Duran Kalkan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der PKK in einem ausführlichen ANF-Interview zur Entwicklung des Sozialismus-Begriffs in der Arbeiterpartei Kurdistans geäußert. Im vierten Ausschnitt des Interviews geht es um die Situation unter der AKP/MHP-Regierung in der Türkei: „Die Wirtschaftspolitik der AKP/MHP-Regierung basiert auf Korruption und Vetternwirtschaft. Sie führt dazu, dass eine kleine Elite immer reicher wird, während Millionen von Menschen unter Hunger und Armut leiden. Die Menschen sind dazu gezwungen, im Müll nach Essen zu suchen. Tausende Arbeiter:innen wurden gezwungen, in unbezahlten Urlaub zu gehen. Viele begehen Selbstmord, wenn sie ihre Arbeit verlieren. Diese Lage kann mittlerweile auch vom Staat nicht mehr verborgen werden. Was für einen Kampf müssen die politischen Parteien, Gewerkschaften und Organisationen der arbeitenden Bevölkerung gegen diese Verhältnisse führen? Welche Art von Organisationsmodell ist Ihrer Meinung geeignet, um diese Probleme zu lösen und die faschistische Regierung zu stürzen?“
Auf diese Frage antwortete Duran Kalkan:
In der Frage wurden die aktuellen Umstände bereits sehr prägnant auf den Punkt gebracht. Die Lösung der Probleme ergibt sich daraus dementsprechend von selbst. Der AKP/MHP-Faschismus ist ein brutales Regime, dessen Hauptaufgabe die spezielle Kriegsführung ist. Es verwendet verschiedenste Werkzeuge und Methoden, die sonst nirgendwo auf der Welt zum Einsatz kommen. Es gibt weder moralische noch gesetzliche Regeln und Prinzipien, denen dieses Regime folgt. Insbesondere in Kurdistan, aber auch in der Türkei verfolgt das AKP/MHP-Regime eine vielschichtige spezielle Kriegsführung. In Kurdistan bedeutet das, dass ein Krieg stattfindet, der auf einen Völkermord abzielt. Dementsprechend gibt es keine Prinzipien, Moral oder Gesetze, an die dieser Krieg gebunden ist. Denn sein Ziel ist es ja, zu vernichten und das Gegenüber einem Völkermord auszusetzen. Das Regime hat diese Entscheidung getroffen und setzt sie nun um.
Der Krieg wird im ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen, ideologischen, psychologischen und militärischen Bereich geführt. Im sozialen Bereich bedeutet das die Verbreitung von Diebstahl, Prostitution, Drogen und sozialer Verwahrlosung. Die moralischen Prinzipien und Werte der Gesellschaft werden vollständig zerstört und somit die gesellschaftliche Würde vernichtet. Alle werden zu Schuldigen gemacht, deren Würde immer mehr verloren geht. So werden die Menschen in eine Lage gebracht, in der sie sich gegenseitig nicht mehr in die Augen schauen können.
Um das zu erreichen, werden Kunst und Medien als Mittel eingesetzt. Es werden Lügen verbreitet. Es heißt ja: Wenn eine Lüge vierzig Mal wiederholt wird, beginnen die Menschen, sie für wahr zu halten. Doch heute wird eine Lüge nicht vierzig, sondern tausend Mal wiederholt und damit versucht, sie allen als wahr zu verkaufen.
Eine weitere sehr wichtige Dimension der speziellen Kriegsführung ist die Ökonomie. Abdullah Öcalan spricht in diesem Zusammenhang von „Bio-Macht“. Den Menschen wird erst etwas weggenommen, um es ihnen dann in kleinen Portionen wieder zur Verfügung zu stellen und sie damit abhängig zu machen. Vor Kurzem wurden in der Türkei auf der Straße Kartoffeln und Zwiebeln verteilt. Und die Menschen kamen angerannt! Als Reaktion darauf sagte eine Frau: „Wir wollen keine Zwiebeln und Kartoffeln. Das alles brauchen wir nicht. Wir fordern von niemandem Hilfe. Sollen sie ihr Zwiebeln und Kartoffeln für sich behalten. Lieber verhungern wir, als die Hilfe dieser Diebe in Anspruch zu nehmen.” Das entspricht genau unserer Haltung. Ich gratuliere dieser Frau zu ihren Worten.
Es ist die einzig richtige Haltung. In den Straßen von Amed und anderer Städte lassen sie Kinder und Erwachsene nach Essen rennen. Für alle mit gesundem Menschenverstand ist das doch absoluter Wahnsinn! Die AKP ist eine Gemeinschaft von Dieben. Sie hat ganz Kurdistan wie eine Zwiebel geschält und vollständig ausgebeutet. Früher litt Tayyip Erdogan selbst an Hunger. Heute ist er einer der reichsten Menschen der Welt. Und jetzt verkauft er der Bevölkerung von Amed Zwiebeln. Dabei war die Ebene von Amed immer die Region, in der am meisten Zwiebeln und Kartoffeln angebaut wurden. Erdogan hat der Gesellschaft all das entrissen und gibt es ihnen jetzt als Almosen zurück, als wäre es sein Eigentum. Anstatt angerannt zu kommen, muss man zum Angriff übergehen und sich einfach nehmen, was man benötigt. Oder man verbrennt es einfach. Alles andere ist nicht hinnehmbar. Das ist genau das, was mit „Bio-Macht“ gemeint ist. Die Menschen werden in eine völlig hilflose Lage versetzt. Sie werden dazu aufgefordert, den Müll zu durchsuchen und sich dort ihr Essen zusammenzusammeln. So wird ihnen jegliche Würde genommen.
In der Vergangenheit wurde im Wahlkampf Tee und Kohle verteilt, um an die Macht zu gelangen. Heute sind es Kartoffeln und Zwiebeln. Das ist eine Methode der speziellen Kriegsführung. Es geht nicht darum, ob etwas an Menschen verteilt wird, ihnen Hilfe zur Verfügung gestellt wird oder ob die Armen es annehmen. Das ausschlaggebende Thema ist die Propaganda, die damit einher geht. Da wird ein Lastwagen organisiert, von dem aus Kartoffeln und Zwiebeln verteilt werden. Dann wird das aufgenommen und überall gezeigt, wie die Menschen sich gegenseitig schlagen. Und am Ende heißt es: „Seht ihr, so sind die Kurden halt.“ Wer das sieht, schämt sich dafür, ein Mensch zu sein. Mit solchen Aktionen werden nicht nur die Gefühle und Gedanken derjenigen zunichte gemacht, an die unmittelbar vor Ort Nahrungsmittel verteilt werden. Alle sind davon betroffen. Diese Menschen werden als Mittel der speziellen Kriegsführung benutzt. Das Ehrgefühl, die Würde und Werte der Menschen werden dadurch vollständig zerstört. Derzeit finden derart brutale Angriffe auf die Menschen statt. Das ist mehr als eindeutig.
Was gilt es in dieser Situation zu unternehmen? Ja, es finden permanent Angriffe statt. Und ja, die Dörfer und Ländereien wurden entvölkert. Und trotzdem muss darauf bestanden werden, in die Dörfer zurückzukehren. Anstatt für ein, zwei Zwiebeln in den Straßen von Amed andere Menschen zu attackieren, geht lieber in die Berge und Täler Ameds. Auf der Erde Kurdistans kannst du überall tausende Kilo Zwiebeln, Kartoffeln und noch vieles anderes anbauen. Aber auch das wird mittlerweile mit militärischer Gewalt verhindert. Alle Dörfer wurden entvölkert. Gerade deswegen müssen wir darauf bestehen, in unsere Dörfer zurückzukehren und uns gegenseitig zu unterstützen. Wir müssen daran festhalten, diese Dinge weiter wertzuschätzen und uns gegenseitig zu helfen. Zudem verfügt diese Gesellschaft eindeutig über Bewusstsein und Organisierung. Also müssen wir uns weiter organisieren und kämpfen. Wenn uns das AKP/MHP-Regime derart beleidigt und selbst Zwiebeln und Kartoffeln dafür einsetzt, um uns jeglicher Würde zu berauben, dann müssen wir unser Bewusstsein weiter entwickeln und unsere Organisierung verstärken, um einen umfassenden Krieg für die Zerstörung dieses Systems zu führen.
Wir alle müssen auf die richtige Art und Weise gegen die spezielle Kriegsführung kämpfen. Dafür ist es notwendig, dass wir uns ein richtiges Bewusstsein aneignen. Es ist ja nicht so, als sei der Kampf völlig unmöglich. Die Menschen sind in den Städten zusammengepfercht worden und dort leiden sie Hunger. Und dann sagt man: „Staat, gib uns dieses oder jenes. Wo bist du, Staat? Wo bist du, Regierung?“ Aber es ist doch genau diese Regierung, die dich sehr bewusst dort in die Stadt gebracht hat, damit du sie um Hilfe anbetteln musst. Wenn sie die Absicht hätte, dir etwas zu geben, hätte sie dich gar nicht erst in die Stadt gebracht. Sie hat dich dorthin gezwungen, um dir etwas wegzunehmen und dich zu vernichten. Du musst also Widerstand leisten und kämpfen.
Am besten ist es, wenn alle zurück ins Dorf gehen. Dort gibt es alles, was man für ein erfülltes Leben braucht. In den Dörfern gibt es kein Coronavirus, die Berge Kurdistans sind rein, Luft und Wasser sind sauber. Dort gibt es riesige Möglichkeiten. Man muss nicht einmal großartig selbst anbauen. Allein all die Kräuter in den Bergen zu sammeln, ermöglicht ein wunderbares Leben. Anstatt sich in den Straßen von Amed um Zwiebeln zu streiten, sollten die Menschen lieber in die Berge Kurdistans gehen. Dort findest du überall wild wachsende Zwiebeln und allerlei anderes Essbares. Es ist wirklich wichtig, dass wir uns dessen bewusst werden und diese Möglichkeiten nutzen. Wenn das nicht geschieht, stattdessen aufgrund der staatlichen Gewalt alle Dörfer verlassen werden und alle zusammengepfercht und ohne Arbeit in den Städten leben... Und dann auch noch den Staat um Unterstützung bitten. Das geht nicht. Dieser Staat möchte uns töten. Er möchte uns vernichten und hat den entsprechenden Befehl dafür gegeben. Abdullah Öcalan ist seit über 22 Jahren in Gefangenschaft, jeden Tag werden Dutzende unserer Genossinnen und Genossen angegriffen, es werden schwerste Unterdrückungsmechanismen angewendet. Wird das nicht gesehen? Was bitte kann man von so einem Staat verlangen? Was wird so ein Staat den Menschen schon geben? Essen und Arbeit? Nein, er wird den Menschen rein gar nichts geben. Und selbst wenn, dann muss allen bewusst sein, dass es Gift ist, was er dir gibt. Denn er gibt es dir, um dich zu töten, nicht um dich zu retten oder dir etwas Gutes zu tun. Das muss allen Kurdinnen und Kurden bewusst sein. Die Frauen und die Jugend müssen das wissen. Und auch die Gesellschaft und die arbeitende Bevölkerung der Türkei muss das erkennen. Das sind die Eigenschaften des AKP/MHP-Faschismus. Er hat den Menschen nichts anderes zu bieten. Von daher dürfen wir von ihm nichts erwarten und auch nichts annehmen.
Gegen ein solches System ist es unabdingbar, ein noch stärkeres Bewusstsein zu entwickeln, sich zu organisieren und einen organisierten Kampf zu führen. Die Menschen müssen den Kampf für Freiheit und Demokratie voll und ganz unterstützen und sich ihm noch mehr annehmen. Alle müssen dort, wo sie sind, Teil des Kampfes werden. Die bestehenden Verhältnisse müssen niedergerissen werden. Wir haben riesige Möglichkeiten für unseren Kampf. Wer sich der Guerilla anschließen und in die Berge gehen kann, sollte das tun. Wem das nicht möglich ist, der sollte in den Städten kämpfen. Wer sich am politischen Kampf beteiligt, sollte Politik machen. Wer Teil des gesellschaftlichen Kampfes ist, muss diesen Kampf führen. Wichtig ist, das alle Teil des Kampfes werden. Es ist sehr wichtig, nichts vom Faschismus zu erwarten und zu fordern. Wir dürfen uns nicht einbilden, dass wir etwas davon haben, den Faschismus um etwas zu bitten.
Was muss also unternommen werden? Wir müssen akzeptieren, dass es notwendig ist, gegen den Faschismus zu kämpfen. Das muss unser grundlegendes Ziel sein. Wenn alle das tun, wird der Faschismus innerhalb eines einzigen Tages untergehen. Doch wenn nicht alle Teil dieses Kampfes werden, wird es nicht klappen. Wer vom Faschismus Hilfe erwartet; wer seine Hände denjenigen öffnet, die ihm Gift geben; wer den Almosen des Faschismus hinterherrennt; wer immer mehr vom Faschismus fordert – der wird nur noch mehr Gift und alle möglichen Formen des Todes vom Faschismus erhalten. Es ist also wichtig, nicht in diese Lage zu geraten.
Es ist eindeutig: Organisierung und Widerstand sind notwendig. Der Faschismus organisiert sich, also muss auch die Gesellschaft sich organisieren. Wir haben deutlich gemacht, welche Organisationsmodelle es gibt. Auf dieser Grundlage führen wir unseren täglichen Kampf. Wo ist die Jugend als dynamischster Teil der Gesellschaft? Töchter und Söhne, sie alle müssen Teil dieses Krieges werden. Ob in den Städten oder Bergen, sie müssen diesen Kampf überall dort führen, wo sie sich gerade befinden. Sie dürfen nicht sagen, das gehe sie nichts an. Jede und jeder muss Verantwortung übernehmen. Alle dynamischen Kräfte der Gesellschaft müssen sich bewusst sein, dass der Feind den Menschen ihre Würde nimmt. Wer auch immer den Menschen ihre Würde stiehlt, muss angegriffen werden. Es muss sich organisiert werden. Der Faschismus hat seine Banden und Söldner organisiert, mit denen er jeden Tag angreift und zerstört. Also organisier du dich auch, greif an und zerstöre sie. Gibt es jemanden, der dich daran hindert? Zu fordern, dass jemand anderes es für mich tun und mich retten soll, funktioniert nicht. Du selbst musst es tun, musst Verantwortung übernehmen.
Alle müssen diese Verantwortung gemeinsam übernehmen. Das ist es, was wir mit nationalen und gesellschaftlichen Gefühlen meinen. Früher traten die kurdischen Stammesföderationen füreinander ein. Die Stämme und Familien übernahmen füreinander Verantwortung. Heute werden sogar sie in Mitleidenschaft gezogen. Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit, zumindest füreinander einzustehen. Lasst uns eine noch stärkere Organisierung und Einheit entwickeln. Wenn der Feind uns angreift, wenn wir in großen Gruppen kämpfen, dann lasst uns in kleinen Teams kämpfen. Lasst uns in kleinen Zweierteams kämpfen und alle zur Rechenschaft ziehen, die uns angreifen. Lasst uns all die faschistischen Banden und Söldner, all die Kräfte der speziellen Kriegsführung, all die Mörder und Vergewaltiger zur Rechenschaft ziehen. Warum tun wir das nicht? Genau das bedeutet es, sich zu organisieren und zu kämpfen. Je mehr wir all diese Kräfte zur Rechenschaft ziehen, desto angemessener wird unsere Haltung und unser Kampf sein.