„Frauen müssen ihre eigene Verteidigungskraft bilden“

Şimal Ülkem Güneş (PAJK) erläutert im Interview die Notwendigkeit der Organisierung der Selbstverteidigung für alle Frauenbewegungen weltweit und sagt, es sei essentiell, Wege jenseits des Systems zu suchen.

Şimal Ülkem Güneş, Mitglied der PAJK-Koordination, hat in einem von Arjîn Baysal geführten Interview im Fernsehsender Jin TV über die kurdische Frauenbewegung und ihre Ideologie gesprochen. Sie kritisierte die Perspektive vieler Frauen weltweit auf die kurdische Frauenbewegung mit den Worten: „Sie denken, dass unsere Frauenorientierung auf der Grundlage von Anti-Männlichkeit aufbaut und dass unser Kampf durch den nationalen Kampf überschattet wird. Natürlich wollen wir die völkermörderische- und Vergewaltigerordnung überwinden, aber die Dialektik unseres Kampfes ist positiv und konstruktiv.“


Könnten Sie uns den von Abdullah Öcalan entwickelten Begriff der Frauenbefreiungsideologie etwas genauer erklären? Wie definiert die Frauenbewegung diesen Begriff und ihren Kampf?

Unsere Frauenbefreiungsideologie beruht auf mehreren Grundsätzen. Unser erstes Grundprinzip ist die Liebe zum eigenen Land. Wie wir immer wieder gesagt hat, können Frauen ohne Land, ohne Boden, weder sich als Gesellschaft organisieren noch frei sein. Die Frau braucht ihre Wurzeln.

Unser zweiter Grundsatz ist das Prinzip des freien Denkens und Willens. Wenn eine Frau sich nicht intellektuell befreit hat, wird sie immer zur Sklaverei verurteilt sein. Unser dritter Grundsatz ist die Organisierung. Dieses Grundprinzip ist eine unabdingbare Voraussetzung für Frauen. Erst wurde die Organisierung der Frauen aufgelöst und anschließend wurden die Frauen immer weiter abgewertet.

Ein weiterer Grundsatz ist die Entscheidung zum Kampf. „Mücadele“ (tr. für Kampf) ist etymologisch gesehen ein arabisches Wort und der Name einer Sure im Koran1 (al-Mujadalah/al-Mugadalah Sure 58, Scheidung). Sowohl als Sure als auch als Begriff bedeutet Mujadalah2 „die Frau, die ihre Rechte sucht“. Heute legitimiert der Islam, der von einer männlich dominierten Mentalität und einem männlichen System beherrscht wird, das Massaker an Frauen im Namen der Religion, während sein heiliges Buch eine solche Sure enthält.

Alle Themen, die wir in unserer Sendung Xwebûn behandeln, sind Themen, die mit Kämpfen zu tun haben. Das Leben von Frauen seit dem Tag unserer Geburt von schwierigen Kämpfen geprägt. Warum hat Abdullah Öcalan den Kampf zu einem der Grundsätze der Frauenbefreiungsideologie gemacht?

Nichts im Universum kann sich ohne Kampf weiterentwickeln. Wenn Frauen nicht kämpfen, können sie sich nicht verteidigen, ihre Identität nicht schützen und ihre Eigenart nicht bewahren. Der Kampf, von dem wir hier sprechen, ist kein Kampf, bei dem der Starke gewinnt und der Schwache verliert. Er ist nicht wie das herrschende System. In der Natur und im Menschen gibt es eine ständige Bewegung und einen ständigen Aufbau. Bis vor 50 Jahren konnten die kurdischen Frauen nicht sagen „Ich bin Kurdin“. Alle ihre Handlungen waren nach dem Mann ausgerichtet. Mit Rêber Apo [Abdullah Öcalan] trat der Frauencharakter in der kurdischen Revolution in den Vordergrund. Heute sehen wir, welches Niveau die Frauen erreicht haben. Wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt, doch unser Kampf geht immer weiter.

Sie haben gesagt, dass der Kampf durch das Recht auf Selbstverteidigung bestimmt ist, aber das System behauptet, dass der Kampf eine Revolte ist und sein einziges Ziel darin besteht, zu zerstören. Deshalb wird er als etwas Schlechtes dargestellt. Als Frauenbewegung haben Sie ein anderes Ziel. Sie bieten auch eine Alternative zu allem, was Sie ablehnen ...

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zielten die Kämpfe auf die Machtübernahme ab. Alle kämpften um die Macht. Nach dem Realsozialismus wurden viele Menschen ängstlich und gerieten in eine Krise; die Hoffnungen der Völker, der Frauen und der Jugend wurden enttäuscht. Als Rêber Apo den Realsozialismus analysierte, führte er deshalb auch theoretische und ideologische Diskussionen über Frauenbewegungen und den Charakter der Frau und kritisierte die Sackgasse des Realsozialismus. Nach seiner Gefangennahme im Jahr 1999 entwickelte er den ideologischen Kampf weiter. Viele Menschen kennen uns, die Frauenbewegung, nicht. Sie halten uns für klassische Kommunistinnen und Sozialistinnen und denken, unser Ziel sei die Errichtung eines Staates und einer Armee. Auch die Frauenbewegungen sehen die Freie Frauenbewegung Kurdistans als kurdische Feministinnen. Sie sind der Meinung, dass wir die Frauenbewegung auf der Grundlage einer männerfeindlichen Gesinnung entwickeln und dass unser Kampf vom nationalen Kampf überschattet wird. Sie definieren unsere Bewegung auf eine sehr schematische Weise. Natürlich zielen wir darauf ab, die Völkermord- und Vergewaltigerordnung zu beseitigen, aber die Dialektik unseres Kampfes ist eine positive und konstruktive Dialektik. Sie lässt die Dinge beiseite, die für die Gesellschaft nicht von Nutzen sind, und betont die guten Dinge.

Hunderte von Frauenkämpfen haben sich in diesem Jahrhundert entwickelt, aber wir sehen, dass diese Kämpfe nicht miteinander verbunden sind. Sie sind an einem Ort Aufstände und an einem anderen vorübergehende Kämpfe. Glauben Sie, dass diese Formen des Kampfes ausreichend sind?

Von 2010 bis heute haben Frauen in Kurdistan, im Nahen Osten und in der ganzen Welt sehr bedeutende und wichtige Aufstände verwirklicht. Der jüngste war der „Jin Jiyan Azadî“-Aufstand. Dieser Aufstand schöpfte seine Kraft und Inspiration aus der kurdischen Guerilla und der Rojava-Revolution. Man kann sagen, dass sich die Proteste der Frauen manchmal zu Aufständen entwickeln. An Tagen wie dem 25. November und dem 8. März werden Frauenproteste massiver durchgeführt, aber auch wenn es diesen Kämpfen gelungen ist, den Frauenkampf auf die Tagesordnung zu setzen und das männerdominierte System zur Diskussion zu stellen, wird dennoch vor allem ein Kampf für mehr Rechte geführt, während auf der anderen Seite auch um einen stärkeren Platz im System und eine bessere wirtschaftliche Position gekämpft wird. Gleichzeitig gibt es aber eine weitere Seite, die sich als Alternative zum Dritten Weltkrieg versteht und die Welt mit der Farbe der Frauen befreien und schöner machen will.

Sie haben Recht, es gibt einen Kampf, aber wir erreichen nicht die gewünschten Ziele. Worauf führen Sie das zurück?

Die Strategie der legitimen Selbstverteidigung war schwach. Es stimmt, dass Frauen sehr mutig sind, sich aufopfern und sich einsetzen. So wie die Pariser Kommune nicht lange überlebt hat, weil ihre Selbstverteidigung schwach war, denke ich, dass dieser Aspekt auch im Kampf der Frauen fehlte. Die Frauenbewegungen müssen sich selbst verteidigen und eigene Kräfte zur Verteidigung ihrer Bewegungen aufbauen. Alle Besatzungs- und Hegemonialsysteme verfügen über Verteidigungskräfte, um sich zu schützen. Hegemoniale Systeme verlängern ihr Leben meist durch Krieg. Wenn es keinen Krieg gibt, kann sich die Rüstungsindustrie nicht entwickeln; wenn es keinen Krieg gibt, kann die Demografie nicht im Interesse des Systems genutzt werden; wenn es keinen Krieg gibt, gibt es keinen Hunger, dann können die Frauen nicht zerstört und ihre Werte nicht angegriffen werden. Der türkische Staat setzt chemische und sogar nukleare Waffen gegen unsere Kräfte ein. Er will sowohl die Guerilla als auch die Natur zerstören.

Wenn einer der fehlenden Aspekte die Selbstverteidigung ist, so ist ein anderer Aspekt die Unfähigkeit von Frauen, sich zusammenzuschließen und zu organisieren ...

Natürlich ist für die Entwicklung der Selbstverteidigung Organisierung notwendig. In einer Zeit, in der Frauen nur als Ware betrachtet werden, müssen wir all diese Themen diskutieren. Es wäre nicht richtig, nur unter uns zu diskutieren und so zu tun, als hätten wir kein Sicherheitsproblem. Was ich allen Frauen empfehlen würde, ist die Verbesserung unserer Organisierung. Als Frauenbewegung Kurdistans können wir das tun, denn wir haben einen Anspruch, ein Projekt und eine Ideologie. Warum bilden wir nicht eine Front gegen dieses System? Warum bauen wir nicht eine Frauenkoalition auf?

Es werden Schritte für die von Ihnen genannten Dinge unternommen, das sollten wir auch sehen. Im Nahen Osten sehen wir zum Beispiel, dass sich kurdische, assyrische und arabische Frauen in Rojava zusammenschließen. Auch in Şengal kommen kurdische und arabische Frauen zusammen ...

Wir sehen auch, auf welche Art Frauen angegriffen werden. Organisierte Bewegungen werden am stärksten angegriffen. Im Nahen Osten wird die kurdische Freiheitsbewegung und vor allem die Freiheitsbewegung der Frauen rund um die Uhr systematisch angegriffen. Alle unsere Aktivistinnen und Führungskräfte stehen auf der roten Liste, sie werden in den Städten und in den Bergen ins Visier genommen, weil sie als eine große Gefahr angesehen werden. Man betrachtet unsere Vernichtung als Existenzvoraussetzung.

Die Frauen Afghanistans standen einst unter der Vorherrschaft der USA und jetzt unter der Herrschaft der Taliban. Darüber hat es in Ihrer Bewegung Diskussionen gegeben. Das ist ein gutes Beispiel ...

Wir begrüßen den Kampf der Frauen in Afghanistan und möchten betonen, dass wir bis zum Ende an ihrer Seite stehen. Vor einiger Zeit haben wir eine Bewegung für die afghanischen und ezidischen Frauen ins Leben gerufen. Natürlich kann diese Situation nicht mit einer einzigen Aktion gelöst werden, es bedarf kreativer Aktionen und Arbeit. Wie der Vogel Simurgh3 müssen wir gemeinsam kämpfen.

Wie aus Ihren Bewertungen hervorgeht, geht es also nicht nur darum, die Situation der Frau zu analysieren und ihre eigene Unterdrückung zu erkennen. Es gibt eine gewisse Hemmung im Kampf und in der Organisierungsfrage. Die Frauen haben sich zum Ziel gesetzt, dieses Jahrhundert zum Jahrhundert der Frauen zu machen. Was schlagen Sie also vor?

Wir müssen die Geschlechter- und Frauenfrage zum Hauptthema machen. Wir müssen unsere Organisation stärken. Wir müssen unser konföderal-autonomes System entwickeln. Es gibt die Feststellung, dass Frauen kein Manifest haben, dass sie keine Ideologie haben. Frauen führen manchmal Diskussionen in dieser Richtung. Wir können das Frauenmanifest im Zusammenhang mit dem freiheitlichen, ökologischen und demokratischen Paradigma und dem Gesellschaftsvertrag diskutieren. Es stimmt, dass es eine Blockade gibt, aber nur an einer Front. Wir können diese Situation aufbrechen.

Wenn wir über den Frauenkampf sprechen, müssen wir auch Revolutionärinnen wie Sakine Cansız und Evîn Goyî erwähnen. Wir sind ihrem Kampf zu Dank verpflichtet. Gerade war der Jahrestag ihres Todes, wollen Sie dazu etwas sagen?

Ich erinnere voll Respekt an unsere beiden Genossinnen und an Heval Rojbîn (Fidan Doğan) und Ronahî (Leyla Şaylemez). Wir werden ihre Ziele und Wünsche auf jeden Fall verwirklichen. Heval Sara war eine der Gründerinnen unserer Partei. Sie kämpfte mehr als 40 Jahre lang in der Freiheitsbewegung. Die herrschenden Mächte haben es auf die Frauen abgesehen, die sie als am gefährlichsten für sich betrachten. Heval Sara und Heval Evîn waren Vorreiterinnen unseres Volkes. Heval Evîn kam aus dem Herzen von Botan und verbrachte ihr Leben in unserer Organisation. Sie wurden besonders ins Visier genommen. Wir verurteilen beide Komplotte. Ich sage Komplott, weil Rêber Apo es als Komplott definiert hat. Ich gedenke aller gefallenen revolutionären Frauen in Person dieser beiden Genossinnen.


1 al-Mujadalah/al-Mugadalah Sure 58: In diesem spezifischen historischen Kontext betont der Vers das Recht von Frauen, ihre Anliegen zu äußern und Gerechtigkeit zu suchen. Es wird darauf hingewiesen, dass Gott die Beschwerden der Frauen hört und dass die Rechte der Frauen geschützt werden sollten.

2 Die Etymologie des arabischen Wortes „Al-Mujadalah“ (المجادلة) kann auf das arabische Wurzelwort „جادل“ (jadala) zurückgeführt werden, das die Bedeutung von „argumentieren“, „debattieren“ oder „streiten“ hat. „Mu“ ist ein Verstärkungspräfix. Baysal bezieht sich mit ihrer Aussage eher auf die koranische Auslegung des Begriffs entlang oben genannter Sure, die auch mit „die Frau, die ihr Recht sucht“ übersetzt wird.

3 Simurgh oder kurdische Semrûk bedeutet von der Wortabstammung her „30 Vögel“ (farsi: Si – dreißig, Murgh – Vogel), Semrûk ist ein phönixartiges mythisches Wesen. In verschiedenen Geschichten und epischen Gedichten sowohl persischer als auch kurdischer Herkunft, insbesondere im "Siyâsatnâme" (Buch der Politik) in der berühmten epischen Dichtung „Mantiq al-Tayr“ (Konferenz der Vögel) von Fariduddin Attar, spielt der Simurgh eine zentrale Rolle. In der „Konferenz der Vögel“ ist der Simurgh der weise Führer der Vögel, zu dem sie aufbrechen, um spirituelle Erleuchtung zu suchen. Auf ihrer Reise überwinden die Vögel viele Hindernisse, um schließlich festzustellen, dass der Simurgh in Wirklichkeit in ihnen selbst existiert. Der kurdische Literat Feqîye Teyran/Mir Mihemed aus dem Fürstentum Cizîrê Botan griff im 17. Jahrhundert das Motiv in seiner kurdischen Epik und Lyrik auf. Bereits sein Künstlername Feqîye Teyran bedeutet übersetzt „Schüler der Vögel“. Teyran verfasste unter anderem die erste Grammatik des Kurmanci.