Das neoosmanische Spiel der Türkei und die Flüchtlingsfrage

Während in Idlib 120.000 Menschen an der Grenze warten, will die Türkei nun Soldaten nach Libyen schicken, wo die Flucht aus den Ländern des afrikanischen Kontinents nach Europa zusammenläuft.

Vor drei Tagen wurde bei Adana der von einem Plantagenbesitzer weggeworfene Leichnam eines als Flüchtling in die Türkei gekommenen syrischen Arbeiters gefunden. Es heißt, Mustafa al-Recep habe sich aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen und der gnadenlosen Ausbeutung selbst getötet. Der Tod dieses Flüchtlings spiegelt den ganzen Zynismus der türkischen Flüchtlingspolitik wider. Die Türkei hat keinem der 3,6 Millionen Flüchtlinge, die in die Türkei kamen, einen Flüchtlingsstatus zugesprochen, sondern hat ein Programm der Deportationen nach Syrien gegen die Schutzsuchenden aufgelegt. Die angeblich freiwillig ausreisenden Flüchtlinge werden mit brutaler Gewalt oder Täuschung gezwungen Dokumente zu unterzeichnen, die ihre Deportation nach Syrien legalisieren. Allerdings funktionieren diese Pläne nicht wie gewünscht, denn die Besetzung Nordsyriens verlief nicht den Wünschen der Türkei entsprechend und auch in Idlib bahnt sich eine Niederlage an.

Es treffen Nachrichten ein, dass an der Grenze von Idlib 120.000 Schutzsuchende auf ihre Ausreise warten. Die Entsendung von türkischen Soldaten nach Libyen scheint vor allem dem Ausgleich der sich anbahnenden Niederlage in Idlib zu dienen. Wir haben mit dem Autor Ercüment Akdeniz über die Flüchtlinge in Idlib und über die Libyen-Frage gesprochen.

Die Flüchtlinge aus Syrien sind arbeitslos, arm und verschuldet

Vor wenigen Tagen wurde der syrische Flüchtling Mustafa al-Recep tot im Straßengraben gefunden. Es heißt, er habe in der Fabrik, in der er arbeitete, Suizid begangen. Was sagt uns das über die aktuelle Situation der Flüchtlinge in der Türkei?

Fred und Harry Magdoff haben den Begriff der „ersetzbaren Arbeitskräfte“ (Disposable Workers) eingeführt. Es beschreibt die Arbeiter*innen, die ohne jegliche Absicherung arbeiten. Millionen von Arbeiter*innen haben keinerlei Absicherung. Anschließend werden sie entlassen. Die Chefs haben keinerlei gesetzliche Verpflichtung zur Absicherung dieser Arbeitskräfte. In einer Zeit, in der weltweit so viel Migration stattfindet, bilden diese den Großteil der „ersetzbaren Arbeitskräfte“.

Wir sprachen von dem Arbeiter in Adana, der sich aufgrund einer Depression das Leben nahm und dessen Leiche vom Chef der Firma einfach am Straßenrand abgelegt wurde. Sie benutzen die Arbeiter*innen, sie beuten sie aus, und wenn die Arbeiter*innen aufgrund von Arbeitsunfällen oder aus anderen Gründen sterben, dann werden sie einfach weggeworfen. Das ist äußerst dramatisch. Das geht weit über das Gesetz und über alles andere hinaus. Wenn Sie die sogenannten Arbeitsunfälle – nichts anderes als Morde – an den Flüchtlingen und Migrant*innen betrachten, dann werden sie sehen, dass keiner von ihnen einen Anwalt hat und dass die Ermittlungen in diesen Fällen nicht weiter verfolgt werden, sondern in der Schublade verschwinden. Daher entstehen durch solche „Arbeitsunfälle“, bei denen Migrant*innen sterben, den Chefs keine Kosten. Und es gibt noch einen anderen Punkt. Es gibt diesen Diskurs, in dem es heißt: „Es gibt Arbeitslosigkeit, unsere Jugend findet trotz Abschluss keine Arbeit und bringt sich um, aber habt ihr jemals einen Syrer gesehen, der sich umgebracht hat?“ Bestimmte Kreise versuchen durch solche Narrative die Menschen aufzuhetzen. Es ist doch so, wie wir es in Adana gesehen haben, die Menschen aus Syrien hungern ebenfalls, sind auch arbeitslos und verschuldet … Im Kampf gegen die Krise müssen die Arbeiter*innen aus der Region und die Migrant*innen zusammenstehen, denn das Problem betrifft sie gemeinsam.

Es gibt ein beidseitiges Misstrauen

Es gibt im Land eine wachsende Flüchtlingsfeindlichkeit. Jetzt kommen viele Menschen aus Idlib. Was denken sie, werden die Folgen sein?

Es gibt sowieso schon eine angespannte Atmosphäre. Es gibt einige Untersuchungen dazu und es wurde festgestellt, dass die Menschen unabhängig von Parteizugehörigkeit an der Basis zu einem sehr hohen Prozentsatz die Haltung vertreten, „die Migranten müssen zurückgeschickt werden“. Aber diese Haltung darf nicht nur als flüchtlingsfeindlich oder antisyrisch interpretiert werden. Es hat etwas damit zu tun, dass das Problem nicht gelöst wurde, obwohl bereits acht Jahre vergangen sind. Aber auch die Schutzsuchenden sind unzufrieden. Es wurde weder Integrations- noch Ansiedlungspolitik betrieben noch wurde den Menschen ein Flüchtlingsstatus gegeben.

Mit der wachsenden ökonomischen Krise hat das Problem noch einmal ein ganz neues Ausmaß angenommen. Die Menschen fragen, wie lange das noch so weitergeht. Diesem Druck gegenüber hat die Regierung mit einer Politik des Zurückschickens nach Syrien begonnen. Wie viele von diesen Menschen, die zurückgeschickt werden, gehen auf eigenen Wunsch? Auch das ist Gegenstand vielfältiger Diskussionen. Daher sind beide Seiten, die Flüchtlinge und die Menschen aus der Türkei beunruhigt über die Nachrichten, dass etwa 120.000 Menschen aus Idlib kommen werden. Die Leute sagen: „Das Problem mit den vier Millionen, die hier sind, wurde nicht gelöst und jetzt sollen Neue kommen?“ Währenddessen befürchten die in der Türkei lebenden Schutzsuchenden noch stärker ins Visier zu geraten. Es gibt keine Bedingungen, unter denen die Menschen zurückkehren können. Das angeblich sichere Idlib ist offensichtlich ebenfalls nicht sicher.

Das Ziel ist es, die Schutzsuchenden aus der Türkei zu vertreiben

Die Türkei hat einen Angriffskrieg auf Nordsyrien unter dem Credo begonnen, dort eine „Sicherheitszone“ errichten zu wollen. In diesem Besatzungsgebiet, wie auch in Idlib, kommt es ständig zu Gefechten. Wie realistisch ist es, Flüchtlinge unter diesen Bedingungen dorthin zu schicken?

Viele Politiker*innen und Akademiker*innen haben in der Region Untersuchungen angestellt und zu Recht festgestellt, dass wo auch immer man dort eine „Sicherheitszone“ errichten will, die Bedingungen dem nicht entsprechen können. Denn es wird in der Region immer die Basis für bewaffnete Auseinandersetzungen geben. Deswegen ist dieses Gerede vom Zurückschicken nicht realistisch. Weder die ökonomische Lage macht dies möglich, noch kann man Menschen in ein Kriegsgebiet schicken. Aber natürlich gibt es da auch Europa, das nur an seine Grenzsicherung denkt und dem es ausreicht, wenn Flüchtlinge keinen europäischen Boden berühren. Deswegen wurde das „Rückübernahmeabkommen“ mit der Türkei geschlossen.

Es ist praktisch eine Mauer an der Ägäis errichtet worden. Dann sind die Flüchtlinge in der Türkei eingesperrt worden. Das widersprach vielen internationalen Abkommen. Und nun wird mit der „Sicherheitszone“ eine neue Situation geschaffen, die den internationalen Abkommen widerspricht. Dabei geht es darum, die Flüchtlinge aus der Türkei zu werfen und diejenigen, die sich an der Grenze versammeln, dort zu halten. Das ist ebenfalls rechtswidrig, aber die Vereinten Nationen interessieren sich nicht mehr besonders für das Recht. Sie wollen, dass die Last auf den Schultern der weniger entwickelten Länder bleibt.

Deswegen könnte es sogar sein, dass die Türkei Gelder für „Sicherheitszonen“ außerhalb ihres Territoriums erhält. Denn man darf nicht ignorieren, dass die Türkei immer wieder damit droht, „die Tore zu öffnen“. Aber die Frage ist, wer finanziert das. Die EU und die anderen internationalen Institutionen stehen dem dennoch nicht offen gegenüber. An diesem Punkt wird es zu einer Krise kommen. Deswegen glaube ich, dass es, wenn keine große „Sicherheitszone“ eingerichtet wird, auf Druck der Türkei kleine „Sicherheitszonen“ ermöglicht werden. Das ist nicht richtig, aber es wird wohl so laufen.

Auch wenn die Türkei imperiale Träume verfolgt, so fehlt ihr doch die Kraft

Gut, wie Sie gesagt haben, es gibt seit acht Jahren keine Lösung für die syrische Frage. Nun wird aber darüber geredet, Soldaten nach Libyen zu entsenden. Bedeutet das nicht, dass sich das Problem noch weiter verschärfen wird?

Um die Libyen-Krise in Bezug auf die Flüchtlingssituation besser zu verstehen, ist es notwendig, folgendes zu wissen: Nach dem „Erfolg“ des EU-Türkei-Abkommens wurde probiert, dies auch in Libyen zu machen. Im Namen der EU hat Italien und im Namen Afrikas Libyen unterzeichnet. Die Flucht der Menschen aus den subsaharischen Ländern wurde in Libyen in großen Gefängnissen und Lagern gestoppt. Dieses Abkommen wurde von den beteiligten Staaten als Erfolg bezeichnet. Und das während Menschen auf Sklavenmärkten für Plantagen dem Marktpreis entsprechend verkauft werden.

Andererseits, wenn wir von Libyen sprechen, dann irren wir uns. Libyen ist der Ort, an dem die ganze Migration des Kontinentes Afrika festsitzt. Wenn wir mit Libyen spielen, dann spielen wir mit der Migration dort. Wenn wir zur Türkei kommen, so steckt diese in drei verschiedenen Sackgassen. Die erste ist die neoosmanische Außenpolitik, die vor Syrien nicht halt machte und die Türkei gegen die Wand laufen ließ. Am Ende bleibt sie auf Millionen von Schutzsuchenden sitzen. Aber die Türkei verfolgt diese Politik noch weiter.

Bei der zweiten Sackgasse handelt es sich um Auseinandersetzungen in Bezug auf die Erdgasvorkommen im Mittelmeer. Hier hat sich die Türkei isoliert. Die Region kann zu einem Kampfgebiet werden. In Bezug auf Libyen verfolgt die Türkei seit Davutoğlu eine provokative Außenpolitik; es geht darum, hier für Chaos zu sorgen und so die inneren Dynamiken zu manipulieren. Sie benutzen in ihren Erklärungen zu den Erdgasfragen den Ausspruch von Mustafa Kemal, „Es gibt keine Verteidigungslinie, sondern die Verteidigung einer Fläche“. Was bedeutet die Verteidigung einer Fläche? Das bedeutet, unser Festlandsockel mag sein wo er will, aber wir werden überall auf dem Meer sein. Es heißt: „Wir werden nicht nur innerhalb der Grenzen der Türkei, sondern in den Grenzen des Osmanischen Reichs aktiv sein. Wir werden uns in Libyen auf unserem alten osmanischen Territorium befinden.“ Sie verwenden Mustafa Kemals freiwillige Beteiligung am Krieg gegen Italien in Nordafrika als Beispiel und sagen: „Dort war das Gebiet des Vaterlandes und deswegen ist er dort hingegangen.“ Libyen hat aber sein Schicksal selbst bestimmt und ist ein souveränes Land und die Türkei ist nicht mehr das Osmanische Reich. So etwas gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr. Aber der politische Verstand bewegt sich nach der Logik, dass wenn die Balancen auf der ganzen Welt ins Wanken geraten, dann bestünde doch die Möglichkeit, hier ebenfalls zum osmanischen Status quo zurückzukehren. Aber auch wenn die Türkei diese imperialen Träume hat, sie hat sowohl aufgrund ihrer ökonomischen Lage als auch aufgrund ihrer inneren Dynamiken nicht die Kraft, sich wie ein imperialistischer Staat neu aufzubauen.

In Bezug auf Syrien hat man ja das Argument der Grenzsicherheit verwandt, aber für Libyen dürfte diese Argumentation ja wohl schwierig werden …

So ein großes Gebiet für eine Expansion zu anzustreben, ist an sich schon ein Problem. So wie die AKP in Syrien gegen die Wand gerannt ist, wird es ihr in Libyen noch zwei- oder dreimal schlimmer ergehen. Über die Entsendung von Soldaten nach Libyen wird im Parlament abgestimmt. Es bedarf stattdessen einer Außenpolitik, die für Frieden unter allen Völkern sorgt. Die Bevölkerung teilt die Begeisterung für einen Einsatz in Libyen nicht. Sie erlebt bereits seit Jahren die Ergebnisse der Außenpolitik in Syrien. So wie die Bourgeoisie und das Dreiergespann Enver, Talat und Cemal in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches nach neuen Gebieten und neuen Märkten gierte, verfolgen sie heute eine ähnliche Politik. Es wurde mit der Sicherheit der Grenze nach Syrien argumentiert, aber was soll jetzt zu Libyen gesagt werden? Auch die Behauptung „Wir haben von der Türkei bis Libyen im Mittelmeer einen breiten Sicherheitskorridor errichtet und gegen Griechenland ein echtes Tor geschossen, so dass die ganz Welt erstaunt war“, entspricht auf internationaler Ebene nicht der Realität. Wenn Frankreich, Russland, die USA, England und China dem Ball hinterherlaufen, dann kommt die Türkei nicht so leicht an den Ball. Dabei geht es natürlich um Innenpolitik. Es ist allerdings äußerst gewagt, in einer solchen ökonomischen Krise ernsthaft zu glauben, im Volk Widerhall zu finden.