Viyan Leyla: Freies Denken basiert auf Gleichheit, Respekt und Vertrauen

„Wer kämpft, befreit sich, wer frei ist, ist schön, wer schön ist, wird geliebt.“ - Viyan Leyla (PAJK) erläutert die Grundsätze der Frauenbefreiungsideologie und und ihre Auswirkungen in der kurdischen Gesellschaft.

Die kurdische Freiheitsbewegung betrachtet die Frauenbefreiung und den Kampf gegen das Patriarchat als das Zentrum ihres Freiheitskampfes. Damit ist sie mittlerweile zu einer Avantgarde für soziale und revolutionäre Bewegungen weltweit und zur Vorreiterin des Frauenkampfes geworden. Die fünf Grundsätze der Frauenbefreiungsideologie sind die Liebe zum eigenen Land, die Entscheidung zum Kampf, Organisierung, freier Wille und freies Denken sowie Ethik und Ästhetik im Sinne einer Neudefinition von Schönheit: „Wer kämpft, befreit sich, wer frei ist, ist schön, wer schön ist, wird geliebt.“

Viyan Leyla von der Frauenpartei PAJK (Partîya Azadîya Jin a Kurdistan) hat in einer von Arjîn Baysal moderierten Sendung bei Jin TV über die Frauenbefreiungsideologie und die gesellschaftliche Verankerung der Frauenrevolution in Kurdistan gesprochen.


Wenn Abdullah Öcalan von der Frauenbefreiungsideologie sprach, wies er immer wieder auf die Bedeutung des freien Denkens und freien Willens hin. Worum geht es dabei?

Das Ziel der Verbreitung der Frauenbefreiungsideologie [ku. Bîrdoziya Rizgariya Jinan] war es, die gegenwärtige Situation der Frauen umzukehren. Es ging um die Frage, wie sich Frauen aus der vom patriarchalen und staatlichen System geschaffenen Situation befreien können. Aber warum eigentlich Befreiung? Hier kommt die Frage des freien Willens und des freien Denkens ins Spiel. Das patriarchale System hat alles ausgemerzt, was auch nur dem Namen nach der Wahrheit von Frauen entspricht. Die Ideen der Frauen wurden geraubt, ihr Wille wurde usurpiert. Das Patriarchat erwartet von Frauen, dass sie gehorchen und alle Wünsche unhinterfragt akzeptieren. Das als angebliche Freiheit propagierte Leben bedeutet noch mehr Sklaverei für Frauen. Welche Art von Leben wird heute als angemessen für Frauen angesehen? Entweder ist sie die Schwester eines Mannes, die Tochter des Mannes, die Ehefrau des Mannes oder die Geliebte eines Mannes. Alles hängt also vom Mann ab. Im patriarchalen System kann eine Frau ihre Existenz nicht ohne einen Mann definieren. Deshalb können Frauen im gegenwärtigen System keinen eigenen Willen vertreten. Eine Frau kann keine Entscheidungen über ihr Leben treffen.

Wie sie lacht, was sie trägt, wie sie aussieht, wie sie sich bewegt, welche Arbeit sie verrichtet, wie viele Kinder sie zur Welt bringt und wie sie sie aufzieht  all das wird in einem von Männern dominierten System entschieden und nicht von den Frauen selbst. Auch Regierungen und Männer, die die Macht vertreten, treffen Entscheidungen im Namen der Frauen. Frauen haben kein Mitspracherecht über sich selbst, über ihre Zukunft. So wird der Wille von Frauen gebrochen. Um Frauen als andersartig darzustellen, wird gesagt, sie seien schwach, könnten nicht denken, seien engstirnig, zu emotional, unbewusst, bedürftig, zerbrechlich, empfindlich. Deshalb heißt es, dass ein Mann gebraucht werde, um über die Geschicke der Frauen zu bestimmen. Selbst wenn ein Mädchen noch im Mutterleib ist, wird darüber diskutiert, was sie tragen wird. Die Geschlechterrollen werden dann bereits festgelegt.

Frauen werden nach bestimmten Mustern erzogen, es geht immer darum, wie sie eine Hausfrau, die Frau ihres Mannes oder die Tochter ihres Vaters sein sollen. Wenn eine Frau aus diesem Schema ausbricht, wird sie aus dieser Perspektive zu einer schlechten Frau. Auf Frauen lastet ein enormer Druck in Bezug auf den vermeintlichen Ehrbegriff und die gesellschaftliche Moral. Es gibt so viel Gewalt, Vergewaltigungen und Morde an Frauen. Durch diese Gewalt und den Druck sind Frauen in einen hilflosen Zustand versetzt worden. Zum Beispiel können sich heute nur sehr wenige Frauen laut äußern und ausdrücken. Sie können nicht so handeln oder lachen, wie sie möchten. Die Frauen haben keine Hoffnung und keine Willenskraft mehr. Selbst ihre Ideen sind nicht ihre eigenen, ihnen werden die Ideen der Männer aufgezwungen. In Schulen, Familien und am Arbeitsplatz werden besondere Anstrengungen unternommen, um die Frauen zu indoktrinieren. Es geschieht über Bücher und Medien des patriarchalen Herrschaftssystems.

Das patriarchale System weiß sehr genau, dass Frauen die führende Kraft in der Gesellschaft sind. Es weiß, dass über den Willen und das Denken der Frauen sehr einfach der Wille der gesamten Gesellschaft usurpiert werden kann. Es werden Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass Frauen die von den Männern für sie festgelegten Modelle nicht in Frage stellen und sofort akzeptieren. Wie werden Frauen heute zum Beispiel dargestellt? Es gibt im wesentlichen nur zwei Formen: Entweder sind es Frauen, die nach den Vorstellungen von Männern gestaltet wurden, also zum Beispiel Hausfrauen. Oder es sind vermännlichte Frauen, die die Stimme, die Gedanken und die Haltung von Männern angenommen haben. Das interessanteste Beispiel ist der Bereich der Politik. In der Politik ist das männliche Denken sehr dominant, und die Frauen dort agieren wie Männer. Wir haben viele derartige Beispiele erlebt, Tansu Çiller ist das offensichtlichste Beispiel dafür. Damit Frauen am Leben teilnehmen können, müssen sie wie Männer sein, sie müssen zu ihnen passen. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] beschrieb die derzeitige Lebensrealität von Frauen als die von einem Vogel im Käfig.

Die Frauenbefreiungsideologie wurde 1998 von Abdullah Öcalan vorgestellt. Könnten Sie noch etwas weiter auf die Betonung des freien Willens eingehen?

Als Frauen waren wir uns der Freiheit lange Zeit nicht bewusst. Heute geht es darum, dass Frauen ihre Sklaverei freiwillig akzeptieren. Diesen Ansatz verfolgt das Patriarchat. Frauen haben die Sklaverei als angeblich freies Leben akzeptiert. Heute erschafft der Kapitalismus gemäß seiner eigenen Ideologie ein falsches Leben. Er ermutigt die Frauen zu diesem Leben und stellt es als Freiheit dar. Frauen lassen sich davon täuschen und sehen dieses Leben als echte Freiheit an. Sie betrachten es als Freiheit, wenn sie sich wirtschaftlich ein wenig weiterentwickeln und sich in ihrer Kleidung ein wenig bequemer bewegen können, also wenn ihnen einige Bereiche eröffnet werden. Aber wir sind uns inzwischen durch unserer freies Denken der Freiheit bewusst geworden, und es hat ein Prozess des Hinterfragens begonnen. Eine Frau sollte sich selbst gehören, nicht dem Staat, der Familie oder dem Mann. Wir diskutieren auch über die Frage der Identität. Wie können wir eine Identität entwickeln? Viele Marxisten sprechen von „Selbstbestimmung“, das gilt umso mehr für Frauen. Wie können Frauen ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Zukunft bestimmen? Die Frau muss die Entscheidung treffen. Wenn sie mit einem Mann zusammenleben will, wenn sie in einer Familie leben will, wenn sie ein anderes Leben aufbauen will, dann soll sie das selbst entscheiden.

Frauen brauchen Wissen, um sich ihrer Stärken bewusst zu werden. Als Rêber Apo die Frauenbefreiungsideologie bekannt machte, betonte er den Punkt des freien Denkens und freien Willens. Der Platz, den eine Frau im Leben einnimmt, ist Ausdruck ihrer Entschlossenheit. Deshalb warnte Rêber Apo auch die Männer und sagte, dass sie das respektieren sollten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn eine Frau beispielsweise eine Entscheidung über ihr Leben trifft, nennt man sie eine Frau, die vom Weg abgekommen ist, eine unehrenhafte Frau, eine Frau, die getötet werden sollte. Wenn einer Frau Gewalt angetan wird, wenn sie ermordet wird, heißt es: „Sie muss gegen ihren Mann rebelliert haben, sie hätte ihren Mund halten sollen.“ Wenn eine Frau vergewaltigt wird, wird danach gefragt, warum sie dieses Kleid getragen hat und zu dieser Stunde unterwegs war. Der Wille und die Lebensart der Frau werden in Frage gestellt. Wenn es keine Gleichheit, keinen Respekt und keinen Glauben gibt, gibt es auch keinen freien Willen. Es gibt Repression, Angst und Unsicherheit. In gleichberechtigten, friedlichen Gesellschaften entstehen jedoch neue, alternative und freie Ideen.

Wie wirken sich Ihrer Meinung nach neben der Institution der Ehe die staatlichen Institutionen, insbesondere im Bildungsbereich, auf den freien Willen und das freie Denken aus?

Die staatlichen Institutionen sind nach der Logik des Staates aufgebaut. Sie basieren auf dem patriarchalen System. Alle Arbeit wird dem Geschlecht entsprechend erledigt. Wenn eine Frau zum Beispiel einen Job sucht, wird sie gefragt, ob sie heiraten will oder Kinder haben möchte. Auf einen Mann wird nicht der gleiche Druck ausgeübt. Es wird also alles festgelegt, Männer denken für die Frau, sie entscheiden für die Frau. Und sie zwingen die Frau, dementsprechend zu handeln. Dabei werden richtige Entscheidungen von willensstarken und frei denkenden Menschen getroffen, das überzeugt auch die Gesellschaft. Die Gesellschaft sollte den Frauen vertrauen. In der Wahrheit der Frauen liegen grundlegende moralische und politische Werte.

Wenn wir uns heute umschauen, welche moralischen Werte gibt es noch in Kurdistan? Frauen werden in die Prostitution getrieben, ins Exil verbannt, als „Ehefrauen“ genommen. Nichts im Sinne von Gesellschaft ist noch übrig. Eine Frau mit freiem Willen ist jedoch immer offen für Fortschritte. Sie stellt eine Gefahr für das patriarchale System dar, weil sie kämpft, sich organisiert und die Haltung von Frauen und die gesellschaftlichen Werte verteidigt. Für das patriarchale System ist das eine Gefahr. Die Frauenbefreiungsideologie ist nach den Phasen aufgebaut, die Frauen in ihrem Inneren durchlaufen haben. Jeder Grundsatz kann für sich alleinstehen, aber gleichzeitig ist er wie ein Kreis mit den anderen verbunden. Ohne die Liebe zum eigenen Land kann es keinen freien Willen und kein freies Denken geben. Wir sprechen hier von gesellschaftlichen, nationalen und kulturellen Werten, die mit der Liebe zum Land verbunden sind.

Eine Frau, die sich ihres Landes, der Werte ihres Landes, ihrer gesellschaftlichen Kultur und ihres sozialen Lebens nicht bewusst ist, wie wird sie leben, was wird sie denken? Natürlich hören wir nicht auf, nachdem wir einen freien Willen geschaffen haben. Wir entwickeln ihn zu einem bestimmten Zweck. Wenn eine Frau mit einem freien Willen und freien Gedanken sich nicht organisiert, kann sie angesichts von Angriffen zerbrechen, das ist eine Gefahr. Organisiert zu sein erfordert immer einen Kampf. Wie muss dieser Kampf gestaltet werden? Mit Frauenästhetik. Es gibt viele verschiedene Frauenorganisationen. Nicht alle sind so, aber wenn sie sich nicht vom Denken und Willen der Männer befreien, handeln sie danach und stärken das patriarchale System. Oder wir reden von Kampf, aber sie kämpfen nicht. Der Kapitalismus lässt viele Frauen frei aussehen, er zeigt einige Bewegungen, einige Aktionen, aber in Wirklichkeit wird damit nur das System gestärkt, es lebt davon. Die fünf Grundsätze der Frauenbefreiungsideologie verstärken sich gegenseitig, ohne das eine kann das andere nicht funktionieren. Rêber Apo hat uns eine Lebensformel für die Frauenbefreiung vorgelegt.

Die Frauenbewegung kämpft seit über 25 Jahren auf der Grundlage dieser Ideologie und in Rojava findet seit über elf Jahren eine Frauenrevolution statt. Ist die Frauenbefreiungsideologie Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft verankert?

Das ist sie auf jeden Fall. Was wir über die Frauenbefreiungsideologie sagen, ist nicht abstrakt. Es berührt das Wesen der Frauen, es berührt ihre soziale Realität. Das, worüber wir sprechen, ist nicht imaginär. Die Revolution in Rojava zum Beispiel basiert auf dieser Grundlage. Die Frauen, die diese Revolution anführen, kämpfen auf der Grundlage dieser Ideologie. Wie sollen Frauen ohne Ideologie eine Revolution anführen, wie sollen sie eine Revolution machen? In der Welt, in Kurdistan, bewegt sich nicht einmal ein Blatt ohne Ideologie. Wenn Frauen sich von der männlichen Ideologie befreien wollen, müssen sie eine Alternative haben, eine Frauenbefreiungsideologie. In der Revolution von Rojava sehen wir das Gesicht von Frauen. Auf dem Weg zur Freiheit haben viele Frauen auf der Grundlage dieser Ideologie ohne zu zögern ihr Leben geopfert und eine Frauenrevolution gestartet. Es gibt eine sehr ernstzunehmende Haltung gegen die Besatzung und die führende Rolle von Frauen ist ein wichtiger Aspekt.

Wie müssen Frauen also kämpfen, um ein freies Denken und einen freien Willen zu erreichen?

Der wichtigste Punkt ist Bildung. Frauen müssen Bildungsarbeit machen. Im patriarchalen Bildungssystem werden der Wille und die Gedanken von Frauen nicht akzeptiert. Frauen sollten eine alternative Bildung entwickeln. Alle sollten ihre Meinung frei äußern und sich an Diskussionen beteiligen können. Auch Rêber Apo hat die Frauenbewegung darauf hingewiesen und gesagt: „Die Frauenbewegung sollte sich auf die Bildung junger Frauen konzentrieren und sie nicht dem Staat und dem System überlassen.“ Wir sehen die aktuelle Situation und verstehen, warum er das gesagt hat. Die Frauenbewegung hat eine wichtige Rolle zu spielen. Wir dürfen unsere Mädchen und jungen Frauen nicht in den Händen von Männern lassen. Manche gehen zwölf Jahre lang zur Schule und studieren an Universitäten, aber sie können sich nicht schützen. Sie können keinen zusammenhängenden Satz sagen und wissen nicht, was sie wollen. Sie werden einer Gehirnwäsche unterzogen. In diesem Ausbildungssystem wird Sklaverei gelehrt, nicht Freiheit. Wir müssen Freiräume schaffen, damit alle eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten, die der Wirklichkeit der Frauen entspricht. Die derzeitige Wissenschaft ist sexistisch und rassistisch. Als Frauenbefreiungsbewegung entwickeln wir mit der Jineolojî eine Frauenperspektive auf das Leben.

Die Jineolojî ist keine Teilwissenschaft, sie ist umfassend und behandelt alle Wissenschaften mit der Logik und dem Blickwinkel von Frauen. Sie interpretiert alle sozialen Realitäten entsprechend der Wirklichkeit von Frauen. Dieses Thema interessiert Frauen auf der ganzen Welt, sie diskutieren es. Die Jineoloji gründet auf der Realität von Frauen und offenbart ihren Willen. Dieser Raum ist auch für das freie Denken und einen freien Willen wichtig. Wo Frauen 24 Stunden am Tag unter Druck, Angst und der Bedrohung durch Männer leben, können sie nicht über freies Denken und einen echten Willen sprechen. Rêber Apo hat uns die Theorie gezeigt und Frauen erleben jetzt in befreiten Gebieten, in den freien Bergen, die Freiheit der Selbstbestimmung. Sie gestalten ihr Leben auf der Grundlage ihrer eigenen Entscheidungen. Rêber Apo sagte einmal: „Sie haben andere Berge.“

Wir haben verschiedene Orte in freien Gebieten. Ideologische Arbeiten, autonome Akademien, autonome Räume, autonome Organisationen sind Beispiele dafür. Wenn Frauen sich zusammenschließen, sehen sie die Stärke der anderen und stellen sich ihren Realitäten. Jahrelang hat man uns gesagt, dass Frauen schwach sind und sich nicht selbst schützen können. Wir haben in den Bergen mit diesen Lügen aufgeräumt. Frauen verteidigen sich und andere, sie gehen voran und bestimmen den Verlauf des Krieges. Jahrelang wurde uns gesagt, dass Frauen lügen, dass sie eifersüchtig aufeinander sind, sich gegenseitig betrügen und sich nicht lieben. Hier sehen wir, wie Frauen sich gegenseitig unterstützen.