„Erdoğan plant neuen Flüchtlings-Gipfel mit Merkel“, „Erdoğan trifft Putin und Rohani“, „Turkey’s Erdoğan attends Trump reception“ – diese Schlagzeilen machen deutlich: In diesen Tagen mischt der türkische Staatspräsident auf der ganz großen Bühne der internationalen Diplomatie mit. Erdoğan hat Gesprächsbedarf. Er will mit den internationalen Machthabern über Syrien sprechen, insbesondere über den Norden Syriens. Damit zusammenhängend geht es auch um Idlib, dem syrischen Al-Qaida-Ableger Tahrir al-Sham, um die Frage der Geflüchteten und natürlich um die Demokratische Föderation Nordsyriens, das eigentliche Anliegen des türkischen Staatspräsidenten.
Denn der türkische Staatspräsident macht keinen Hehl daraus, dass er die Errungenschaften der Bevölkerung im Norden Syriens zunichtemachen will. Seine Interventionsdrohungen konnten nur durch anstrengende Verhandlungen mit den USA unterbunden werden. Doch kurz nach der Einigung zwischen beiden Parteien zeigte sich der türkische Staatspräsident erneut unzufrieden und begann von neuem seine Kriegsdrohungen lautwerden zu lassen. Und um diese Pläne wahr werden zu lassen dreht Erdoğan nun gleich an mehreren Schaltern.
Mit der Flüchtlingsfrage die EU erpressen
Der türkische Staatschef hat nämlich gelernt, wie leicht er die gesamte Europäische Union unter Druck setzen kann. Spätestens als in der Nacht des 17. Septembers plötzlich 791 syrische Geflüchtete auf mehreren griechischen Inseln ankamen, war die Message in Brüssel angekommen. Erdoğan entsandte eine unmissverständliche Drohung: Entweder ihr unterstützt meinen Kurs in der Frage der syrischen Geflüchteten oder ihr könnt euch selbst mit ihnen rumschlagen.
Mit dieser Drohung hat Erdoğan bereits mindestens sechs Milliarden Euro Hilfsgelder aus Europa erhalten. Nun tischt er dieselbe Drohung nochmals auf, um Unterstützung für seine Interventionspläne in Nordsyrien zu generieren. Denn seit wenigen Wochen hat sich die Sprachwahl in der türkischen Politik bzgl. der Interventionsbestrebungen verändert: Nun geht es weniger um die „Vernichtung eines Terrorkorridors“, sondern eher um eine „Lösung der Flüchtlingsfrage, welche die Türkei nicht länger alleine schultern kann.“
Erdoğan will also, dass seine Truppen in den Norden Syriens einmarschieren und anschließend die rund drei Millionen syrischen Geflüchteten dort ansiedeln. Bei dem Vorhaben gibt es nur zwei Probleme: Einmal stammen die wenigsten syrischen Geflüchteten in der Türkei tatsächlich aus den Gebieten, welche Erdoğan besetzen will. Und zum Zweiten ist die Region Nordsyriens kein menschenleeres Gebiet.
Assads arabischer Gürtel soll von Erdoğan vollendet werden
Wenn wir verstehen wollen wie das Vorhaben Erdoğans genau aussieht, reicht ein Blick auf die seit März 2018 von der Türkei besetzte Provinz Efrîn aus. Auch dort hat der türkische Staatschef Syrerinnen und Syrer ansiedeln lassen. Nur hat er zuvor erst einmal die eigentliche Bevölkerung der Region vertrieben. Während hunderttausende Kurdinnen und Kurden aus Efrîn ihre Heimat hinter sich lassen mussten und bis heute unter schwierigsten Bedingungen in der Region Shehba verweilen, siedelte der türkische Staat islamistische Milizen, die mit der Türkei kooperieren, und ihre Familienangehörigen, in der Provinz an. Diejenigen Einwohner Efrîns, die bis heute versuchen in ihrer Heimat zu bleiben, sind immer wieder Opfer von Entführungen, Raubüberfällen oder Vergewaltigungen. Die Urheber dieser Verbrechen sind türkeitreue Milizen, die aus Aleppo, Idlib und anderen Regionen abgezogen und in Efrîn stationiert worden sind. Ein solches Vorgehens nennt man eine ethnische Säuberung.
Sollte die Türkei ihre Drohungen hinsichtlich einer weiteren Intervention in Nordsyrien verwirklichen, so wird sie ohne Zweifel versuchen, ihr Vorgehen von Efrîn in einem größeren Maßstab zu wiederholen. Um drei Millionen Syrerinnen und Syrer in der Region anzusiedeln, sollen wohl ebenso viele Menschen aus der Region vertrieben werden. Die Opfer eines solchen Szenarios wären natürlich in erster Linie die Kurdinnen und Kurden, die in diesen Regionen beheimatet sind. Knickt also Deutschland und die EU vor Erdoğans Drohungen ein, so macht sich Deutschland in der Konsequenz auch für die Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen mitverantwortlich, die der türkische Staatschef im Norden Syriens anordnen wird, um die „Flüchtlingsfrage zu lösen“.
Geht sein Plan auf, wäre Erdoğan die syrischen Flüchtlinge los und hätte das Selbstverwaltungsprojekt in Nordsyrien zerschlagen. Zugleich hätte er einen Plan verwirklicht, den bereits 1963 ein gewisser Muhammad Talab al-Hilal, ein syrischer Geheimdienstchef, der syrischen Regierung vorgelegt hatte. Um die „kurdische Gefahr“ zu bändigen, bedürfe es einer umfassenden Umsiedlungspolitik. Nur so ließe sich die „Vernichtung dieses Tumors“ bewerkstelligen. Die Pläne al-Hilals sollten im Rahmen der Politik des arabischen Gürtels später vom Baath-Regime aufgegriffen werden. Auch wenn tausende kurdische Familien in den Süden Syriens deportiert und ebenso viele arabische Familien bis Mitte der 70er Jahre in Nordsyrien angesiedelt wurden, ist der Plan nie in voller Gänze umgesetzt worden.
Nun will Erdoğan genau das verwirklichen, was dem Baath-Regime nie gelungen ist: Ein arabischer (Bevölkerungs-)Gürtel, der als Puffer zwischen der kurdischen Bevölkerung in Nordkurdistan und Rojava dienen soll. Ob er das verwirklichen kann, hängt aber nicht nur von seiner Durchsetzungskraft gegenüber der EU, den USA oder Russland ab. Am Ende werden die Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens auch ein Wort mitzureden haben.
Der Artikel von Mako Qocgirî erschien zuerst bei Civaka Azad.