Erdal: Entweder befreien sich die Kurden, oder sie verlieren

Im Kontext der türkischen Expansionspolitik sei die nationale Einheit die wichtigste Notwendigkeit für die Zukunft des kurdischen Volkes, sagt Bahoz Erdal (HPG). „Uns erwartet eine gemeinsame Zukunft. Entweder befreien wir uns, oder wir verlieren.“

Der Guerillakommandant und Arzt Dr. Bahoz Erdal aus dem zentralen Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel) hat sich in einer Sondersendung beim kurdischen Sender Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus seinen Bewertungen in mehreren Teilen. Im vorliegenden zweiten Teil geht Erdal auf die Notwendigkeit einer innerkurdischen nationalen Einheit ein. Insbesondere im Kontext der Aggression des türkischen Staates in Rojava, den Besatzungsangriffen in Südkurdistan und dem politischen Vernichtungsfeldzug der Türkei gegen die kurdische Opposition diskutieren die Kurden schon länger ihre nationale Einheit.

Angriff auf Rojava ließ Kurden emotional zusammenwachsen

Die Angriffe des türkischen Staates auf Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) haben das Bewusstsein des kurdischen Volkes für eine nationale Einheit gestärkt. Erdoğan wollte die Kurden spalten und gegeneinander ausspielen, erwirkte mit seinem Angriff letztlich, dass sie sich vereinen. Das ist eine Realität. Die Kurden sind spirituell und emotional zusammengewachsen und haben sich gemeinsam gegen den Angriff erhoben. Dies ist in den vier Teilen Kurdistans, im Ausland, ja überall auf der Welt geschehen.

Die Bevölkerung Südkurdistans hat seit dem ersten Tag der Angriffe eine sehr kraftvolle nationale Haltung an den Tag gelegt. Junge Menschen und solche aus allen anderen Schichten der Gesellschaft schlossen sich dem Widerstand an. Von Intellektuellen bis zur Presse und den Medienschaffenden haben alle eine positive Rolle eingenommen. Auch in Ostkurdistan hat sich unser Volk für den Widerstand entschieden. Und ganz gleich, wie viel Repression und Terror die Bevölkerung Nordkurdistans zu spüren bekommt, schlägt ihr Herz für Rojava. Das wissen wir von ihrer Haltung zum Kampf um Kobanê und sehen es auch an ihren Aktionen, mit denen die Verbundenheit mit dem Widerstand zum Ausdruck gebracht wird.  

Überall riefen die Kurden dieselben Parolen und erlebten dieselben Gefühle. Jeder hat gesehen und verstanden, dass sich dieser Angriff nicht nur gegen Serêkaniyê richtet, sondern gegen alle Kurden. Jeder Kurde hat es gefühlt und verstanden. Das ist sehr wichtig. Zum ersten Mal waren alle kurdischen Medien eins. Intellektuelle, Kunstschaffende, alle Teile der kurdischen Gesellschaft zeigten eine sehr starke nationale Haltung. Was drückten die Kurden damit aus?

Kurdische Einheit ist wichtigste Notwendigkeit

Sie zeigen uns damit, dass die nationale Einheit der Kurden die wichtigste Notwendigkeit für die Zukunft unseres Volkes ist. Es ist der belangvollste Punkt auf unserer Agenda. Die Kurden rücken näher zusammen. Dies ist eine sehr gute und positive Entwicklung. In Hewlêr, Silêmanî und Mahabad fühlen die Menschen den Schmerz von Serêkaniyê, so wie in Amed und Europa der Schmerz von Kobanê gespürt wurde. Auf diese Weise hat sich ein Geist der nationalen Einheit entwickelt.

Das kurdische Volk hat eine Botschaft an die Kräfte, die ihren politischen Willen repräsentieren. Es fordert eine Vereinigung, um gemeinsame Prinzipien für die Zukunft der Kurden und Kurdistans zu entwickeln. Das ist der Wille des kurdischen Volkes und seine Botschaft an uns. Die politischen Kräfte in allen Teilen Kurdistans haben sich mehr oder weniger in diesen Prozess eingebracht. Die einen waren sichtlich aktiv, andere wirkten im Hintergrund.

Was aber ist das Wichtigste, das wir hier sehen sollen? Die Tatsache, dass sich der Besatzungsangriff des türkischen Staates nicht lediglich gegen eine Region oder einen einzigen Teil Kurdistans oder eine militärischen Kraft richtet. Es ist ein Angriff auf alle Kurden.

Fehlende Einheit ein Verlust für alle

Die derzeitigen Entwicklungen im Mittleren Osten haben Parallelen mit den Geschehnissen nach dem Ersten Weltkrieg. Was geschah damals? In Südkurdistan kam es unter Şêx Mehmûd Berzincî (Scheich Mahmud Barzandschi) zum Aufstand, in Ostkurdistan unter Simkoyê Şikak (Simko Schikak) und in Nordkurdistan brach unter anderem unter Führung von Şêx Seîd (Scheich Said) ein Aufstand aus. In Westkurdistan/Rojava erhob sich das Volk gegen die Mandatsmacht Frankreich. Aber all diese Widerstände entwickelten sich isoliert voneinander. Die kurdischen Kräfte bauten keine Beziehungen untereinander auf und bildeten keine Allianzen. Einige standen sogar im Gegensatz zueinander. Was also war das Resultat? Alle haben nach und nach verloren.

1920 wurde der Vertrag von Sèvres abgeschlossen. Auch wenn er nicht angemessen war, stellte dieses Abkommen den Kurden die Unabhängigkeit in Aussicht. Doch nur drei Jahre später wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet. Was hatte dieses Übereinkommen zu bedeuten? Die Missachtung der Kurden. Dass es innerhalb von drei Jahren von Sèvres nach Lausanne kommen konnte, lag an der Schwäche der kurdischen Bewegungen. Treu nach dem Motto ‚bevor ich mir die Finger an ihnen verbrenne‘ blieben sie lieber auf Distanz und knüpften keine Beziehungen. Jeder dachte nur an seine eigene Sache.

Zugeständnisse an Mandatsmächte ebneten Vertrag von Lausanne

Auf der anderen Seite war der türkische Chauvinismus sehr aktiv und baute den USA, der Sowjetunion und den europäischen Ländern fleißig goldene Brücken. Die Zugeständnisse an die Mandatsmächte mündeten darin, dass der Vertrag von Sèvres im Vertrag von Lausanne zugunsten der Türkei revidiert wurde. Der Prozess, den wir aktuell durchlaufen, ist aber nicht derselbe wie damals. Denn die kurdischen Bewegungen sind jetzt viel stärker.

In den letzten Jahren sind die Kurden durch ihren Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) wieder in den Vordergrund gerückt. Sowohl in militärischer als auch politischer, gesellschaftlicher und diplomatischer Hinsicht ergaben sich viele Möglichkeiten und Gelegenheiten für sie. Ich rede von größeren Chancen für die Kurden als im Vertrag von Sèvres niedergeschrieben. In der Gegenwart sind es allerdings wieder der türkische Chauvinismus und andere Kolonialmächte, die ihre Kräfte für ein noch härteres Lausanner Abkommen bündeln. Dafür wird der jetzige Krieg ausgetragen.   

Aktualisierter Vertrag von Lausanne ein Konzept für Vollendung des Genozids

All diese Prozesse hängen miteinander zusammen. In den letzten sieben Jahren haben die Kurden im Süden, in Rojava, Nordkurdistan und dem Rest der Welt an Kraft gewonnen und bilden seitdem überall den Gegenstand der Tagesordnung. Und genau dagegen wurde ein Konzept entwickelt. Was hat es damit auf sich? Dieses Konzept bezweckt die Schwächung der Kurden und schrittweise ihre Zerschlagung. Es ist ein Plan der Kolonialstaaten. Federführend ist der rassistische türkische Staat.

Bringen wir uns in Erinnerung, wo die Türkei zuerst angriff; es war Kerkûk. Anschließend folgte Şengal, danach Efrîn und jetzt Serêkaniyê. In Nordkurdistan ist der türkische Staat auf einem Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk und seine Politik. All diese Angriffe stehen in einem Zusammenhang miteinander und sind das Resultat eines Konzepts der kolonialistischen Politik auf Basis eines kurdischen Völkermords. Bald sind hundert Jahre seit dem Vertrag von Lausanne vergangen. Bis dahin will der türkische Staat auch die übrigen Teile Kurdistans okkupieren. Deshalb greift er überall brutal an, damit nichts von den Kurden übrigbleibt.

Entweder befreien sich die Kurden, oder sie verlieren

Die Kurden in allen Teilen Kurdistans und ihre Kräfte erwarten eine gemeinsame Zukunft. Entweder befreien sie sich - jeder Teil erlangt entsprechend seiner eigenen Originalität seine Freiheit, oder aber sie werden von einem weiteren Lausanner Vertrag heimgesucht. Sèvres in einem Teil umzusetzen und in dem anderen Teil Lausanne, also die Existenz und Unabhängigkeit eines Teils anzuerkennen, während ein anderer Teil geleugnet wird, ist ausgeschlossen. Es ist unmöglich, dass so etwas realisiert wird oder Akzeptanz findet. Wenn jemand glaubt, dass dies passieren könnte, sollte er wissen, dass er sich irrt. Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklungen in den letzten drei Jahren wird deutlich, dass alle Teile Kurdistans in dieses Konzept integriert wurden. Daher erfordern die gegenwärtigen Verhältnisse und die sich bei den Kurden entwickelnde gesamtnationale Haltung einen Zusammenschluss aller kurdischen Kräfte auf Grundlage patriotischer Prinzipien.

Entweder nationale Einheit oder weitere Teilung

Wenn wir verhindern wollen, dass neue Verträge wie der von Lausanne zustande kommen, müssen wir unsere Ziele in jedem Fall erreichen. Vielleicht werden sich die kurdischen Kräfte nicht in jeder Hinsicht einig. Wir sollten jedoch wissen, dass unsere Gemeinsamkeiten um ein Vielfaches höher sind als unsere Meinungsunterschiede. In der Welt werden Probleme mittels eines Dialogs gelöst. Vereinen wir uns also mit unserem Gleichsinn und lösen unsere Konflikte im Dialog. Auf diese Weise lösen sogar Kräfte, die sich feindlich gegenüberstehen, ihre Differenzen. Warum sollen wir es dann auch nicht tun?

Der Angriff auf Rojava, der Widerstand unseres Volkes und die aufkeimende gemeinsame Haltung hat ein Umfeld geschaffen, das den Kurden die Möglichkeit bietet, ihre nationale Einheit zu verwirklichen. Unsere Bewegung ist in jedem Fall bereit. Jeder sollte sich der Tatsache bewusst werden, dass hier nicht Einzelne gewinnen oder verlieren werden. Wenn wir siegen, gewinnen alle Kurden. Wenn nicht, werden wir alle gemeinsam verlieren. Wenn wir die Forderungen unseres Volkes an uns in diesem Kontext verinnerlichen, glauben wir, wird es konkrete und positive Entwicklungen geben.