Ethik und Ästhetik in der kurdischen Frauenbefreiungsideologie II

„Ein umfassender Spezialkrieg wird sowohl gegen Widerständige als auch gegen das soziale und kulturelle Gefüge und ihre Moral geführt. Rêber Apo hat diese Situation als ein Massaker an der Gesellschaft bezeichnet.“ Interview mit Çiğdem Doğu (KJK), Teil 2

Çiğdem Doğu, Koordinationsmitglied der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans), hat in einem von Arjîn Baysal geführten Interview im Fernsehsender Jin TV über Ethik und Ästhetik in der kurdischen Frauenbefreiungsideologie gesprochen. Wir veröffentlichen den zweiten Teil des Interviews in deutscher Übersetzung.

Was mich am meisten interessiert, ist die Frage, wie Ethik und Ästhetik zusammenkommen, sich miteinander verbinden. Rêber Apo stellt beide Bereiche grundsätzlich nebeneinander. Aber lassen Sie uns erst über Ästhetik sprechen, als ein schwammiger Begriff innerhalb des gegenwärtigen Systems. Welche Bedeutung hat Ästhetik?

Ästhetik ist begrifflich etwas schwierig zu deuten. Das Wort ist griechischen Ursprungs, die etymologische Bedeutung geht auf aísthēsis zurück. Es bedeutet Wahrnehmung, Empfindung. Man kann es als eine Art Lehre der Empfindungen bezeichnen. Was hat das nun mit Schönheit zu tun? Es gibt da einige Geheimnisse. Wir bewerten Phänomene sowohl universell als auch gesellschaftlich. Was hat die Ästhetik, die Lehre von der Schönheit, mit Ethik zu tun, inwiefern hängt sie mit universellen Phänomenen zusammen, warum betrifft sie die Gesellschaft und den Einzelnen so sehr?

Und wie passen Moral und Schönheit zusammen?

Sie sind wie Zwillingsschwestern. Manche Dinge sind auch intuitiv. Wenn wir uns die Menschen, die Gesellschaften und die Geschichte ansehen, dann gibt es in allem eine Suche nach Schönheit, im Guten wie im Schlechten. Die herrschenden Machtsysteme haben es verzerrt, aber darüber werden wir später noch sprechen. Es gibt eine solche Suche in der inneren Dynamik des Lebewesens, und sie ist nicht auf den Menschen beschränkt. Auch in der Tierwelt gibt es ein Verhältnis von gegenseitiger Sympathie und Abneigung. Das eine Tier versucht dem anderen zu gefallen. Oder es gibt Vögel, bei denen das Männchen schöne Nester baut, um dem Weibchen zu imponieren. Die Lauben müssen als schöner und stabiler Nistplatz abgesegnet werden. Ist das Weibchen nicht zufrieden, lehnt es das Nest ab. Hier gibt es also eine Suche nach Schönheit. Warum sind die Berge in Kurdistan so schön? Es gibt einen Ansatz, um Schönheit zu definieren. Jeder Mensch möchte in einer schönen Umgebung leben. Oder jeder Mensch möchte sowohl körperlich als auch spirituell schön sein. Allerdings erscheint heute vieles sinnentleert. Die Maßstäbe sind kompliziert geworden. Aber es gibt eine solche Tendenz. Nicht alles kann als schön bezeichnet werden.


Können wir sagen, dass Schönheit etwas Relatives ist?

Die Ideologien haben sie relativiert. Oder, als die moralische Struktur schwächer wurde, wurden die Maßstäbe für Schönheit komplexer und korrupter. Es gibt diese Schönheitswettbewerbe. Sie wählen die schönste Frau der Welt und setzen ihr eine Krone auf den Kopf. Die Art und Weise, wie sie sich präsentiert, wie sie sich vermarktet, wie sie sich nur über ihren Körper definiert, empfinde ich nicht als schön. Sie gilt als die schönste Frau der Welt, aber wenn ich sie nach meinen Maßstäben, nach ethischen und ästhetischen Gesichtspunkten betrachte, erscheint sie mir nicht schön. Einige Gemeinschaften in Afrika etwa haben sehr unterschiedliche Merkmale. Gleichermaßen verhält es sich in Kurdistan, in indigenen Gemeinschaften, in China, in Japan. Aber es sind kulturelle Besonderheiten, die schön sind, und zur Gesellschaft gehören. Beispielsweise Angehörige eines indigenen Volkes in Afrika mit ihrer Kleidung, ihren Tätowierungen, ihren Farben, ihrem besonderen Haarstil; all das gehört zu ihrer kulturellen Identität und ist sehr schön. Aber wenn man diese Merkmale in eine industrielle Mode verwandelt, werden sie hässlich.

Können wir sagen, dass Schönheit auch einen Zweck hat? Und dass sie ihr Wesen verliert, wenn sie instrumentalisiert wird?

Wenn sie instrumentalisiert und vermarktet wird, dann wird sie hässlich. Aber es gibt sehr schöne Werte, die durch diese Schönheit in ihrem eigenen kulturellen und sozialen Gefüge geschaffen werden. Mit anderen Worten: Sie nährt auch die Moral. Schönheit in Verbindung mit Ethik nährt die Moral. Warum ist Kunst, ein Gemälde, eine Skulptur, ein architektonisches Bauwerk, Literatur, Kino so wichtig? Weil die Kunst sich mit der Schönheit befasst, sie versucht, Schönheit auszudrücken. Gleichzeitig versucht sie aber auch, die Moral zu offenbaren. Der künstlerische Ausdruck der Schönheit erweitert den Menschen, erweitert seinen Horizont, erweitert seine moralische Welt und fügt einen Sinn hinzu. Diese Schönheit fügt der Welt der Bedeutung neue Bedeutungen hinzu. Sie stärkt und vertieft unsere Moral und macht uns menschlich. Schönheit ist nicht nur eine physische Sache. Schönheit schafft Bedeutung. Schönheit übt eine Anziehungskraft aus. Der Mensch will alles Schöne betrachten. Er möchte dem Schönen näher sein. Wenn diese Schönheit von Ethik begleitet wird, verleiht sie dem Menschen Würde.

Wenn wir auf die Gegenwart zurückkommen, frage ich sowohl in Bezug auf das kapitalistische System als auch auf die männerdominierte Welt: Wie gehen diese Systeme mit ethischer Ästhetik um und wie zwingen sie diese den Frauen und der Gesellschaft auf?

Das kapitalistische System stellt den Höhepunkt sowohl des männerdominierten Systems als auch der letzten Generation der zivilisatorischen Systeme dar. Mit dem aufkommenden Szientismus spitzte sich die Realität der Macht und der Ausbeutung sowohl hinsichtlich der Frauen als auch in Bezug auf die Gesellschaft weiter zu. Die Ausrichtung des kapitalistischen Systems auf die Gesellschaft, das Leben, die Moral und die Frauen ist zusammen mit der männlich dominierten Mentalität sehr umfassend. Der Kapitalismus weiß sehr genau, dass Gesellschaft Moral bedeutet, Moral bedeutet Frauen, Frauen bedeuten Leben. Wir sagen ständig Jin Jiyan Azadî. Das ist inzwischen in der Welt universell geworden. Kapitalismus und Patriarchat sind bestens vertraut mit der Tatsache, dass Frauen Leben und Freiheit bedeuten. Sie haben sehr wohl erkannt, dass sie Moral und Schönheit sind. Wie können sie also ihre Herrschaft über diese Realität fortsetzen, wie können sie diesen Willen unterdrücken, beherrschen? Gerade in diesem Bereich gibt es intensive und ernsthafte Aktivitäten.

Es gibt eine Realität, die wir als Spezialkrieg definieren. Es gibt die klassischen Kriege zwischen Staaten und jene, die die Kriegsrealität nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrückt; begrenzte oder lokale Kriege, sowie die psychologische Kriegsführung. Das „Spezielle“ der genannten Kategorie wurde inhaltlich allerdings völlig verallgemeinert. Ein umfassender Spezialkrieg wird sowohl gegen diejenigen, die Widerstand leisten, als auch gegen das gesamte soziale und kulturelle Gefüge der Gesellschaft und ihre Moral geführt. Rêber Apo hat diese Situation als ein Massaker an der Gesellschaft bezeichnet. Er sprach von der Zerstörung der Frauen, der Zerstörung des Lebens und der Zerstörung der Moral. Wie ich schon sagte: Wie kann man die Gesellschaft zerstören? Man kann es tun, indem man die Moral bricht. Wo kann man die Moral brechen? Dort, wo der Willen der Frauen geschwächt und gebrochen wird. Es ist schon ein Paukenschlag. Die Antwort auf die Frage, warum der Kapitalismus in Europa zu einem System wurde, ist schwerwiegend und hat überregionale Bedeutung. Denn wenn wir uns den Entwicklungsprozess dieses Systems ansehen, werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass Millionen von Frauen verbrannt und zu Tode gefoltert wurden.

Rêber Apo hatte treffend formuliert: „Das kapitalistische System wurde aus der Asche der verbrannten Hexen erbaut.“ Was geschah damals? Durch das Abschlachten dieser Frauen wurde die Moral der Gesellschaft geschwächt. In dem Maße, in dem die Moral geschwächt wurde, verlor die Gesellschaft ihre Stärke, und die Dynamik des Widerstands wurde ausgehöhlt. Zweifellos ging der Widerstand weiter, aber sein Gebiet wurde eingegrenzt. Der Kapitalismus und männerdominierte Systeme sind bestens vertraut mit dieser Formel. Wenn man die Moral brechen will, wenn man die grundlegende Lebenskraft und die Freiheit der Gesellschaft brechen will, wird man zuerst Frauen töten, sie vergewaltigen, versuchen sie ihrem Geist zu berauben, ihre Emotionen vernichten, ihren Raum eingrenzen und ihren Willen zerstören. Je mehr man das tut, desto schwächer wird die Moral.

Was will man also mit der Erniedrigung und Zerstörung der Frauen erreichen?

Das kapitalistische System ist ein vollkommen monetarisiertes System. Ein System, in dem das Geld vergöttert wird. Je mehr Geld man hat, desto mächtiger ist man. Je mehr materiellen Reichtum man hat, desto mehr Macht hat man. Eigentlich sollten wir nicht Macht sagen, Macht ist ein etwas anderes Phänomen. Herrschaft ist das richtige Wort. Sie sind die herrschende Macht, die hegemoniale Macht. Und das hat keine Grenzen. Um das tun zu können, muss die Gesellschaft willensschwach, stumm und unkultiviert werden. Wir leben zum Beispiel in den Bergen. Die Guerilla kann alle Aspekte ihres Lebens organisieren, ohne einen Lebensmittelladen, andere Geschäfte oder Elektriker. Sie kann ihr Leben in jeder Situation meistern. Auch natürliche Gesellschaften sind so. Sie sorgen für ihre eigene Wirtschaft, ohne von jemandem abhängig zu sein. Dies ist ein Aspekt der Moral. In einer Stadt kann ein Mensch seine Anforderungen nicht aus eigener Kraft erledigen. Wenn der Strom ausfällt, muss er einen Elektriker rufen, wenn es kein Wasser gibt, muss der Entstörungsdienst her. Ist das Brot alle, kann er sich kein eigenes backen.

Der Mensch wird abhängig, er vergisst zu schaffen.

Das kapitalistische System nimmt ihm die Fähigkeit, zu Erschaffen. Die Technik ist so weit entwickelt, dass man alles per Knopfdruck erledigen kann. Das fühlt sich sehr bequem an. Aber diese Bequemlichkeit raubt dem Menschen seine Fähigkeiten und lässt ihn hilflos zurück. Eine moralische Gesellschaft bringt unter allen Umständen ihre eigenen Lösungen hervor. Sie ist wie ein lebenstüchtiger Organismus. Doch das System nimmt ihr alles, stiehlt ihre Arbeitskraft und verkauft sie ihr zurück, macht sie zu einem freiwilligen Sklaven. Das ist Politik. Es macht die Menschen unfähig zu denken, zu arbeiten oder gar zu fühlen. Aber es gibt noch weitere verhängnisvolle Dimensionen. Betrachten wir nun die Realität der Türkei und der Welt aus der Perspektive der Frau. Seit fünftausend Jahren gibt es männerdominierte und sexistische Übergriffe, Traditionen und Massaker. Wir sind an einem Punkt, an dem Frauen täglich auf den Straßen ermordet werden. Jeden Tag sterben Frauen in ihren Städten und Vierteln. Jeden Tag werden Frauen vergewaltigt. Jeden Tag sind Frauen Gewalt und Demütigung ausgesetzt. Was für eine Gesellschaft ist das? Wie kann sich ein Kind, das so aufwächst, entwickeln? Was für eine Jugend ist das? Wie sehr schränkt jede geschwächte Frau die Moral ein? Diese Frau kann ihren eigenen Willen nicht ausdrücken. Sie kann sich in der Gesellschaft nicht ausdrücken, sie kann nicht auf die Straße gehen, sie kann nicht arbeiten. Vergewaltigt zu werden ist ein sehr erniedrigender und grausamer Akt. Wie weit kann sich ein moralischer Wille entwickeln, wenn ein Mensch einem Übergriff wie diesem ausgesetzt wurde? Die Moral wird Schritt für Schritt herabgesetzt. Im Fernsehen sehen wir, wie ein Mann eine Frau angreift, sie schlägt und die anderen Leute nur zuschauen. Das ist doch ein moralischer Maßstab. Was ist Moral? Wenn der Mensch seinen Mitmenschen hilft. Das ist auch ein Aspekt der Ehre. Jemand versucht vor meinen Augen, jemanden zu töten. Du greifst ein, versuchst die Tat zu verhindern, Konflikte zu lösen. Alles andere Gleichgültigkeit.

Es gibt die verzerrte Wahrnehmung vom vermeintlichen Eigentum und Privatleben, das zu sehr in den Vordergrund gerückt werde. Einmischung gilt als Tabu.

Wir sprechen von dem Phänomen, wonach die Frau das „Eigentum“ von jemandem ist. Auch Emotionen und Sensibilität werden auf diese Weise abgetötet. Lebenswichtige Ereignisse finden statt, aber die Menschen erheben ihre Stimme nicht. Als Twitter eine Zeitlang in der Türkei blockiert war, gab es von allen Seiten krasse Reaktionen. Nun gut, es ist ein Kommunikationskanal, und Kritik kann man gewiss formulieren und gegen die Sperrung protestieren. Aber es gibt noch viel dringendere Probleme als die Sperrung von Twitter. Es gibt das Problem des Krieges. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass man sich aus welchen Gründen auch immer des Krieges nicht bewusst ist, was ist mit dem Armutsproblem, der Unterdrückung im Leben? Du kannst dich nicht frei artikulieren, bist unfähig Kritik zu üben, man wird als Mensch ignoriert. Die Desensibilisation der Gesellschaft, ihre Abstumpfung steht in engem Zusammenhang mit der Schwächung des moralischen Gefüges. Es findet sowohl eine schrittweise Desensibilisierung als auch eine weitere intellektuelle Verengung statt.

Im Jahr 2022 wurde Jîna Eminî in Iran ermordet. Ihre Mörder nennen sich Sittenpolizei.

Das ist ein eindrückliches Beispiel. Die Frau drückt die Moral der Gesellschaft in Rojhilat [Ostkurdistan] aus. Offensichtlich hat sie auch eine Haltung gegen das iranische Regime. Dass sie kein Kopftuch trägt, bringt das zum Ausdruck. Widerstand ist einer der grundlegenden Aspekte der Moral. Tragischerweise schafft das System auch eine Polizei der Moral. Moral kann nicht etwas sein, das durch polizeiliche Maßnahmen, Sicherheitsinstrumente und erzwungene Unterdrückung geschaffen wird. Sie hat sich auf natürliche Weise gebildet. Im Neolitikum hatte niemand einen Polizeiknüppel in der Hand und zwang die Menschen mit Gewalt dazu, sich aufzustellen.

Es ist eine Realität, die die Menschen mit ihrer Liebe, ihrem Respekt, ihrer Kreativität, ihrer Produktion, ihrer Ethik und ihrer Ästhetik entwickelt haben. Eine Moralpolizei ist etwas sehr Tragisches und widerspricht dem Wesen der Moral. Die Verwirklichung dieser Angriffe, die große Reaktion der Gesellschaft auf die Ermordung von Jîna Eminî – ob in Rojhilat oder anderen Regionen des Landes – hat gezeigt, wie widersprüchlich eine Polizei für Moral ist. Die Gesellschaft sagte, nicht das System vertritt die Moral, sondern wir. Wir repräsentieren sie, indem wir uns als Gesellschaft zur Wehr setzen.