen im Nahen Osten sehr verbreitet, aber das gilt auch für die westlichen Gesellschaften in Amerika und Europa. Die als frei bezeichneten Frauen erleben in diesem System eine schreckliche Zersplitterung. Ihre Gefühle, ihre Gedanken und ihre Körper werden fragmentiert. Es findet eine Fragmentierung und Kommerzialisierung statt, vor allem die Körper von Frauen gelten als Ware. Dabei handelt es sich um eine ernsthafte Perversion. Es findet ein Abweichen von der Moral und eine Distanzierung von der Gesellschaft statt. Auch die männliche Dominanz wird immer monströser. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind Ausdruck einer Waagschale. Die Staaten, das imperialistische System und die männliche Vorherrschaft werden stärker; auf der anderen Seite wird die Gesellschaft geschwächt, entwaffnet, der Bildung und der Gesundheitsfürsorge beraubt. Auf gleiche Weise sind Frauen dem ausgesetzt. Es entsteht eine große Kluft, das gesamte Leben ist kein Leben mehr. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] sagt: „Das Hauptproblem der Gesellschaft ist, dass das Leben kein Leben mehr ist und die Gesellschaft sich davon entfernt, eine Gesellschaft zu sein." Das ist eine sehr wichtige Feststellung, über die Hunderte von Büchern geschrieben werden sollten. Wie hat das kapitalistische System, der vorherrschende männliche Verstand, der kapitalistische Verstand dies zustande gebracht? Die Wissenschaft ist so weit fortgeschritten, es gibt einen enormen Wissensstand, aber das Wissen hat sich von Ethik und dem wahren Verständnis von Ästhetik entfernt.
Schönheit ist eine intuitive Tendenz des Individuums und der Gesellschaft, und es gibt immer eine Suche nach Schönheit und Liebe. Das ist eine sehr wichtige und sinnvolle Suche. Das kapitalistische System benutzt diese Dinge, weil es sich in einer tiefen Krise befindet und keinen Wert hat, an dem es sich festhalten kann. Wie soll es sonst die Gesellschaft überzeugen? Menschen und Gemeinschaften können nicht allein durch Gewalt unterdrückt und willensschwach gemacht werden. Es geht hier um die Machenschaften einer Mentalität, die viele Dimensionen haben, von politischer Unterdrückung bis hin zu den verschiedenen Ebenen der speziellen Kriegsführung. Ein grundlegender Aspekt dabei ist die Ausnutzung von Ästhetik. Ethik und Ästhetik bilden eine Gesamtheit, aber das System setzt die Ästhetik gegen die Ethik ein. Es gibt eine Strategie, Schönheit gegen die Moral der Gesellschaft, gegen die Schönheit der Frauen, gegen die Integrität des Lebens einzusetzen. Auf dieser Grundlage wird die Wahrnehmung manipuliert. Stellen Sie sich vor, am meisten Geld wird mit der Waffen- und Kosmetikindustrie verdient. Dafür gibt es einen riesigen Markt. Waffen bewirken, dass eine Gesellschaft durch Krieg, Migration und Unterdrückung aufhört, eine Gesellschaft zu sein. Wenn an einem Ort Krieg herrscht, kommt es zu Diebstahl, Plünderung, Brandschatzung, Massakern an Frauen, Vertreibung und so weiter. Dadurch entstehen massenweise ethische Probleme, aber das ist der Bereich, der den meisten Profit bringt. Also wird der Krieg weitergehen. Das andere ist der Bereich der Schönheit.
Es wird mit Ästhetik angegriffen.
Ästhetik wird als Waffe benutzt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir als Frauenbewegung diese Frage lösen. Es ist auch als gesellschaftliche Revolution wichtig.
Dass Ästhetik auf kosmetische Schönheit reduziert wird, ist beunruhigend.
Es ist ein Werkzeug des Krieges, wir können es nicht naiv betrachten. Frauen versuchen, sich zu verschönern, sie tragen Make-up. Ästhetische Operationen werden durchgeführt. Es werden Normen für den weiblichen Körper aufgestellt. Irgendwann hieß es 90-60-90, dann wurde von Größe Null gesprochen. Aber was geht uns das an? Schönheit ist eine kulturelle Angelegenheit. Warum mischt sich das System so sehr in diese Sache ein? Weil es eine gesteuerte Operation gibt. Frauen auf der ganzen Welt konkurrieren in Schönheitswettbewerben. Das Gleiche gilt inzwischen auch für Männer. Auch für Männer ist ein Markt geschaffen worden.
Dazu gehört auch die Sexualität. Wenn eine Frau oder ein Mann sich so sehr mit dem eigenen Körper beschäftigt, wie viel Raum bleibt dann noch für die Frage nach dem Sinn? Wie sehr können sie über ihre eigene Freiheit nachdenken und hinterfragen, dass das männliche Herrschaftssystem genau das zu verhindern versucht? Es herrscht ein enormer Krieg.
In Krankenhäusern gibt es etwas, das man Anästhesie nennt. Du bist krank, gehst ins Krankenhaus, wirst operiert, und zuerst bekommst du eine Narkose. Du wirst also betäubt. Der Begriff Anästhesie ist aus dem Begriff Ästhetik entstanden. Wenn man das negative Suffix „An" zu Ästhetik hinzufügt, bedeutet es den Zustand des „Nichtfühlens". So wird es auch in der Medizin verwendet. Aber eigentlich wird Ästhetik als Anästhesie verwendet. Stellen wir uns die Ästhetik als eine Nadel vor. Die ausgehöhlte, fragmentierte Ästhetik des kapitalistischen Systems trifft die Menschen wie eine Nadel und betäubt sie. Sie verwandelt Wahrnehmung in Nicht-Wahrnehmung. Das ist eine sehr komplexe und verdeckte Operation gegen Frauen. Sie werden in hohle Roboter verwandelt, weil ihre intuitive Tendenz und Natürlichkeit all ihrer Inhalte beraubt wird. Es geht um äußerliche Schönheit, um ein schönes Aussehen. Kann es Schönheit ohne moralische Werte und Bewusstsein geben? Es gibt keinen historischen Hintergrund, keine soziologische Perspektive, keine Philosophie.
Auch das ist ein Kriegszustand gegen Xwebûn, das Selbstsein, von dem wir so viel reden.
Das ist es auf jeden Fall. Du bist nicht du selbst, du wirst zu einer vom System konstruierten Frau. Männer mögen Frauen mit den Maßen 90-60-90 oder Size Zero. Deshalb sagst du dir, du solltest auch Größe Null haben. Es geht nicht um gesellschaftliche Maßstäbe oder deinen eigenen Geschmack. Jemand gibt dir Anweisungen. Deine Augenbrauen sollen so sein, die Augen so, die Nase so, der Körper so. Es wird ein einziger Typus geschaffen, und das angeblich im Namen der Individualität. Die häufigste Lüge in der Werbung ist die, anders zu sein, neu zu sein. Aber wenn man zurückblickt, gibt es keinen Unterschied. Es gibt einen vollständigen Standard. Alle wiegen das Gleiche, tragen die gleiche Kleidung, haben die gleiche Nasenform. Schauen wir uns um, alle haben eine Nasenoperation hinter sich, alle haben die gleiche Nasenform. Warum sollte sie gleich sein? Wie man in der Gesellschaft sagt, hat Allah sie so geschaffen. Es ist eine Schönheit oder deine Natur. Sie ist eigentlich das Schönste. Warum muss man sie verändern? Warum überlässt du deinen Körper dem Kapitalismus? Es hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Frauen sterben bei dem Versuch, Gewicht zu verlieren. Sie sterben bei Operationen. Selbst wenn sie nicht sterben, kriechen sie. Es gibt einen ernsthaften Angriff auf die Gesundheit von Frauen.
Nach meinem Eindruck ist das von Ihnen beschriebene verzerrte Verständnis von Ästhetik im Nahen Osten noch stärker ausgeprägt.
Es ist auch im Westen sehr ausgeprägt. Aber die Menschen im Westen haben den Kapitalismus ein wenig früher erkannt. Das ist meine persönliche Interpretation, über dieses Thema muss diskutiert werden. Westliche Frauen haben die durch die Industrialisierung verursachten Schäden besser kennengelernt. Aber auch dort gibt es einen wichtigen Markt.
Ja, aber es wird eine besondere Politik im Nahen Osten betrieben.
Der Nahe Osten ist ein Gebiet, das nicht erobert und vollständig unter Kontrolle gebracht werden konnte. Die Politik, zuerst die Frauen anzugreifen und ihren Willen zu schwächen, ist eine imperialistische Politik. Sie folgt der Strategie: Lassen wir zuerst die Frauen des Nahen Ostens entgleisen, ziehen wir sie auf die kapitalistische Linie, dann können wir den Kapitalismus vollständig in der Gesellschaft etablieren. Der Orientalismus und der Möchtegern-Orientalismus beeinflussen den Nahen Osten, das ist ein wichtiger Punkt. Es gibt ein intensives Bombardement von Werbung und Verbreitungsmaßnahmen über zivilgesellschaftliche Organisationen. Der Angriff erfolgt sowohl an der Basis als auch über die Medien. TV-Serien zum Beispiel werden im Nahen Osten viel gesehen. Das Internet hat sich überall durchgesetzt. Es wird ein stereotypes Frauenbild geschaffen. Auch die Frauen im Nahen Osten sind auf der Suche, jeder Mensch ist auf der Suche, sie suchen ihren Idealtyp. Aber genau bei dieser Suche versucht der Kapitalismus, sich zu etablieren. Es gibt einen ernsthaften Markt und Anreize. Das sieht man sogar bei Frauen, die ein Kopftuch tragen. Das System versucht, das kapitalistische Frauenmodell bei allen auf unterschiedliche Weise zu etablieren. Es ist eine ernsthafte Operation, mit der Frauen betäubt werden. Es gibt Programme für schöne Frauen, Frisuren, Kleidung, Schuhe, es gibt Modeprogramme. In diesen Programmen wird alles, von der Tasche über die Schuhe und das Make-up bis hin zu den Haaren, einzeln bewertet. Damit wird ein Maßstab vorgegeben.
Es ist sehr seltsam, dass Frauen, die in sehr unterschiedlichen Ländern auf der Welt leben, die gleichen Schuhe und Kleider tragen.
Wir drücken Faschismus mit vielen politischen Begriffen aus. Eine Definition von Faschismus ist Mode, diese Art von Mode. Das kurdische Volk hat einen eigenen Kleidungsstil. Wenn du sie irgendwo siehst, sagt du, das ist kurdisch. Es ist wie eine Identität, eine kulturelle Struktur, sie ist schön. Aber wenn du sie in der ganzen Welt zur Mode machst, wenn du Menschen in Afrika kurdische Kleidung als industrialisierte Mode aufzwingst, dann wäre das Faschismus. Es wird vielleicht nicht mit Gewalt oder Waffen durchgesetzt, aber die Schönheit wird als Waffe benutzt. Es wird so getan, als ob verschiedene Alternativen angeboten werden, aber auch das ist eine Form von Faschismus und Homogenisierung. Es gibt keine Freiheit, wo es Homogenisierung gibt. Man nennt es Liberalismus, aber Liberalismus ist Freiheitlichkeit. Als etymologischer Ursprung des Begriffs ist er in diesem Sinne nicht liberal.
Er ist sinnentleert worden.
Wenn wir uns die Wurzel des Begriffs ansehen, ist er niemals frei. Wir sollten das kapitalistische System nicht einmal als liberal bezeichnen. Es ist ein völlig faschistisches System. Und es tut dies vor allem über die Frauen. Es wendet es auch auf Männer und sogar auf Kinder an. Schon von klein auf versuchen Mädchen, sich wie erwachsene Frauen zu verhalten.
Es wird ein Schönheitsmodell geschaffen.
Es wird dir übergestülpt. Du musst immer schön sein. Ja, du sollst schön sein, aber mit deiner eigenen Identität, deiner Kultur, deiner Moral, deinem Bewusstsein, deinen Worten, deiner Fähigkeit, Menschen anzusprechen. Warum sollst du mit deiner Nase, deinen Augenbrauen, deinem Körper schön sein? Vielleicht wiege ich ein paar Kilo, aber ich habe schöne Gedanken, ich habe sehr bedeutungsvolle Beziehungen, ich mache eine sehr schöne Arbeit. Das macht einen Menschen schön. Wenn ich nichts von alledem habe, aber körperlich alles befolge, was das System vorschreibt, was ist daran schön? Das ist die Anästhesie des Kapitalismus.