Nubar Melkonian gehört zum Kommando des in Nordsyrien kämpfenden armenischen Bataillons „Şehîd Nubar Ozanyan“. Im Gespräch mit ANF gab er eine Einschätzung der Entwicklungen in der von Karabach-Armeniern bewohnten Republik Arzach ab und erklärte, der türkische Staat benutze den Angriffskrieg Aserbaidschans für den Ausbau seiner Hegemonie im Kaukasus.
Wie bewerten Sie den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan in Arzach und welche Rolle spielt die Türkei dabei?
Wir verurteilen die Angriffe und die Aggression aufs Schärfste. Der Krieg wirkt wie eine Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan, dabei wird er vom türkischen Staat geplant und organisiert. Der türkische Staat steht hinter diesem Krieg und nimmt an ihm direkt teil. 150 ranghohe türkische Soldaten und Militärverantwortliche sind Teil der Koordination dieser Angriffe. An den Luftschlägen auf armenische Siedlungen nehmen selbst türkische Kriegsflugzeuge und ihre Piloten teil. Der Kommandostab des Generalstabs ist ebenfalls Teil des Angriffs. Sowohl bewaffnete und unbewaffnete Drohnen aus Israel als auch solche vom Typ Bayraktar werden eingesetzt.
Die Türkei agiert so, als wäre Aserbaidschan ein Teil von ihr. Das türkische Verteidigungsministerium und Präsident Erdoğan geben mehr Erklärungen über den Fortgang des Krieges ab als die Regierung von Aserbaidschan selbst. Sie haben in diesem Krieg die entscheidende Führung übernommen. Dass der türkische Staat den Krieg sowohl am Verhandlungstisch als auch auf dem Feld begleitet, deutet auf die hohen Erwartungen Ankaras hin. Außerdem gibt es in diesem Krieg viel Dysbalancen. Die internationalen Mächte haben ihre Pläne, ihre Absichten und Interessen. Hinter dem Bild, das sich uns bietet, gibt es eine tiefgehende Dimension regionaler und internationaler Interessen.
Wir ächten die türkischen Aggressionen auf dem Schlachtfeld wie am Verhandlungstisch. Wir wissen, dass sich die gleiche Aggression auch gegen die Kurden und Armenier in Nord-, Süd- und Westkurdistan/Rojava richtet. Dieser Angriff kommt nicht allein. Einerseits halten die Angriffe auf Heftanîn an, andererseits droht darüber hinaus eine Ausweitung der Besatzung in Rojava. Auch in Nordkurdistan und der Türkei findet ein Angriff statt. Dort wird massiv gegen die HDP vorgegangen und kurdische Arbeiter werden attackiert. Der Angriff auf Armenien ist kein Zufall, sondern Teil dieser Kampagne. Der türkische Staat braucht Feinde, um fortzubestehen. Es handelt sich um ein faschistisches Regime, das Feinde schafft, eine Hassstimmung erzeugt und damit seine Konsolidierung anstrebt. So hetzt es einerseits die Völker gegeneinander auf und treibt andererseits eine expansionistische Besatzungspolitik voran.
Sie haben gesagt, der Krieg werde vollständig von der Türkei bestimmt. Was ist denn der Vorteil, den sich die AKP/MHP-Regierung davon erwartet?
Der türkische Staat hat unterschiedliche Interessen an dem Krieg. Zum einen steht die historische Feindschaft gegenüber dem armenischen Volk dahinter. Außerdem geht es um das Öl und Gas in Aserbaidschan. Darüber hinaus soll die aserbaidschanische Regierung in ein Abhängigkeitsverhältnis zum türkischen Staat gebracht werden. Es geht darum, die Kontrolle des türkischen Staates über den Kaukasus auszubauen und die Vorherrschaft in der Region auszuweiten. Sie wollen die Region Arzach mit ihren armenischen Bewohnern unter dem Vorwand des „Terrors“ auslöschen.
Die Armenier betrachten die Lage auf diese Weise. Wir sehen diesen Angriff als Versuch eines zweiten Genozids. Die Angst vor dem Genozid hat sich in das Gedächtnis des armenischen Volkes eingebrannt. Diese Angst hat seit 105 Jahren nicht aufgehört und wird angesichts der aktuellen Entwicklungen nicht enden. Denn ohne ein Ende der völkermörderischen Angriffe und der Hetze, kann diese Angst auch nicht verschwinden. Deswegen ist das armenische Volk wie Granatapfelkerne auf dem Planeten verstreut. Bei allen Armeniern hat sich ein Gefühl der Einheit entwickelt. So wie die Angriffe des türkischen Staates auf Efrîn und Serêkaniyê ein Einheitsgefühl bei den Kurden zur Verteidigung ihres Landes hervorgerufen haben, so ist dies gleichermaßen bei den Armeniern mit dem Angriff auf Arzach geschehen.
Arzach will von Armenien und Aserbaidschan unabhängig sein. Wie ist dies zu betrachten?
So wie die Nationalitäten das Selbstbestimmungsrecht haben, sich in Republiken zu organisieren, haben sie auch das Recht, die Autonomie auszurufen. Über dieses Recht verfügt die Bevölkerung dort. Sie kann über sich selbst bestimmen. Das, was hier als Demokratische Autonomie bezeichnet wird, muss auch dort respektiert, akzeptiert und unterstützt werden. Die Türkei greift ein Volk an, das sein Schicksal selbst bestimmen will. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um einen Vernichtungsangriff auf die Armenier.
Der türkische Staat behauptet, dass unter anderem Einheiten Ihres Bataillons nach Arzach geschickt worden seien? Trifft das zu?
Neben Vernichtung, Plünderung und Mord ist der türkische Staat auf die Verdrehung von Tatsachen spezialisiert. Das Hauptziel des armenischen Bataillons in Rojava ist es, die Armenier in dieser Region zu verteidigen. An zweiter Stelle steht der Wiederaufbau der durch den Genozid verlorenen Sprache und Kultur. Das armenische Bataillon ist im Moment hier in Rojava, im übrigen hat das armenische Militär seine Unterstützung auch gewiss nicht nötig. Die Grundaufgabe des Nubar-Ozanyan-Bataillons ist es, die demokratische Selbstverwaltung und die Armenier in dieser Region zu verteidigen. Der türkische Staat will auf der ganzen Welt einen falschen Eindruck vermitteln und so Feindschaft schüren. Ob bei den Angriffen auf Rojava, auf Südkurdistan oder jetzt auf Armenien, überall sollen die Angriffe mit Terrorvorwürfen legitimiert werden. Er versucht auf diese Weise Unterstützung zu erhalten, denn die sogenannte „Terrorbedrohung“ wirkt fast immer. Wir wissen, dass es sich dabei um eine komplette Lüge handelt.
Jeder Mensch weiß, dass die PKK nicht in Armenien ist. Dort ist nicht Kurdistan und die PKK führt ihren Freiheitskampf in ihrem eigenen Land. Sie hat keinen Grund, sich in Armenien aufzuhalten. Es gibt dort weder viele Kurden noch verfolgt die PKK einen Plan, das Land oder die Bevölkerung dort zu befreien. Genauso wenig haben die YPG einen solchen Plan. Sie wurden zur Selbstverteidigung ihres Landes gegründet. Das Nubar-Ozanyan-Bataillon ist ebenfalls eine Selbstverteidigungskraft von Rojava. Deshalb gibt es keinen Grund, nach Armenien zu gehen. Das Bataillon erfüllt seine Pflicht an seinem Ort.
In der Presse heißt es, die Türkei habe Dschihadisten aus Syrien und Libyen nach Aserbaidschan gebracht. Was sagen Sie dazu?
Das wichtigste Exportgut in der Geschichte des türkischen Staates sind Truppen. Dieser Staat, der sich Zeit seiner Existenz dafür rühmt, Soldaten in drei Kontinente und über die sieben Weltmeere (Gebiete des Osmanischen Reiches) entsandt zu haben, exportiert nun auch Dschihadisten. Es werden solche Söldnertruppen nach Libyen, Rojava, Südkurdistan und aktuell auch nach Armenien geschickt. Das sind nämlich ihre billigsten Truppen, sowohl was die Kosten als auch was die Folgen betrifft. Wenn sie sterben, besteht nicht die Gefahr, dass sich Wut über den Krieg in der Bevölkerung Bahn bricht. Denn wenn jemand aus der Bevölkerung in der Türkei stirbt, wird die Verantwortung dafür dem AKP/MHP-Regime zugeschrieben. Mit der Ausbildung und Entsendung von Söldnertruppen beseitigt das Regime dieses Risiko und die Öffentlichkeit im Land wird beruhigt. So entsteht kein öffentlicher Druck.
Ein weiterer Faktor ist, dass es sich hier um sehr einfache Truppen von Marodeuren ohne wirkliches eigenes Ziel handelt. Diese Marodeure gehen blind dorthin, wo es die Möglichkeit von Plünderungen, Raub und Vergewaltigungen gibt. Diese Truppen haben sogar in Aserbaidschan geplündert und damit begonnen, Frauen zu entführen und zu vergewaltigen. Sie fügen nicht nur dem armenischen Volk, sondern auch der aserbaidschanischen Bevölkerung, die sie angeblich schützen sollen, Schaden zu. Wohin sie auch gehen, werden sie zum Fluch für die Völker.
Der türkische Staat setzt seine rassistisch-turanistische Politik fort. Diese Situation ist auch in Arzach deutlich zu erkennen.
Als der türkische Staat in Rojava einfiel, wurden die Kurden, Armenier und Suryoye ein zweites Mal von ihrem Land vertrieben. In Girê Spî und Serêkaniyê haben die Armenier einen zweiten Genozid erlebt. Sie mussten erneut ihre Heimat verlassen. Ebenso ist es den Suryoye und den Araber ergangen. Für die Türkei steht der Rassismus im Vordergrund. Denn abgesehen von Revolutionären, Patrioten und echten Intellektuellen hat niemand Einwände gegen ihre Politik. Ein großer Teil der Gesellschaft fällt auf die Lügen und den Rassismus herein. Deshalb macht die Türkei im Moment das Gleiche mit der arabischen Bevölkerung. Sie kultiviert inzwischen neben ihrem Hass auf die Kurden und Armenier auch ihren Rassismus gegen Araber. Wir sehen das auch in den rassistischen Angriffen auf arabische Arbeiter.
Was muss gegen diese Angriffe unternommen werden? Haben Sie eine Botschaft an die Öffentlichkeit?
Alle, die ein Leben in Würde und Frieden auf der ganzen Welt wollen, insbesondere die Armenier, sollten gegen die expansionistische, mörderische Politik des türkischen Staates aufstehen und „Stopp“ sagen. Sie sollen in den Ländern, in denen sie sich befinden, Aktionen durchführen und die Politik von türkischen Einrichtungen offenlegen. Auf diese Weise stellen sie sich an die Seite der Unterdrückten. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen und historischen Situation. Die Forderungen des kurdischen und armenischen Volkes, ihr Schicksal und ihre Zukunft war nie so eng verwoben. Die Gründe für die Angriffe auf Armenier in Armenien und Kurden sowie andere Völker in Rojava sind die gleichen. Zum Beispiel bezeichnet der türkische Staat die Bevölkerung in Armenien als „armenische Terroristen“, genauso wie er Kurden als „kurdische Terroristen“ tituliert. Er greift die Kurden in Armenien genauso an wie die Kurden in Rojava. Die Gründe für das armenische und kurdische Volk, gemeinsam vorzugehen, waren noch nie so stark. Deshalb sollten Armenier ebenso wie Kurden einen Angriff auf die jeweils anderen wie einen Angriff auf sich selbst betrachten. Wir dürfen nicht vergessen: Irgendwann ist jeder dran.
Armenisches Bataillon in Rojava
Die Gründung des armenischen Bataillons in Rojava wurde am 24. April 2019, dem 104. Völkermordgedenktag, in Hesekê verkündet. Mit der Deportation der armenischen Elite am 24. April 1915 aus der osmanischen Hauptstadt Istanbul markiert dieser Tag den Beginn des Genozids an den Armeniern.
Benannt ist der militärische Kampfverband nach Nubar Ozanyan (Nom de Guerre: Orhan Bakırcıyan), der am 14. August 2017 in Raqqa als Kommandant der türkisch-kommunistischen Organisation TKP/ML-TIKKO im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ums Leben gekommen ist.
Bei den Kämpferinnen und Kämpfern des Bataillons handelt es sich um Nachfahren von Genozid-Überlebenden, die aus Provinzen wie Amed (türk. Diyarbakir), Riha (Urfa), Mûş (Muş), Bedlîs (Bitlis), Dîlok (Antep) und Êlih (Batman) nach Syrien deportiert wurden.