Im Rahmen einer feministischen Aktionswoche zum 8. März hatte die Basis-Antifa Lübeck in ihrem Themencafé am letzten Donnerstag die Hamburger Ethnologin und Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung, Anja Flach, zu Besuch. Flach hielt einen Vortrag über die Geschichte der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung und die Frauenbefreiungsideologie. Etwa 40 sehr interessierte Personen hörten dem Vortrag im Solizentrum in Lübeck zu und beteiligten sich an der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde. Zusätzlich gab es einen Büchertisch und es wurden Spenden für die Betroffenen des Erdbebens in der türkisch-syrischen Grenzregion gesammelt, die an die kurdische Rothalbmondorganisation Heyva Sor a Kurdistanê e.V. gehen.
Bevor Anja Flach mit dem Vortrag begann, machte sie auf das Erdbeben aufmerksam, durch das vor einem Monat vor allem auch kurdische und alevitische Gebiete zerstört wurden. „Die kurdische Bewegung hat versucht, sich so gut es geht selbst zu helfen“, erklärte Flach mit Blick auf Berichte über die Beschlagnahmung von Spenden und die bevorzugte Verteilung von Hilfsmitteln in Gebieten, die als Hochburgen der Erdogan-Partei AKP gelten. Trotz des Erdbebens werde der Krieg gegen Kurdistan weitergeführt, was erneut zu mehreren Toten geführt habe. Da es zu wenig Öffentlichkeit zu diesem Thema gibt, war es Anja Flach wichtig, es vorweg aufzugreifen.
Den Vortrag eröffnete Anja Flach mit einem Bild von Abdullah Öcalan und erzählte, dass er von Beginn an den Fokus auf die Frauenbefreiung gelenkt habe. Sie sprach über die Gründung der PKK im Jahr 1978 und darüber, wie die Bewegung immer größer wurde und sich nach dem Militärputsch 1980 aus der Türkei zurückgezogen habe. Bis zu 650.000 Revolutionär:innen seien damals von der türkischen Junta festgenommen worden. Viele wurden in den Gefängnissen gefoltert und auch ermordet. Doch auch im Gefängnis sei der Widerstand weiter gegangen. Dabei sei die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz, die im Januar 2013 in Paris vom türkischen Geheimdienst ermordet wurde, eine treibende Kraft gewesen.
Die PKK habe sich nach dem Putsch aufgeteilt: ein Teil sei damals in die Berge gegangen und habe dort eine bewaffnete Guerilla gebildet. Der andere Teil sei in den Libanon gegangen und habe sich dort weiter organisiert. Bereits zu dieser Zeit habe es einige Frauen in der Bewegung gegeben, die von der Guerilla in den Bergen begeistert und angezogen wurden, da diese als Ausweg aus dem damals sehr unterdrückten Leben für Frauen vor Kinder- und Zwangsheirat gesehen wurde. So haben sich auch viele noch sehr junge Frauen der Bewegung angeschlossen, was teils zu Ablehnung unter den männlichen Genossen geführt habe. Doch es habe auch Männer in der Bewegung gegeben, die ihre weiblichen Genossinnen akzeptierten und die für sie „wie große Brüder“ gewesen seien.
Mit der Zeit sei nach und nach eine autonome Frauenbewegung aufgebaut worden. 1986 kam diese Idee das erste Mal auf, 1989 wurde die Bewegung zur Befreiung der Frauen Kurdistans gegründet. 1992 habe es erste eigene Frauenräume in der Armee gegeben. Im selben Jahr fand auch der erste „Südkrieg“ statt. Es war das erste Mal, dass Frauen sich am bewaffneten Kampf beteiligten. Die erste Frauenbewegung, die Union der patriotischen Frauen in Kurdistan, sei Anfang der 1990er Jahre in Hannover gegründet worden.
Die weitere Entstehung der autonomen Frauenbewegung hat Anja Flach aus eigenen Erfahrungen berichtet. Sie war in der Parteischule der PKK in Damaskus gewesen, habe dort erste Erfahrungen mit der Bewegung sammeln und dann 1995 an einem Frauenkongress in den Bergen teilnehmen können. Sie hat diese Erfahrung als sehr inspirierend beschrieben, weil dort viele starke Frauen gemeinsam ihre Situation in Kurdistan analysiert haben und der Entschluss gefasst worden sei, eine eigene Frauenarmee aufzubauen. Durch ihren gesamten Bericht hat sich die Tatsache gezogen, dass es in der kurdischen Bewegung nicht nur um militärische und politische Fragen geht, sondern auch um tiefe Gesellschaftsanalysen, das eigene Hinterfragen von Geschlechterrollen und die Frauenbefreiung.
Mit Gründung der eigenen Frauenarmee habe sich auch eine Theorie der Loslösung verankert, die auf drei Prinzipien beruht: Liebe zum Land, Wille zum Kampf und Organisierung. Diese Theorie sei später um noch zwei Prinzipien erweitert worden: Freier Wille und Freies Denken sowie Ethik und Ästhetik.
1. Liebe zum Land bedeute, das Land zu verteidigen gegen die Vereinnahmung von außen, auch durch den Staat, und frei in dem Land leben zu können. Als Beispiele aus der deutschen Linken nannte Anja Flach den Kampf um Lützerath und den Hambacher Forst.
2. Wille zum Kampf bedeute, sich zu bilden und ideologisch stark zu machen, um kämpfen zu können.
3. Organisierung.
4. Freier Wille und Freies Denken bedeute, sich so weit zu bilden, dass diese beiden Dinge möglich sind. Dafür würden Akademien aufgebaut und Bildungsprogramme abgehalten.
5. Ethik und Ästhetik bedeute, dass Schönheit neu definiert werden muss. Es gehe nicht um Äußerlichkeiten, Schönheit basiere auf Freiheit und kulturellen Werten. „Wer kämpft, ist frei, wer frei ist, ist schön, wer schön ist, wird geliebt.“
Die immer stärker werdende Frauenbewegung habe auch eine wichtige Rolle in der basisdemokratischen Organisierung und im Aufbau der autonomen Selbstverwaltung in Rojava gespielt. Auf allen Ebenen der Selbstverwaltung gebe es autonome Frauenstrukturen, darunter eine eigene Frauenpresse, ein eigenes Frauenfernsehen und ein eigenes Frauenradio, was es sonst so auf der Welt nirgends gebe.
Als letztes erwähnte Anja Flach die Jineolojî, die Wissenschaft der Frauen, die zum Ziel habe, „die Gesellschaft zu erforschen und das Wissen direkt wieder in die Gesellschaft zu führen“. Sie solle einen Beitrag zur Überwindung des Patriarchats leisten. Als wichtige Akteurin im Aufbau der Jineolojî erwähnte Anja Flach die Revolutionärin Leyla Agirî (Filiz Aslan), die dem Exekutivrat der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) angehörte und im Juni 2020 durch eine türkische Killerdrohne getötet wurde.
Abschließend beantwortete Anja Flach eine Frage aus dem Publikum, wie die Frauenbewegung aus ihrer Diskontinuität gekommen sei: „Bildung und Organisierung sind die wichtigsten Schritte, die wir machen müssen.“ Beendet wurde der Beitrag mit einer Einladung an alle Anwesenden zur Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern“, die vom 7. bis 9. April in Hamburg stattfinden wird.