„Dorfschützer“: Verbrecherbande im staatlichen Auftrag

Die als „Dorfschützer“ vom türkischen Staat in Kurdistan etablierten Paramilitärs begehen im Einsatz ungestraft Verbrechen. Sie werden auch dafür benutzt, die Bevölkerung gegeneinander auszuspielen und ihr ein Gefühl der Unterwürfigkeit zu vermitteln.

Die sogenannten „Dorfschützer“ wurden vom türkischen Staat bei der Räumung, Verbrennung und Zerstörung kurdischer Dörfer eingesetzt und kamen später auch bei ungeklärten Morden zum Einsatz. Sie wurden genutzt, um Menschen in Säurebrunnen zu werfen. Heute sind sie zu einer paramilitärischen Armee geworden und werden bei grenzüberschreitenden Operationen eingesetzt.

Als die kurdische Freiheitsbewegung mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 in eine neue Phase eintrat, begann der türkische Staat nach kurdischen Rekruten zu suchen. Die erste Glühbirne, die in den Köpfen des Staates aufleuchtete, war die Idee der Dorfschützer. Mit dem von der Regierung unter Turgut Özal am 26. März 1985 erlassenen Gesetz Nr. 3175 und einer vorläufigen Verordnung des Innenministeriums wurde das System der Dorfschützer in 22 Provinzen der Türkei eingeführt. 1993 gab es bereits in 35 Provinzen Dorfschützer. Die Anzahl der paramilitärischen Verbände ist im Laufe der Jahre gestiegen. Laut Stand vom Mai 2023 beläuft sich die Gesamtzahl auf 75.184 Mitglieder, von denen 57.584 als „Sicherheitsschützer" und 17.600 als „freiwillige Schützer" bezeichnet werden.

Ein Rückblick auf die in 38 Jahren begangenen Verbrechen zeigt, dass sich die Dorfschützer seit 1985 zu einem kriminellen Netzwerk des Staates entwickelt haben. Die Straftaten reichen von Mord über Folter, Entführung, Erpressung, Waffenschmuggel, Betrug, Vergewaltigung, Niederbrennen und Räumung von Dörfern, Drogenschmuggel bis zur Schändung von Guerillaleichen.

Vor 21 Jahren versprach die AKP bei ihrer Machtübernahme, das System der Dorfschützer abzuschaffen. Stattdessen wurde es in ein dauerhaftes System verwandelt und von den Dörfern in die Städte und über die Grenzen hinaus ins Ausland verlegt. Bei ihrer Einführung waren Dorfschützer temporäre Mitglieder einer paramilitärische Organisation, die laut offiziellem Auftrag das Leben und Eigentum von Dorfbewohnern schützen sollte. Mit den nach dem Militärputschversuch vom 15. Juli 2016 erlassenen Vorschriften nahmen sie jedoch das Aussehen einer neuen Armee an. Weil sie Kurdisch sprechen, werden sie wie „Minenesel" eingesetzt und beteiligen sich gemeinsam mit Militär, Gendarmerie und Polizei an brutalen Angriffen in Dörfern und Städten und sogar grenzüberschreitend. Dieser Einsatz fand früher ohne Rechtsgrundlage statt und wurde mit der AKP-Regierung institutionalisiert und legalisiert.

Entstehung und Ausbreitung der Dorfschützer

Das System der Dorfschützer hat seine Wurzeln in den Hamidiye-Regimentern im Osmanischen Reich und wurde vom türkischen Staat entwickelt, um die kurdische Freiheitsbewegung nach dem Putsch vom 12. September 1980 zu unterdrücken. Nach dem Militärputsch leistete die kurdische Freiheitsbewegung, von der der Staat behauptete, sie „zerschlagen, erledigt und vernichtet" zu haben, zunächst im Kerker von Amed (tr. Diyarbakir) Widerstand und erklärte dann mit dem Durchbruch vom 15. August der Welt ihre Existenz. Obwohl der damalige Ministerpräsident Turgut Özal von einer „Gruppe von Schurken, deren Köpfe zermalmt werden“ sprach, konnte der rasche Aufstieg der Bewegung im kurdischen Volk nicht verhindert werden.

Die Özal-Regierung suchte die Lösung in der Erneuerung der Hamidiye-Regimenter und führte 1985 das System der Dorfschützer ein. Es gibt zwei Gründe, warum der Staat dieses System etablieren wollte: Erstens, um den unaufhaltsamen Aufstieg der kurdischen Befreiungsbewegung zu verhindern, also aus Sorge um die staatliche „Sicherheit". Aus dieser Sorge heraus wurden Dorfbewohner in den Regionen, in denen der Ausnahmezustand herrschte, in dieses System integriert. Wer sich weigerte, wurde mit der gesamten Familie aus dem Dorf vertrieben. Es wurde jede Art von Druck ausgeübt, Menschen wurden gefoltert und ermordet. Der türkische Staat setzte einen Gewaltapparat aus Militär, Polizei, Justiz, Gefängnis usw. ein, um die Bevölkerung dazu zu bringen, sich als Dorfschützer zu betätigen.

Kolonialmethode: Kurden gegen Kurden hetzen

Der andere Grund ist die altbewährte Kolonialmethode, Kurden gegen Kurden zu hetzen und Konflikte in der Bevölkerung zu schüren, um das kurdische Volk weiter auszubeuten. Mit dem System der Dorfschützer wollte der Staat den Eindruck einer bewaffneten Kraft im Krieg gegen die PKK erwecken. Es wurde jedoch gleichzeitig als eines der Mittel benutzt, um den Kampf der kurdischen Gesellschaft für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit zu brechen. Das Ziel dieses Systems bestand also nicht nur darin, die Dorfschützer als Paramilitärs in Konflikten einzusetzen, sondern auch darin, diese Menschen in jeder Hinsicht an sich zu binden, intellektuell, emotional und militärisch. Auf diese Weise wurde versucht, die Vorherrschaft in Kurdistan nicht nur mit Waffengewalt zu erlangen, sondern auch dadurch, dass die kurdische Bevölkerung gegeneinander ausgespielt und ihr ein Gefühl der Unterwürfigkeit vermittelt wurde.

Um dieses Ziel zu erreichen, schlug der Staat einige grundlegende Wege ein. Zuerst hat er das System der Dorfschützer zwar gewaltsam durchgesetzt, aber seinen Namen geschliffen und geändert. Zunächst wurde von „freiwilligen Dorfwächtern" gesprochen, später, in den Jahren 2016/2017, wurde dieser Name in „Sicherheitsgarde" geändert.

Vom Dorfschützer zum Auslandseinsatz

Dementsprechend wurden einige Änderungen im System der Dorfschützer vorgenommen, insbesondere im Zuge des Widerstands für Selbstbestimmung in kurdischen Städten kam es 2016/2017 zu gravierende Veränderungen. Alte Dorfschützer wurden in den Ruhestand versetzt, und ihre Geschwister und Kinder wurden als neue Dorfschützer rekrutiert. Der Staat begann, die Kosten für Kleidung, Ausrüstung, Dienst- und Tagegeld, Belohnung, Einsatzentschädigung und Versicherungsprämien der Dorfschützer zu übernehmen. Es wurden neue Identitätsausweise ausgestellt und neue Mobiltelefone verteilt. Die Gehälter der Dorfschützer wurden an das niedrigste Beamtengehalt angeglichen.

Die Dorfschützer wurden unter Druck gesetzt, an Einsätzen außerhalb ihrer Wohnorte und im Ausland teilzunehmen. Dorfschützer, die an Einsätzen teilnehmen, erhalten nun ein Tagegeld. Es wurde eine Gesetzesänderung vorgenommen, die es Dorfschützern ermöglicht, spezialisierte Unteroffiziere zu werden. Die Zahl der Provinzen, in denen das System der Dorfschützer eingeführt wurde, wurde erhöht. Die wichtigste Änderung, die in diesem Zeitraum vorgenommen wurde, war die Übernahme der Kosten von bis zu drei Anwälten durch die staatlichen Provinzgouverneure für Dorfschützer, die aufgrund ihres Auftrags Verbrechen begehen. Der Staat hat den Dorfschützern, die in alle möglichen schmutzigen Taten verwickelt sind, rechtlichen Schutz gewährt, weil sie sein eigenes Verbrechernetzwerk sind.

Funktioniert wie ein Heroin-Netzwerk“

Der türkische Staat weiß, dass das System der Dorfschützer ein kriminelles Netzwerk ist und unterstützt es. Aus internen Dokumenten des türkischen Innenministeriums von 1996 geht hervor, dass jeder dritte Dorfschützer ein Verbrechen begangen hat. Allein im Zehn-Jahres-Zeitraum zwischen 1986 und 1996 wurden 23.222 temporäre Dorfschützer wegen verschiedener Vergehen entlassen. 1996 sagte Ministerpräsident Necmettin Erbakan unter Berufung auf einen MIT-Bericht: „Das System der Dorfschützer im Südosten funktioniert wie ein Heroin-Netzwerk."

Im Jahr 2006 hielt das Innenministerium in einem Bericht fest: „Insgesamt 5.000 temporäre Dorfschützer haben Straftaten begangen, darunter 2.384 terroristische Straftaten, 934 Straftaten gegen das Eigentum, 1234 Straftaten gegen die Person und 420 Straftaten im Zusammenhang mit Schmuggel. 853 temporäre Dorfschützer wurden verhaftet.“

Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD umfassen die von den Dorfschützern zwischen 1985 und 2023 begangenen Straftaten wie Dorfverbrennungen, Dorfräumungen, Übergriffe und Vergewaltigungen, Entführungen, bewaffnete Überfälle, Erpressungen und Hinrichtungen. Darüber hinaus begingen die Dorfschützer Straftaten wie Tötung, Körperverletzung, Verschwindenlassen, Folter und Misshandlung, Verursachung von Selbstmord, Waldbrand, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Ökozid.

Anfragen werden nicht beantwortet

Von Abgeordneten der HDP und BDP zu verschiedenen Zeiten eingereichte schriftliche und mündliche parlamentarische Anfragen und Anträge auf eine Untersuchung der von Dorfschützern verursachten Schäden blieben unbeantwortet. Die Journalistin Burcu Karakaş erklärte, sie habe von ihrem Bürgerrecht im Rahmen des Gesetzes über den Zugang zu Informationen Gebrauch gemacht und verschiedene Fragen über die Dorfschützer an das Innenministerium und Gouverneure gestellt. Ihre Fragen seien nicht beantwortet worden – mit der Begründung, diese seien „dienstspezifisch“ und dürften nicht offengelegt werden.

Am 27. April 2022 verteidigte der ehemalige Innenminister Süleyman Soylu die Dorfschützer mit den Worten, dass sie „seit 1985 in dieser Institution ehrenvoll die Fahne tragen und denen, die dieses Land teilen wollen, keine Gelegenheit gegeben haben".

Was wird die kurdische Gesellschaft mit diesen Menschen tun?

Im Ergebnis hat der Staat bei der Schaffung, Entwicklung und Umgestaltung des Systems der Dorfschützer die Verbrechen derer, die an diesem System beteiligt waren, geduldet, gefördert und unterstützt. Aus diesem Grund hat sich das staatlich kontrollierte Dorfschützersystem in das größte kriminelle Netzwerk verwandelt. Da der Krieg des türkischen Staates gegen die Kurdinnen und Kurden anhält, wird die Kriminalität der Dorfschützer weiterhin gerechtfertigt.

Aber wenn dieser Krieg eines Tages zu Ende geht, was wird dann aus diesen Zehntausenden von Bewaffneten, die zusammen mit ihren Familien zu Hunderttausenden zählen? Was wird die Gesellschaft mit Menschen machen, die in so viele Verbrechen verwickelt sind? Und was noch wichtiger ist: Was wird die kurdische Gesellschaft mit diesem System tun, das die sozialen Beziehungen zutiefst erschüttert und Kinder gegen ihre Väter aufgebracht hat?


Anmerkung: In der türkischen Langversion des Artikels sind diverse Beispiele der von Dorfschützern in Kurdistan im Auftrag des türkischen Staates begangenen Verbrechen aufgeführt.