Im fünften Auschnitt aus dem Interview mit Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrats der PKK, zur Entwicklung des Sozialismus-Begriffs in der Arbeiterpartei Kurdistans geht es um die Corona-Pandemie, die in den letzten anderthalb Jahren zu massiven Einschnitten der Rechte in der Gesellschaft geführt hat. Die Menschheit hat im Laufe der Geschichte riesige Opfer gebracht, um eben diese Rechte zu erkämpfen. Nun werden sie den Menschen Stück für Stück entrissen. Was muss die arbeitende Bevölkerung in solch einer Phase unternehmen? Was für einen Kampf muss sie führen? Zu diesen Fragen legte Kalkan eine breite Analyse zu der mit Corona erzeugten Atmosphäre dar:
Pandemie: Von Angst zu Wut
Das Coronavirus, das in letzter Zeit so stark auf die Tagesordnung gesetzt wurde, hat den Menschen tatsächlich die Luft zum Atmen genommen. Dieses Virus hat zu einer völlig neuen Situation geführt. Es hat dafür gesorgt, dass viele Formen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens heute keinen Bestand mehr haben. Es wird von Millionen Toten und hunderten Millionen Erkrankten gesprochen. Eine riesige, permanente Angst hat sich in den Gesellschaften ausgebreitet. Die Menschen und Gesellschaften werden noch stärker dazu gezwungen, sich staatlicher Kontrolle zu unterwerfen und sich gemäß der Interessen der herrschenden Macht- und Staatskräfte zu verhalten. In diesem Zusammenhang wurde ein massiver Druck aufgebaut. Es wurden neue Gesetze verabschiedet und Herangehensweisen entwickelt. Unter der Losung „Bleib zu Hause“ wurden die Menschen geradezu eingesperrt. Die gesamte Welt wurde vom aktuellen System in ein riesiges Gefängnis verwandelt. Der Ort, den die Menschen bisher als ihr Zuhause und als Gelegenheit für ein angenehmes individuelles Leben verstanden hatten, wurde in ein Gefängnis verwandelt. Nun werden sie dazu gezwungen, sich dauerhaft dort aufzuhalten und jegliche gesellschaftlichen Beziehungen abzubrechen. All das hat zu einer großen Unzufriedenheit und starken Gegenreaktionen geführt.
Ab Januar, Februar 2020 wurden die Menschen insbesondere mithilfe der medialen Berichterstattung im Internet und Fernsehen in Angst und Schrecken versetzt und somit das Unterdrückungssystem massiv ausgebaut. Im Verlauf dieser Phase verwandelte sich die Angst der Menschen zum Teil in Wut und Protest. Je klarer wurde, worum es wirklich geht, was die Gründe für diese Entwicklungen sind und wozu sie führen, desto mehr überwanden die Menschen ihre Mauer der Angst und reagierten stattdessen mit großer Wut und Protesten. Das ist eine Tatsache.
Wut in Bewusstsein verwandeln
Also anstatt darauf zu warten, dass sich Wut zu Protesten und Aufständen entwickelt, muss Wut in Bewusstsein verwandelt werden. Auf Grundlage dieses Bewusstseins müssen verschiedenste Organisationsformen erschaffen werden, auf deren Basis wiederum auf einem Plan und Programm basierende Aktionen durchgeführt werden müssen. Um in Aktion treten zu können, ist es unabdingbar organisiert zu sein. Für Organisierung bedarf es wiederum eines Bewusstseins. Wut und Protest allein reichen für Organisierung nicht aus. Nur Bewusstsein führt zu Organisierung.
Es gibt nicht nur das Coronavirus, sondern Millionen weitere Viren, die eine große Gefahr für alle Lebewesen darstellen. Der Kapitalismus, der all diese Viren hervorbringt, muss den Menschen erklärt werden, damit sie ihn richtig kennen lernen. Das System der Kapitalistischen Moderne, das aktuelle Macht- und Staatssystem und die dafür grundlegende männlich-hegemoniale Mentalität und Politik müssen nicht nur theoretisch, sondern gefüllt mit ausreichend Inhalt auf verständliche Art und Weise erklärt werden. Sie müssen insbesondere den Frauen, der Jugend, der arbeitenden Bevölkerung, aber auch insgesamt allen Gesellschaften und Menschen erklärt werden.
Das wahre Gesicht des Systems verstehen
Da den Menschen dieses Bewusstsein nicht ausreichend vermittelt wird, verwandelt sich ihre Wut nicht in Organisierung und Aktionen. Es entstehen keine regelmäßigen, systematischen und effektiven Aktionen. In diesem Bereich besteht wirklich eine große Schwäche. Zugleich gibt es andere Kreise, die definitiv bewusste Anstrengungen unternehmen. Sie versuchen bewusst, geplant und sehr intensiv zu verhindern, dass sich die bestehende Wut zu Bewusstsein entwickelt und das wahre Gesicht dieses Systems verstanden wird, das das aktuelle Virus hervorgebracht hat. All das tun das Macht- und Staatssystem und die Mächte der Kapitalistischen Moderne sehr bewusst und folgen dabei einem klaren Plan. Die Staaten tun das eben so wie die Regierungen. Und sie veranlassen die Universitäten, die von ihnen als wissenschaftlich bezeichneten Einrichtungen, die Kunst und die Presse es ihnen gleich zu tun. Sie benutzen alles und jeden für dieses Ziel.
Es finden sehr intensive Bemühungen statt, um zu verhindern, dass wirklich verstanden wird, woher diese Krankheit kommt und was sie bedeutet. Es finden Forschungen statt, Pläne und Programme werden entworfen und leider werden die Medien, Kunst und Literatur sehr effektiv als Waffe gegen die Menschen genutzt.
Linke lässt sich zum Spielball machen
Es ist sehr bedauerlich, dass es vielen Kreisen nicht gelingt, diese Tatsachen zu erkennen und sie kritisch zu betrachten. Sie fallen leider auf dieses Spiel herein. Selbst diejenigen, die sich „links, sozialistisch, revolutionär“ nennen, lassen sich zum Spielball machen und werden auf eine sehr planvolle Art und Weise gelenkt. Es ist notwendig, dass wir diese Tatsache offen ansprechen. Die Haltung der linken, sozialistischen und revolutionären Kräfte bezüglich dieses Themas bedarf wirklich einer ernsten Kritik und Selbstkritik. Mittlerweile ist ein ganzes Jahr vergangen und es ist diesen Kräfte noch immer nicht gelungen, ein richtiges und ausreichendes Verständnis der Situation zu entwickeln. Sie haben es nicht geschafft, diese ganz offensichtlich vom kapitalistischen System und dessen grenzenlosem Profitstreben hervorgebrachte Krankheit richtig zu verstehen.
Das ist die tatsächliche Realität. Doch mithilfe sehr oberflächlicher, verzerrender Aussagen wie „Es handelt sich um eine natürlich entstandene Pandemie, die jeden betrifft, Arm und Reich tötet und keinen Unterschied zwischen den Menschen macht“ wurde ein großes Durcheinander geschaffen und die tatsächlichen Verhältnisse wurden somit verheimlicht. So kam es dazu, dass die Gesellschaften nicht richtig aufgeklärt werden konnten.
Wer hat diese Pandemie hervorgebracht? Wo, wie und warum wurde sie ausgelöst? Wer versucht davon wie zu profitieren? Was bedeutet es dementsprechend für uns, gegen diese Pandemie zu kämpfen? Wie kann gegen sie gekämpft werden? Wie können wir uns vor dem Coronavirus schützen? Wie kann die Menschheit sich vor solch einer Krankheit schützen? Auf all diese Fragen wurden keine richtigen Antworten gefunden.
Die Entwicklungen richtig deuten und aktiv werden
Meiner Meinung nach müssen nun alle dazu bereit sein, sich auf ihr Gewissen zu besinnen und eine selbstkritische Haltung an den Tag zu legen. Wer Fehler begangen hat, sollte das offen zugeben und so mit den eigenen Fehlern brechen. Wer Mängel an den Tag gelegt hat, muss die eigenen Mängel offen ansprechen und sie dadurch beheben. Doch all das geschieht nicht. Es bestehen in diesem Bereich weiterhin große Mängel. Es existieren weiterhin individualistische Herangehensweisen und zweifelhafte Haltungen. Auf die Entwicklung neuer Varianten des Virus und die Ausbreitung dieser tödlichen Pandemie wird mit Panik reagiert und immer wieder aufs Neue gefragt: „Wie konnte das nur passieren? Wie sollen wir uns nur davor retten?“
Am meisten entsteht noch Wut, doch sie entwickelt sich nicht zu einem ernstzunehmenden Protest. An verschiedensten Orten auf der Welt ist es in letzter Zeit vereinzelt zu ersten Protesten gekommen. Doch Wut und spontane Proteste reichen nicht aus. Eine derart schlimme Sache wie diese Pandemie sorgt dafür, dass die Gesellschaft von sich aus solche Wut und Proteste entwickelt. Würden also die Medien, Kunstschaffenden, Schriftsteller:innen, Politiker:innen und Intellektuellen richtig mit diesen Entwicklungen umgehen und sie richtig deuten; würden sie den Frauen, der Jugend, der arbeitenden Bevölkerung und den Gesellschaften die tatsächlichen Begebenheiten richtig erklären – dann würde dadurch ein enormes Bewusstsein und folglich eine starke Organisierung entstehen. Es würde also kein Kampf gegen das vom System erschaffenen Virus, sondern gegen das System selbst entstehen.
Es lohnt sich noch einmal zu wiederholen: Wer anstatt gegen das eigentliche Phänomen gegen den Schatten kämpft, kann keine Erfolge erzielen. Kämpfe à la Don Quichotte führen zu nichts. Wer sich nur fragt, „Wie kann ich mich selbst vor dieser Krankheit schützen, die das Ergebnis des unbegrenzten Profitstreben der Kapitalistischen Moderne ist?“, wird weder Ergebnisse erzielen noch sich wirkungsvoll schützen können. Wenn du die Mentalität und Politik, die diese Krankheit verursacht haben, und das System, von dem sie hervorgebracht werden, nicht zerschlägst und veränderst, wird auch diese Krankheit kein Ende nehmen. Vielleicht verschwindet das aktuelle Virus, aber ein neues wird mit Sicherheit kommen. Eines geht, drei Neue kommen. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass diese Krankheiten einfach so vollständig aufhören.
Nicht die Symptome, die Ursache angehen
Von daher ist es notwendig, nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen anzugehen. Wer ein Symptom beheben möchte, muss dessen Ursachen hinterfragen und aus der Welt schaffen. Wenn du die Ursachen nicht behebst, wird dein Kampf gegen die Symptome zu keinerlei Ergebnissen führen. Du behebst ein Symptom und ein neues tritt an dessen Stelle. Sich ähnelnde Symptome werden sich einfach immer wieder gegenseitig ersetzen. Aus diesem Grund bedeutet die Schaffung eines richtigen Bewusstseins, dass man die Ursachen der Entwicklungen offen legt. Warum ist es zu diesen Entwicklungen gekommen? Warum ist es zu solch einem tödlichen Angriff gekommen? Wer ist dafür verantwortlich? All das ist nicht von selbst geschehen. Es handelt sich nicht um eine natürliche Entwicklung.
Wer das Gegenteil behauptet, lügt entweder oder hat rein gar nichts verstanden, ist also völlig ahnungslos. Das ist Ausdruck einer völligen Ahnungslosigkeit bezüglich der Lebensrealität, der globalen Verhältnisse, der Kapitalistischen Moderne, kapitalistischer Ausbeutung und des grenzenlosen Profitstrebens. Es zeigt, dass man sich nicht darüber bewusst ist, womit sich die Herrschenden dieser Welt beschäftigen und was sie tun. Diese Entwicklungen haben nichts mit der Natur zu tun. Selbst wenn es Zusammenhänge mit natürlichen Entwicklungen gibt, dann ist es noch immer nicht die Natur selbst, die derartige Katastrophen hervorbringt. Vielmehr ist die Zerstörung der Natur der Auslöser dieser Katastrophe. Das ist es, was wir damit meinen.
Ökologisches Bewusstsein und eine ökologischer Herangehensweise sind daher sehr wichtig. Doch all das zu ignorieren und zu behaupten es handele sich um natürliche Entwicklungen, sich dann schnell einem anderen Thema zuzuwenden und damit die Schuldigen reinzuwaschen – so können wir keine Ergebnisse erzielen. Die aktuellen Entwicklungen haben nichts mit der Natur zu tun. Sie werden von der vollständigen Zerstörung der Natur ausgelöst. Der andauernde Angriff auf die Natur führt diese Situation herbei. Deshalb muss der Angreifer gefasst werden. Nicht die Natur selbst, sondern die Personen, die sie angreifen, bringen all das hervor. Von daher müssen alle, die diese Angriffe ausführen, geschnappt, öffentlich gemacht und bekämpft werden. Gegen sie muss sich organisiert werden. Den Baum nicht zu sehen und sich stattdessen nur mit seinem Schatten zu beschäftigen, ist nicht Ausdruck eines ausreichend entwickelten Bewusstseins oder Verständnisses. Das bringt schlichtweg nichts. Es ist wichtig, dass wir uns dieser Tatsache bewusst werden.