Syrienkrieg: Dritter Weg im Wirrwarr internationaler Interessen

Mako Qoçgirî, Mitarbeiter von Civaka Azad e.V., wirft mit dem vorliegenden Artikel einen Blick auf die Interessenslagen und die damit verbundenen Widersprüche in Syrien. Welche Mächte verfolgen welche Ziele und wie sieht die Perspektive für Frieden aus?

Seit 2011 herrscht ein internationaler Bürgerkrieg in Syrien. Regionale und internationale Mächte wirken in diesem Krieg mit. Der Kampf gegen den IS hat die widersprüchlichen Interessen auf dem syrischen Schlachtfeld temporär in den Hintergrund geraten lassen. Doch spätestens seit dem militärischen Sieg über die Organisation in al-Baghuz sind die gegensätzlichen regionalen und internationalen Interessen in voller Härte wieder zum Vorschein gekommen. Wir wollen mit diesem Artikel einen Blick auf die Interessenslagen und die damit verbundenen Widersprüche in Syrien werfen. Welche regionalen und internationalen Mächte verfolgen welche Ziele in dem kriegsgebeutelten Land? Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für die lokalen Akteure in dem Konflikt? Und wie sieht in diesem Zusammenhang die Perspektive für einen Frieden in Syrien aus? Wir möchten versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Assad als großer Sieger des Bürgerkriegs?

Als im Jahr 2010 der arabische Frühling über die Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens hinwegfegte, entbrannte die Hoffnung auf einen Wandel in einer Vielzahl von autoritär geführten Staaten der Region. Die Menschen rebellierten grenzübergreifend und waren nicht mehr gewillt, die diktatorischen Regime in ihren Ländern zu akzeptieren. Der Wunsch nach einer Demokratisierung war vielerorts zu spüren. Doch der Wind sollte sich bald drehen. Denn verschiedenste Regional- und Großmächte waren nicht bereit, den Wandel in der Region den Massen zu überlassen. Sie mischten in verschiedenen Ländern mit, unterstützten dort, wo es sie gab, ihnen genehme Akteure oder erschufen sie dort, wo es sie nicht gab.

Im Zuge des „Arabischen Frühlings“ geriet bald auch Syrien ins Visier der regionalen und internationalen Akteure. Die Proteste gegen das Baath-Regime im Jahr 2011 wurden rasch vereinnahmt. Aus friedlichen Protesten entwickelte sich so schon bald ein blutiger bewaffneter Bürgerkrieg. Ausgerufenes Ziel war es, die Regierung von Bashar al-Assad zu stürzen. Doch im Jahr 2019 ist Assad weiterhin an der Macht und er hat nach dem anfänglichen Verlust weiter Territorien nun einen Großteil Syriens wieder unter seine Kontrolle gebracht. Der Sieg über die sogenannte Freie Syrische Armee in Aleppo war ein Wendepunkt im Bürgerkrieg. Das nächste Ziel der Regimekräfte ist die Provinz Idlib.

Was Assad beabsichtigt, ist die Wiederherstellung des Status quo ante bellum in Syrien. Mit der großzügigen Unterstützung Russlands, des Irans und der libanesischen Hisbollah hat er ein großes Stück auf der Strecke zu diesem Ziel genommen. Die zentrale Herausforderung zur vollständigen Umsetzung seines Vorhabens stellen neben dem Kampf um Idlib, der Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens sowie mit den von der Türkei besetzten Gebiete in Nordsyrien dar. Das Vorhaben der arabischen Golfstaaten, der Türkei und des Westens, sein Regime zu stürzen, scheint bereits jetzt erfolgreich abgewendet. In die Karten des Assad-Regimes hat in jedem Fall das zwischenzeitliche Erstarken des IS gespielt. Denn diejenigen Mächte, die ihn eigentlich stürzen wollten, mussten dadurch ihren Fokus im syrischen Bürgerkrieg neu legen. Aufgrund der internationalen Gefahr, die von dieser Organisation ausging, erschien Assad für viele seiner einstigen Gegner nun als das kleinere Übel. Das Interesse an einem Regimewechsel in Syrien rückte dadurch jedenfalls in den Hintergrund. Ob Assad aber sein Land vollständig in den Zustand vor dem Bürgerkrieg zurückführen kann, bleibt zumindest fraglich.

Die Interessenslage Russlands und des Irans

Ein vorläufiger Sieger des syrischen Bürgerkriegs scheint Russland zu sein. Mit breiter militärischer Unterstützung für Assad konnte über diesem das russische Einflussgebiet in Syrien aufrechtgehalten und ein, dem westlichen Interessen entsprechender Regime-change abgewehrt werden. Selbst die Türkei, ein eingeschworener Befürworter des Sturzes von Bashar al-Assad, wurde erfolgreich in die syrische Interessenspolitik Moskaus eingebunden. Die Türkei ist im Laufe des syrischen Bürgerkriegs zu einem besonders nützlichem Partner Russlands geworden. Denn über Ankara gelingt es, den Aktionsradius verschiedener islamistisch-gesinnter Gegner Assads unter Kontrolle zu halten. Der Rückzug der islamistischen Rebellen in Aleppo auf Geheiß der Türkei ist ein Paradebeispiel dieses Erfolgs. Auch in Idlib führt Russland eine ähnliche Diplomatie, um die Rückeroberung der Stadt durch Assad zu erleichtern.

Einen weiteren Vorteil bietet die Türkei aus russischer Perspektive im Umgang mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Hier fungiert die Türkei als wichtiges Drohmittel. Die Föderation wird immer wieder vor folgende Wahl gestellt: Entweder akzeptiert ihr die Hoheit des Assad-Regimes über die von euch kontrollierten Gebiete oder wir lassen die Türkei auf euch los.

Ein besonderes Interesse am Machterhalt des Assad-Regimes zeigte von Anfang an auch der iranische Staat. Gerade vor dem Hintergrund des internationalen Drucks auf das eigene Regime verfolgt Teheran eine Politik, mit der es die Konflikte in der Region vor der eigenen Haustür halten möchte. Und so mischt der Iran munter in den Bürgerkriegen im Jemen und Syrien sowie in der politischen Krise im Irak mit. In Teheran ist man sich dessen bewusst, dass der Westen und die Golfstaaten mit herbeigeführten Regimewechseln den Iran umzingeln möchte. Die Abwendung dieses Vorhabens wie derzeit in Syrien ist somit ein ernstzunehmendes Interesse des Mullah-Regimes.

Westliche Interessen: Kampf gegen den IS und der drohende Einflussverlust in Syrien

Maßgeblichen Einfluss an dem Abdriften des syrischen Aufstands in einen Bürgerkrieg haben die westlichen Interessen in der Region. Sie haben die Bewaffnung der syrischen Gegner des Assad-Regimes vorangetrieben und auch über lange Zeit von ihrem Vorhaben, das Regime zu stürzen, nicht abgelassen, als innerhalb des Assad-feindlichen Lagers islamistische Kräfte die Überhand gewannen. Erst mit dem Erstarken des IS in Syrien, das die vom Westen unterstützte Opposition im Land samt ihrer Waffen aus dem Westen und den arabische Golfstaaten förmlich überrannte, wurde dieser Kurs korrigiert. Dieselben Mächte, die alles auf einen raschen Sturz von Assad setzten, versammelten sich fortan unter der Anti-IS Koalition. Notgedrungen suchten sie die Kooperation mit einem politischen Akteur, den sie bis dato mit allen Mitteln im syrischen Bürgerkrieg zu ignorieren versuchten - der Demokratischen Föderation in Nordsyrien. Deren Selbstverteidigungskräfte, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), galten als letzte effektive Bodentruppen, die dem IS etwas entgegen zu bieten hatten. Diese Kooperation war auch im Sinne der Demokratischen Föderation, galt doch der IS mit der Unterstützung der Türkei als ernstzunehmende Gefahr für die radikaldemokratische Revolution von Rojava. Parallel zur militärischen Kooperation, die letztlich zum militärischen Sieg über den IS führte, setzt der Westen allerdings bis heute alles daran, eine politische Anerkennung der Föderation zu unterbinden. So werden dieselben Akteure, welche die größten Opfer im Kampf gegen den IS aufgebracht haben, von allen internationalen Friedensverhandlungen für Syrien konsequent herausgehalten. Dass dieser Kurs allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, zeigen die zuletzt von der UN initiierten Verfassungsverhandlungen für Syrien in Genf (http://civaka-azad.org/die-loesung-slosigkeit-syrischer-friedensverhandlungen/).

Der jüngste NATO-Gipfel zeigt zudem, wie der Westen einerseits zwar seinen Einfluss in Syrien nicht aufgeben will, andererseits aber auch, welche Risse innerhalb dieses Machtblocks sich aufgetan haben. Soll man auf die Türkei setzen, um einen Fuß in Syrien zu halten (Tendenz innerhalb der deutschen Bundesregierung) oder doch den Kontakt zur Föderation Nordsyriens suchen, um nicht vollständig vom unverlässlichen türkischen Partner abhängig zu sein (eher die französische Haltung). Dass sich die Großmacht USA in dieser Frage auch noch nicht vollständig entschieden hat, zeigt der von Washington vollzogene Rückzug in Syrien. Die ernstzunehmende Gefahr eines Widererstarkens des IS im Zuge des aktuellen türkischen Besatzungskriegs lässt diese Frage umso dringender erscheinen.

Türkei: Neoosmanische Träume und die „kurdische Gefahr“

Eine der Mächte, die von Anfang an am vehementesten für den Sturz Assads in Syrien eingetreten ist, war die Türkei. Hierfür hat sie mit am aktivsten an der Bewaffnung und Ausbildung der Anti-Assad-Truppen mitgewirkt. Im Gegensatz zum Westen, der ein gewisses Unbehagen am Erstarken islamistischer Kräfte in Syrien zeigte, ist dies der Türkei herzlich egal. Ankara hat, als es das Blatt in Syrien sich wenden sah, sogar mit dem Abschuss eines russischen Jets versucht, einen Krieg zwischen der NATO und Russland auf syrischem Boden zu provozieren. Als diese Rechnung allerdings nicht aufging, sah sich das Erdogan-Regime plötzlich Moskau ausgeliefert. Heute ist auch das kleinste Handeln der Türkei in Syrien ohne die Einwilligung Putins nicht denkbar.

Aktuell ist das der Türkei noch recht, hat sich doch die Syrienpolitik Ankaras mit der Entstehung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien bedeutend verändert. Vom Sturz des Assad-Regimes ist keine Rede mehr. Der einzige Fokus der türkischen Politik ist die Bekämpfung der Föderation Nordsyriens, einschließlich eines genozidalen Kurses gegen die dort lebende kurdische Bevölkerung. Dafür werden weiterhin islamistische Truppen massiv von der Türkei unterstützt. Wie bereits oben beschrieben, nutzt die kurdenfeindliche Politik Ankaras bis zu einem gewissen Grad auch der russischen Syrienpolitik.

Die Türkei hat allerdings auch ihre neoosmanischen Träume nicht aus dem Blick verloren. Ankara hat eigentlich seit der Neuordnung des Mittleren Ostens infolge des Ersten Weltkrieges nie aufgehört, Ansprüche auf die Gebiete im Norden Syriens und im Norden des Iraks zu erheben. Die Besatzungsoperationen in Nordsyrien passen da ins Konzept. Die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten sind ebenfalls Teil einer längerfristig ausgelegten Politik. Doch wie wird die Haltung Russlands zu der Besetzung dieser Gebiete aussehen, wenn die Türkei ihre Rolle als nützlicher Dienstleister der russischen Syrienpolitik ausgespielt hat? Und wie lange kann die Türkei die kostspielige Besatzung vor dem Hintergrund des anhaltenden Widerstands der Völker Nordsyriens aufrechterhalten? Diese Fragen müssen aktuell noch unbeantwortet bleiben.

Die Politik des Dritten Weges als Konstante der Föderation Nordsyriens

Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Interessen im syrischen Bürgerkrieg hält die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens als eine der wenigen Akteure an ihrem politischen Kurs konsequent fest. Dieser Kurs lässt sich als Politik des dritten Weges umschreiben. Erstmals deklariert wurde diese Leitlinie, als sowohl das Baath-Regime wie auch die vermeintliche syrische Opposition versuchten, die politischen Vertreter der Revolution von Rojava auf ihre Seite zu ziehen. Der dritte Weg wurde vor diesem Hintergrund als selbstbewusste Haltung deklariert, die keine Bereitschaft zeigte, sich in fremde Interessen einbinden zu lassen. Stattdessen verfolgte die Revolution von Rojava stets den Kurs, die von ihr befreiten Gebiete gegen äußere Angriffe zu verteidigen und den Aufbau einer basisdemokratischen, geschlechterbefreiten und pluralistischen Gesellschaftsordnung voranzutreiben.

Das bedeutet nicht, dass jeglicher Dialog zu anderen Akteuren rundweg abgelehnt wurde. Im Gegenteil, die Vertreter der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens suchten von Anfang an den Dialog zu allen Akteuren auf dem Feld. Eine Zusammenarbeit wurde allerdings nur dann eingegangen, wenn dies den oben genannten Eigeninteressen diente. Das geschah beispielsweise im gemeinsamen Kampf mit der internationalen Koalition gegen den IS.

Heute stellt die türkische Invasion die größte Gefahr für den Fortbestand der Föderation in Nordsyrien dar. Auch vor diesem Hintergrund bemühen sich ihre politischen Vertreter darum, mit allen Akteuren in den Dialog zu treten und auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Haltung gegen die türkische Gefahr zu drängen. Auch die militärischen Vereinbarungen mit dem Assad-Regime sind vor diesem Hintergrund zu werten.

Doch der Dialog mit dem Assad-Regime ist keiner, der allein aus einer Notsituation heraus entstanden ist. Tatsächlich bemühen sich unter dem Dach des Demokratischen Syrienrats (MSD) die Völker Nordsyriens seit geraumer Zeit, einen lösungsorientierten Dialog mit Damaskus aufzubauen. Ziel ist ein demokratischer Wandel des Landes, das dezentral strukturiert ist und somit den Raum für die demokratische Selbstverwaltung Nordsyriens und anderer Regionen eröffnet. Noch stehen die Vorstellungen Assads und der Föderation von einem zukünftigen Syrien sehr weit auseinander. Doch wenn beide Seiten einen weiteren langanhaltenden Krieg aus dem Weg gehen wollen, müssen sie einen Kompromiss finden. Wie dieser letztlich aussehen könnte, wird die Zeit zeigen. Im Kampf gegen eine längerfristige türkische Besatzung in Nordsyrien scheinen beide Seiten jedenfalls einig zu sein. Das ist ein Anfang, auf dem aufgebaut werden kann.