Es ist wichtig, den Sozialismus nicht als eine Ideologie zu betrachten, welche die Zukunft beschreibt. Sozialismus gab es auch schon in der Vergangenheit. Es gibt ihn seitdem es den Menschen und die Gesellschaft gibt. Kommunalismus, Solidarität und gemeinsames Teilen stellen den Kern von Gesellschaftlichkeit dar. Da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, ist Sozialismus letztendlich die eigentliche Existenzform der Gesellschaft. Abdullah Öcalan hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Am Sozialismus zu zweifeln, bedeutet am Menschen und seiner sozialen Daseinsform zu zweifeln.”
Die Gesellschaft, gesellschaftliches Dasein und das Leben als Gesellschaft stellen die soziale Existenzform des Menschen dar. Dementsprechend ist Sozialismus eine Lebensrealität, die mit der Gesellschaft verwoben ist und seit jeher auf diese Art und Weise existiert hat. Man kann sich nicht in der Gegenwart darum bemühen, in der Zukunft sozialistisch zu leben. Es geht vielmehr darum, schon heute Sozialismus richtig zu verstehen, selbst zu leben und zum Leben zu erwecken. Selbst eine einzige Person kann ein sozialistisches Leben führen. Eine Gemeinschaft oder eine Partei kann genauso den Sozialismus leben. Und auch ein Volk kann unter sich die sozialistische Ideologie zu einem Großteil leben.
Es ist daher ausschlaggebend, das realsozialistische Verständnis zu überwinden: Also Sozialismus auf die Zeit nach der Revolution zu verschieben und die Revolution von der Übernahme von Macht und Staat abhängig zu machen; auf dieser Grundlage nicht zu wissen bzw. im Unklaren zu lassen, wie man bis dahin leben soll und somit eher eine Lebensart und ein Verständnis an den Tag zu legen, dem es nicht gelingt, über den kleinbürgerlichen Individualismus hinauszugehen. Sozialismus ist nichts, was erst in der Zukunft entsteht und gelebt wird. Er wurde bereits in der Vergangenheit gelebt und muss auch heute richtig verstanden und gelebt werden. Das ist der Sozialismus der PKK. Sie kann zumindest innerhalb der Partei den Sozialismus zum Leben erwecken und verbreitet ebenso sehr sozialistische Einflüsse in der Gesellschaft. Die PKK setzt Sozialismus im Alltag um. In der PKK existiert ein Sozialismus, der alltäglich umgesetzt und gelebt wird. In der PKK haben wir ein Niveau erreicht, auf dem jegliche Form von Individualismus überwunden, der demokratische Kommunalismus auf die höchste Stufe gebracht, alles vom Schmutz des individualistischen und auf Materielles fokussierten Lebens gereinigt und ein genossenschaftliches Miteinander gelebt wird. Der in der PKK umgesetzte Sozialismus bringt den Kern, den Rahmen und die Prinzipien des Sozialismus zum Ausdruck, der in der Zukunft in allen Gesellschaften verbreitet werden soll. Auch das ist eine grundlegende Haltung des Sozialismus der PKK.
Wenn wir auf Grundlage all dessen genauer analysieren, wie der Kampf der Arbeiterklasse verstanden werden muss, müssen wir die oben erwähnten Überlegungen auch in Bezug auf die Freiheit von Frauen und die ökologische Revolution berücksichtigen. Zugleich bedarf es neuer Analysen und Herangehensweisen für die Arbeiterklasse und die arbeitende Bevölkerung. Zuallererst ist es notwendig, Sozialismus nicht als eine Ideologie der Zukunft, sondern als in der Gegenwart gelebte Ideologie zu verstehen. Entlang sozialistischer Grundlagen der Arbeiterorganisierung wie Solidarität und dem miteinander Teilen müssen sozialistische Parteien noch weiter verbreitet und gestärkt werden.
Innerhalb der Bewegungen der Arbeiterklasse ist Individualismus sehr stark ausgeprägt. Das ist Ausdruck einer kleinbürgerlichen Kultur und zeigt, dass dort letztendlich die kapitalistische Ideologie dominiert. Einerseits zu sagen, man sei sozialistisch, und andererseits den Kapitalismus zu leben, ist ganz und gar nicht gut. Die Ideologie einer einzelnen Person oder einer Partei ist nicht das, was diese Person oder Partei sagt, sondern die Prinzipien, an denen sie ihr Leben orientiert. Von daher muss die Bewegung der Arbeiterklasse zuallererst das, was sie sagt, mit dem, was sie tut, in Einklang bringen. Alles, was sie sagt, muss sie in die Praxis umsetzen. Ihr Leben und ihr Kampf müssen dementsprechend beschaffen sein. Es ist auch notwendig, die sozialistische Ideologie noch weiter zu vertiefen und mit Hilfe von Organisierung zu etwas zu machen, das alltäglich gelebt wird.
Auf dieser Grundlage müssen die Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Arbeiterorganisationen dazu gebracht werden, eine neue ideologische Tiefe und Strukturierung zu erreichen. Das ist sehr wichtig. Gelingt das nicht und bleibt man in der ideologische Haltung und Organisierungsform gefangen, die sich aus den vom Kapitalismus vorgegebenen Grenzen „demokratischer Rechte“ ergibt, können die aktuellen Verhältnisse unmöglich überwunden werden. Selbst wenn sie doch überwunden werden, wird es unmöglich bleiben, dass Erreichte zu vertiefen und langfristig zu sichern. Von daher hat die Arbeiterbewegung definitiv tiefgreifende ideologische Probleme. Es ist daher notwendig, den Sozialismus richtig zu verstehen und die sozialistische Ideologie zu etwas zu machen, das jede Sekunde gelebt wird. Auf dieser Grundlage bestehen also Probleme im Bereich der Parteiorganisierung. Zudem besteht Bedarf danach, die gesellschaftliche Organisierung gemäß der ideologischen Linie zu verstärken, auszuweiten und als Einheit zu entwickeln. Es ist also ein tiefgreifenderer und effektiverer Kampf notwendig.
Ein neuer sozialistischer Aufbruch
Es ist unabdingbar, dass wir eine der Dimensionen des aktuellen Kampfes gegen den AKP/MHP-Faschismus vor diesem Hintergrund verstehen. Eine andere Dimension ist die Notwendigkeit, mit verschiedensten anderen Kreisen ein Bündnis aufzubauen, das als eine Art Bewegung zur Zerschlagung des Faschismus fungiert. Doch damit dieses Ziel erreicht wird, bedarf es nicht nur der Zerschlagung des AKP/MHP-Faschismus. Vielmehr müssen auch eine Ideologie und eine organisatorische Führung geschaffen werden. Diese Führung wird nach der Zerschlagung des Faschismus ein demokratisches Leben und eine demokratische Gesellschaft aufbauen können, die von der sozialistische Ideologie geprägt ist. Wenn sich die arbeitende Bevölkerung nicht mit den Frauen und der Jugend zusammenschließt, wird es ihr unter den aktuellen Bedingungen nicht gelingen, eine Führungsrolle im Befreiungskampf zu übernehmen.
Aus diesen Gründen besteht zuallererst einmal Bedarf nach einem richtigen Verständnis, einer theoretischen Betrachtungsweise, einer philosophisch-ideologischen Linie, einem Programm, einer Organisation und nach Aktionen. Abdullah Öcalan hat deutlich gemacht, auf welchem Weg das erreicht werden kann. Deshalb ist es wichtig, die von ihm entwickelte Theorie der Demokratischen Moderne noch intensiver zu diskutieren, zu verstehen und zu verinnerlichen. Zugleich bedeutet es auch, das Verinnerlichte in die Praxis umzusetzen. Es kommt also auf die praktische Umsetzung an. Dementsprechend muss ein viel stärkerer ideologischer, politischer und organisatorischer Kampf geführt werden. All das existiert bis zu einem gewissen Grad bereits. In der PKK und in Kurdistan ist ein gewisses Niveau erreicht worden. In der Türkei hingegen ist das heutige Niveau vermutlich schwächer als in der Vergangenheit. Es gibt zwar Organisationen der arbeitenden Bevölkerung und verschiedene sozialistische, revolutionäre Parteien, nur sind sie alle sehr schwach. Es ist wichtig, diese Schwäche durch Organisierung und Aktionen zu überwinden und Stärke zu entwickeln. Für die Entwicklung von Stärke bedarf es einer theoretischen Betrachtungsweise und einer klaren ideologischen Linie. Das bedeutet also, dass sich der ideologische Kampf nicht vom organisatorisch-aktionistischen Kampf trennen lässt. Diese Kämpfe müssen auf Grundlage einer richtigen Betrachtungsweise neu bewertet werden, um die notwendigen Korrekturen vorzunehmen und auf dieser Grundlage einen neuen sozialistischen Aufbruch, eine neue sozialistische Offensive zu starten.