Wo Großmachtträume Menschenleben kosten ... können:
Die aktuelle Situation in Nord- und Ostsyrien/Rojava¹
Die verschärfte kapitalistische Globalisierung hat dazu geführt, dass nicht mehr die Konfrontation der Ideologien im Vordergrund steht wie zur Zeit des sogenannten Kalten Krieges. Vielmehr ist die kapitalistische Konkurrenz in aller Schärfe aufgebrochen und hat alle Staaten in den unterschiedlichsten Konstellationen in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Damit steht die Möglichkeit einer weltweiten militärischen Auseinandersetzung als Folge der sich verschärfenden kapitalistischen Konkurrenz im Umfang eines 3. Weltkrieges auf der Agenda.
Die politische Entwicklung und Situation in Syrien könnte hierfür ein möglicher Auslöser sein. Sie zeigt in ihrer Verworrenheit und Verzahnung die tendenzielle Unsicherheit und Instabilität, aus der heraus sich ein sich global auswirkender Konflikt entwickeln könnte.
In diesem mörderischen Spiel erscheint der Versuch der Menschen in Nord- und Ostsyrien[2], eine soziale und ökologische Revolution zu verwirklichen, um den Menschen Frieden, Freiheit und demokratische Verhältnisse zu bringen, wie der Kampf des kleinen gallischen Dorfes gegen die Übermacht des Römischen Reiches in dem Comic von Asterix und Obelix. Mit dem Unterschied, dass die Menschen nicht über einen unbesiegbar machenden Zaubertrank verfügen, dafür aber über den unbeugsamen Willen und die Überzeugung, dass ihre Revolution erfolgreich sein wird und ein Beispiel sein kann. Ein Beispiel dafür, dass der Kapitalismus und die mit diesem untrennbar verbundene Nationalstaatlichkeit langfristig überwunden und die Lösung globaler Probleme - wie z. B. der Stopp des Klimawandels - wieder an die handelnden Menschen zurückgegeben werden kann. Das Modell des Demokratischen Konföderalismus bildet dabei die äußere Struktur, die Revolution der Frauen, die ökologische und soziale Revolution bilden den inneren Kern der Befreiung.
Was bedeutet dies nun für die aktuelle Situation in Nord- und Ostsyrien?
2012 erfolgte im Zuge des „Arabischen Frühlings“ der weitgehende Rückzug des syrischen Regimes aus dem Norden Syriens, 2013 wurde die Demokratische Autonomie Rojava ausgerufen. 2016 wurde die Demokratische Föderation Nordsyrien gegründet. Diese wurde 2019 nach dem Sieg über den IS (Daesh/Islamischer Staat) und der Befreiung weiterer Teile Nord- und Ostsyriens in Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens umbenannt – das Gebiet der Selbstverwaltung umfasst nun fast ein Drittel des syrischen Staatsgebietes.
Dieses Gebiet wird nach außen hin von allen Seiten mehr oder weniger abgeschottet:
- im Norden von der Türkei, die die gesamte Grenze mit einer Mauer „gesichert“ hat, hinter der zur Zeit die angriffsbereite türkische Armee aufgezogen ist,
- im Osten durch das mit der Türkei verbündete Gebiet der nordirakischen kurdischen Autonomiebehörde Kurdistan KRG, beherrscht vom Barzani-Clan und deren KDP,
- im Westen ebenfalls durch die Türkei. Die Türkei überfiel im Frühjahr 2018 mit Unterstützung Russlands, mit der Duldung aller übrigen Akteure und mit Hilfe des Einsatzes von Waffen und Panzern aus deutscher Produktion den westlichsten Kanton der Demokratischen Selbstverwaltung, Afrin (kurd. Efrîn). Seitdem hält die Türkei Afrin völkerrechtswidrig besetzt und hat diese Region in der Zwischenzeit auch durch eine Mauer vom syrischen Staatsgebiet getrennt.
- Der Süden Afrins wird schlussendlich durch die Truppen des syrischen Regimes begrenzt.
Die Grenze zur Türkei ist völlig dicht. Die Öffnung der Grenze nach Osten in den Nordirak und nach Süden ins Gebiet des syrischen Regimes ist abhängig von der aktuellen politischen Entscheidung in Erbil (kurd. Hewlêr) bzw. Damaskus. Das kann dazu führen, dass jeglicher Handel mit dem Gebiet des syrischen Regimes unterbunden wird und - wie geschehen - nicht einmal mehr Medikamente und medizinisches Gerät in die Geflüchteten-Camps gelangen können.
So hat diese Umzinglung einscheidende Folgen für die Versorgung der Bevölkerung in Nordsyrien, aber erst recht für die Versorgung der vielen Geflüchteten in den Camps innerhalb der Selbstverwaltung, wie z. B. der Afrin-Geflüchteten in der Provinz Shehba. Insbesondere die medizinische Versorgung ist gefährdet.
Die internationalen und regionalen Akteure und ihre Interessen
Die Akteure in diesem Konflikt sind neben den Großmächten USA, Russland und China insbesondere auch die Länder der Europäischen Union - mit ihren jeweiligen nationalen Interessen - sowie die Regionalmächte Türkei, Irak, Iran, Saudi-Arabien, Israel.
Hier nur ein kurzer Blick auf die jeweiligen Interessen und Konflikte zwischen den regionalen und internationalen Akteuren, die die Gesamtsituation zum globalen Sprengsatz machen. Eine genaue und umfangreiche Betrachtung würde den Rahmen des Artikels sprengen.
Russland ist sicherlich der bedeutendste Akteur - eng verbündet mit dem Regime in Damaskus, das ohne die Unterstützung Russlands kaum noch handlungsfähig wäre, und in enger Kooperation mit der Türkei. Diese Kooperation ist jedoch eher als taktische Partnerschaft gegen den Westen zu werten, insbesondere gegen die USA. Die Türkei stellt die zweitgrößte NATO-Armee und ist damit als Brückenkopf zwischen Okzident und Orient für die westliche Staatengemeinschaft von großem Interesse. Immer stärker wendet sich Russland in strategischer Partnerschaft China zu, aber auch Kontakte mit Indien und dem Iran werden intensiviert. Betrachtet man gleichzeitig die aktuellen gegenseitigen Drohungen der USA und des Irans in Folge der Angriffe auf saudi-arabische Ölfelder - Saudi-Arabien ist wichtiger Partner des Westens -, so wird einem die Brisanz der neuen Konstellationen deutlich.
Die USA als Teil der internationalen Koalition militärischer Verbündeter der Demokratischen Kräfte Syriens[3] im Kampf gegen den IS haben ein strategisches Interesse an einer Zerstückelung der Staaten des Nahen Ostens[4] und auch Syriens, um wechselnde strategische bzw. politische Partnerschaften und Abhängigkeiten zu schaffen. Sie versuchen aber auch die Funktion eines Vermittlers zwischen Syrien und der Türkei wahrzunehmen, obwohl die Trump-Administration gerade auf Drängen der Türkei eine „Sicherheitszone“ auf dem Gebiet der Demokratischen Selbstverwaltung durchgesetzt hat – allerdings eine, die nicht den Plänen der Türkei entspricht. Die Einrichtung der „Sicherheitszone“ ist wie viele andere Eingriffe ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht und gegen die Souveränität des syrischen Gesamtstaates.
Die Kurden in Nordsyrien, aber auch die Kurden insgesamt haben für die USA als möglicher Partner eine strategische Bedeutung. Sie sind in der Türkei, in Syrien, im Irak und Iran stark vertreten. Die USA sehen darin ein mögliches Potential, im Nahen Osten Fuß zu fassen. Doch die demokratischen Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien stehen ihrer Politik der Kleinstaaterei und der Zerstückelung im Wege.
Der Irak als Verbündeter der Türkei lässt zu, dass die türkische Armee Teile des Nordiraks besetzt hält und militärisch gegen kurdische Gebiete vorgeht. Hierzu gehören auch die regelmäßigen Grenzsperrungen in Richtung Rojava.
Der Iran beansprucht Gebiete in Ostsyrien, im Norden und Osten von Deir ez Zor. Während der türkische Staat weiter mit einer Invasion in Nord- und Ostsyrien droht, haben die iranischen Revolutionsgarden umfangreiche Truppen nach Deir ez-Zor verlegt.
Saudi-Arabien ist neben der Rolle als Bündnispartner des Westens nicht direkt in den Konflikt einbezogen, finanziert aber - ursprünglich zusammen mit Katar - dschihadistische Gruppen in Syrien.
Und Europa? Europa und insbesondere Deutschland setzen weiterhin auf den „kranken Mann am Bosporus“, rüsten diesen mit Waffen und Kriegsmaterial aus, unterhalten umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei, finanzieren mit Milliarden Euro den sogenannten Flüchtlingspakt und lassen sich mit diesem von Erdogan unter Druck setzen.
Nicht vergessen werden darf der IS, der sich im Schatten der laufenden Konflikte neu organisiert und auf eine neue Chance wartet.
Die besondere Rolle der Türkei
Der Türkei, regiert durch Erdogan und seine AKP-Regierung, kommt in diesem Konflikt eine besondere Rolle zu, die besonders betrachtet werden muss:
Sie versucht, durch eine Politik der wechselnden Koalitionen ihrem Ziel der Ausweitung des türkischen Machtbereiches auf den gesamten Norden Syriens näherzukommen und den Traum eines Neo-Osmanischen Reiches zu verwirklichen. Bisher hat der türkische Staat Dscharablus, Azaz, al-Bab, Idlib und Efrîn im Westen besetzt, jetzt will er von Minbic aus - nach Osten ausgreifend - die Gebiete Şêxler, Kobanê, Girê Spî, Serêkaniyê, Dirbêsiyê, Amûdê, Qamişlo und Dêrik einnehmen, um von dort aus möglichst Kerkûk und Mosul zu erreichen.
Gleichzeitig möchte Erdogan die vollständige Vertreibung bzw. Vernichtung der Kurd*innen durchsetzen[5], da diese sich der Vorstellung von „eine Partei, ein Staat, eine Fahne, eine Sprache, ein Führer“ einer autoritären, egalistischen Staatsdoktrin entgegenstellen und in Nordkurdistan (Südosttürkei/Bakur) sowie in Westkurdistan (Nordsyrien/Rojava) eine basisdemokratische politische „konkrete Utopie“ umsetzen, in der die Revolution der Frauen, Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie, Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung aller Ethnien verwirklicht werden sollen.
In diesem Punkt, der basisdemokratischen Umgestaltung Nord- und Ostsyriens, weiß sich übrigens die türkische Regierung weitgehend in einer Linie mit allen anderen Akteuren in diesem Konflikt, denn wäre dies nicht so, wäre die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien längst anerkannt, insbesondere zum Beispiel von der Bundesrepublik Deutschland. Diese rüstet aber stattdessen die türkische Armee mit neuesten Waffensystemen aus. Auch die USA und die internationale Koalition, die im Krieg gegen den Islamischen Staat die Selbstverteidigungskräfte YPG und YPJ bzw. die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) militärisch unterstützten, unternehmen selbst keinen Vorstoß zur Anerkennung der Demokratischen Selbstverwaltung.
Darüber hinaus befindet sich die türkische Wirtschaft seit Jahren in einem dramatischen Tiefflug, die innenpolitischen Probleme und die Unzufriedenheit der Menschen bedrohen die Macht des türkischen AKP-Staatsapparats[6].Ein außenpolitischer Erfolg und vielleicht auch ein Krieg gegen die kurdischen „Terroristen“ in Nordsyrien würden dem System Luft verschaffen und die innere Einheit stärken.
Hierzu ist der türkischen Regierung jedes Mittel recht. So setzt sie auch den sogenannten „Flüchtlingsdeal“ mit der Europäischen Union ein, um die 30-km-“Sicherheitszone“ in Nordsyrien durchzusetzen, frei nach dem Motto: entweder diese Zone unter Kontrolle der Türkei oder Aufkündigung des Flüchtlingspakts und Öffnung der Grenzen nach Europa. Ziel der Politik der Türkei ist es, im Bereich der sogenannten Sicherheitszone neben Geflüchteten aus Syrien islamistische, dschihadistische Milizen und ihre Familien[7] anzusiedeln - ähnlich wie in Afrin geschehen - und dadurch die gesamte Demografie in ihrem Sinne zu verändern.
Betrachtet man aber die Realität die Politik des türkischen Staates, so lässt sich feststellen, dass Erdogans Außenpolitik und sein Vorhaben, die Türkei als große Regionalmacht des Nahen Ostens zu etablieren, weitgehend gescheitert sind. Dies schwächt Erdogan auch innenpolitisch. Er verliert zunehmend die Kontrolle. Das macht die Möglichkeit eines „Befreiungsschlags“ im Sinne Erdogans wahrscheinlicher. Und das kann auch einen Angriff auf die Demokratische Selbstverwaltung als mögliche Option bedeuten.
Was machen die Menschen in Nord- und Ostsyrien?
Erst einmal arbeiten sie mit aller Kraft weiter an ihrer neuen Gesellschaft und den Strukturen der Selbstverwaltung. Sie bauen die zerstörten Dörfer und Städte, Schulen und Universitäten wieder auf, denken und strukturieren das gesamte Bildungssystem neu, starten ökologische Projekte („Make Rohjava Green Again“) und entwickeln das Zusammenleben der Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen sowie Glaubens- und Religionsgemeinschaften im Sinne der Geschwisterlichkeit aller Menschen - eine freie und friedliche Gesellschaft ist das Ziel. Gleichzeitig wird versucht, auf dem Weg des Dialogs[8] mit den verschiedenen Akteuren zu einer politischen Lösung zu kommen. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien erklärt bei jeder Gelegenheit, keinen Krieg zu wollen - das Angebot und die Umsetzung einer 5-km-“Sicherheitszone“ unter Kontrolle der internationalen Koalition und der Rückzug der QSD aus diesem Bereich sprechen dafür.
Gleichzeitig macht die Selbstverwaltung aber auch deutlich, dass die Menschen in Nord- und Ostsyrien sowie die Selbstverteidigungskräfte umfangreiche Vorbereitungen treffen, um einem Angriff der Türkei langfristig begegnen zu können, und dass sie sich der Unterstützung aller vier Regionen Kurdistans sowie der internationalen Öffentlichkeit sicher sind.
Es wird gegen und ohne die Menschen in Nord- und Ostsyrien keinen Frieden geben, das sollte allen an diesem Konflikt Beteiligten klar sein. So wie klar ist, dass es ohne den Widerstand der Demokratischen Kräfte Syriens keine Niederlage des IS gegeben hätte. Dies bedeutet auch, dass die Demokratische Selbstverwaltung an allen Verhandlungen über die Zukunft Syriens beteiligt werden muss, dass nicht über sie bestimmt werden und nicht ohne sie gehandelt werden kann. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Gebiete der Kurd*innen in der Türkei.
Und was noch wichtig ist, ist eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit dem Modell Rojava in Deutschland sowie eine breite zivilgesellschaftliche politische Unterstützung der besonderen Revolution dort, damit sie nicht ein weiteres Opfer des globalen Kapitalismus wird.
Anm. 1: Rojava = kurd. für Westkurdistan
Anm. 2: Ähnlich wie in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Bakur, kurdisch für Nordkurdistan
Anm. 3: Syrian Democratic Forces, abgekürzt SDF bzw. QSD
Anm. 4: Siehe z. B. die Entwicklung im Irak
Anm. 5: Staatspräsident Erdogan zu den Verhandlungen über eine „Sicherheitszone“: „Was auch immer dabei herauskommt, wir sind entschlossen, den Terrorkorridor im Osten des Euphrat zu zerschmettern. Dafür brauchen wir keine Erlaubnis.“
Anm. 6: Beispiele: Wahlerfolge der HDP (Demokratische Partei der Völker), hohe und zunehmende Arbeitslosigkeit (knapp 14%), Rezession, Lira-Verfall
Anm. 7: Geflüchtet aus Idlib
Anm. 8: Der „Dritte Weg“ nach Abdullah Öcalan