Wie ist die Lage in Nord- und Ostsyrien?
Ein türkischer Angriff auf Nordsyrien ist nicht abwegig. In der Region werden entsprechende Vorbereitungen getroffen. Für die Türkei würde ein solcher Angriff unvorhersehbare Konsequenzen haben.
Ein türkischer Angriff auf Nordsyrien ist nicht abwegig. In der Region werden entsprechende Vorbereitungen getroffen. Für die Türkei würde ein solcher Angriff unvorhersehbare Konsequenzen haben.
Die Besatzungsandrohungen des türkischen Präsidenten Erdoğan werden in Nord- und Ostsyrien aufmerksam verfolgt. Die Autonomieverwaltung und die Kommandantur der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) interpretieren die Erklärungen, die Erdoğan nach dem fünften Astana-Gipfel am 16. September in Ankara abgegeben hat, als einen Rückzieher von dem Abkommen zur „Grenzsicherheit“ zwischen den USA und der Türkei vom 7. August. Die Drohungen von Erdoğan werden daher ernst genommen und es werden die notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen.
Die Leitung von Nord- und Ostsyrien erklärt, dass sie die Vereinbarungen des in Ankara getroffenen Abkommens eingehalten hat und darüber hinaus nichts weiter tun wird. Ankara versuche, das Abkommen hinfällig werden zu lassen, indem es die Vereinbarungen verletzt.
Das am 7. August in Ankara getroffene Abkommen zur Grenzsicherheit in Nordsyrien sieht vor, dass sich die QSD fünf Kilometer von der Grenze zurückziehen, keine schweren Waffen in der Region verbleiben und das Gebiet der Initiative der lokalen Militärräte überlassen wird. Weiterhin sollen gemeinsame Patrouillen der Türkei und der USA sowie der USA und der lokalen Militärräte stattfinden. Das betroffene Gebiet umfasst Girê Spî (Tal Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain). Die im Abkommen vorgesehenen Schritte sind so gut wie vollständig erfüllt. Wie die US-Kommandanten in der Region erklären, sind diese Schritte schneller als erwartet umgesetzt worden.
Ein weiteres Thema des Abkommens ist die Rückkehr von Flüchtlingen. Erdoğan will drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Region ansiedeln. Ihnen sollen Wohnungen, Land und dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Er will also, dass das Land, auf dem die Bevölkerung der Region jetzt lebt, beschlagnahmt und Menschen übergeben wird, die aus anderen Regionen migriert sind. Die demografische Struktur der Region soll geändert und von Kurden gesäubert werden.
Die Autonomieverwaltung hingegen erklärt, dass alle aus der Region migrierten Menschen aufgenommen und Rückkehrer in ihren Herkunftsorten angesiedelt werden. Wer mit dem IS, al-Nusra und ähnlichen Gruppen zusammengearbeitet hat, soll vor Gericht gestellt werden. Dass darüber hinaus keine weiteren Bedingungen zum Thema Flüchtlinge angenommen werden, ist den USA und der Türkei in eindeutiger Form mitgeteilt worden. Die Türkei hat diese Bedingungen in dem in der ersten Augustwoche in Ankara geschlossenen Abkommen akzeptiert.
Die Haltung der USA
Die Ansprechpartner der USA erklären, ihre diplomatischen Initiativen zur Verhinderung eines türkischen Angriffs auf Nordsyrien fortzusetzen. Militärische und politische US-Vertreter pendeln ständig zwischen QSD und Ankara hin und her. Die USA befürworten den Besatzungsplan Ankaras zwar nicht, aber sie versuchen von der angespannten Situation zu profitieren. Sie wollen die Drohungen der Türkei nutzen, um Nord- und Ostsyrien ihrer eigenen Perspektive entsprechend zu formen. Außerdem wollen sie die Türkei in die Hand bekommen. Dieselben USA sind sich auch bewusst, dass Russland die Türkei bei diesem Thema aufstachelt. Letztendlich werden die USA keine Kriegspartei sein, wenn die Türkei die Region angreift. Die Türkei jedoch ist nicht in der Situation, ohne Genehmigung der USA auch nur eine einzige Kugel auf die Region abzufeuern.
Die Einstellung von Russland, Iran und Damaskus
Dass Erdoğan nach dem fünften Astana-Gipfel am 16. September seine Besatzungsdrohungen wiederholt hat, der iranische Präsident Ruhani die kurdischen Kräfte als terroristisch bezeichnet und die Regierung in Damaskus ähnliche Ausdrücke verwendet hat, ist ein Ergebnis des zwischen Moskau, Teheran, Ankara und Damaskus gebildeten Mechanismus. Gelenkt wird dieser Mechanismus von Russland. Russland ermutigt die Türkei darin, Nord- und Ostsyrien anzugreifen. Es wird berechnet, dass in einer solchen Situation die Fäden zwischen Ankara und den USA vollständig abreißen, die USA in eine schwierige Lage versetzt und die in der Region entstandene autonome Struktur zerstören werden sowie hinterher der Türkei die Kontrolle über die Region genommen und Damaskus übergeben würde. Bei den Gesprächen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan und seinem syrischen Amtskollegen Ali Mamluk unter russischer Moderation in Moskau soll ein derartiges Abkommen getroffen worden sein. Fidan soll dem Koordinator des syrischen Geheimdienstapparates dabei zu verstehen gegeben haben, dass die Türkei keinen Anspruch auf syrisches Territorium erhebt, Russland in Idlib zu unterstützen bereit ist, sich nach der Zerschlagung des „PYD/YPG-Systems“ aus der Region zurückziehen und Damaskus überlassen will. Offensichtlich hat Damaskus auf Drängen Russlands eingewilligt bzw. war dazu gezwungen. Das zeigen die jüngsten Verlautbarungen.
Die Berechnungen aus Damaskus, Teheran und Moskau sehen vor, dass die QSD im Falle eines Krieges an der Grenze zwischen der Türkei und Nordsyrien seine Kampfeinheiten gezwungenermaßen aus Gebieten wie Raqqa und Deir ez-Zor abziehen werden, um sie im Grenzgebiet einzusetzen. Dadurch könnten die syrischen Kräfte die genannten Gebiete mit iranischer und russischer Unterstützung einnehmen. Die Orte an der Grenzlinie in Nordsyrien sollen so unter türkische Besatzung gestellt werden, Raqqa, Deir ez-Zor und die umliegenden Siedlungsgebiete unter die Kontrolle der genannten Kräfte kommen. Das ist der Rahmen des mit Ankara getroffenen Abkommens.
Laut einigen Quellen sollte der Angriff auf Nordsyrien bereits am 6. August beginnen. Die Türkei hatte entsprechende Vorbereitungen getroffen, gleichzeitig wurden bestimmte Gruppen in Regionen wie Deir ez-Zor und Raqqa zu verschiedenen Protesten ermutigt. Nur durch das in dieser Zeit mit den USA zustande gekommene Abkommen soll der Angriffsplan gestoppt worden sein.
Was wollen Russland, Damaskus und der Iran von den Kurden?
Zwischen Russland, Damaskus und kurdischen Vertretern finden weiterhin Gespräche statt. Die Vertreterinnen und Vertreter aus Nordsyrien erklären, dass die Probleme unter der Bewahrung der Gesamtheit Syriens über einen Dialog gelöst werden müssen. Russland und Damaskus hingegen fordern, dass die Region angesichts der türkischen Drohungen dem syrischen Regime überlassen wird, die Fahne Syriens gehisst und die syrische Uniform getragen wird. Als Zugeständnis wird angeboten, dass wöchentlich in gewissen Abständen muttersprachlicher Kurdisch-Unterricht stattfindet. Es gibt also nicht das geringste Anzeichen für eine Akzeptanz des in der Region aufgebauten Modells und der kurdischen Identität. Eine Abordnung aus Nordsyrien hat sich in den letzten Tagen zu Gesprächen in Damaskus aufgehalten, es gibt jedoch noch keine Erklärung zu den Ergebnissen.
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat in früheren Gesprächen den Wunsch verdeutlicht, in dem Komitee für eine neue syrische Verfassung vertreten zu sein. Den verschiedenen Seiten wurde mitgeteilt, dass andernfalls die Entscheidungen des Komitees nicht anerkannt werden.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Besatzungsdrohungen in Nord- und Ostsyrien nicht abgetan werden. Wie der QSD-Kommandant Mazlum Abdi Kobanê erklärt, befindet sich Erdoğan zwischen Russland und den USA in der Klemme und die Situation ist für die Türkei schwierig. Erdoğan betrachte den Krieg als Ausweg aus den innenpolitischen Problemen und der Krieg in Nord- und Südkurdistan reiche ihm nicht mehr aus. Aus diesem Grund ist laut Abdi ein Angriff auf Rojava möglich.
Wie es aussieht, würde ein Angriff auf die Region zu nicht vorhersehbaren Ergebnissen für die Türkei führen. Die Entschlossenheit der Bevölkerung, Zehntausende ausgebildete Kämpferinnen und Kämpfer sowie die jahrelange Vorbereitung verweisen darauf, dass dieser Krieg für die Türkei schwer wäre. Die Autonomieverwaltung sagt, dass sie keinen Krieg will, aber auch keinen Schritt von der bestehenden Lage zurückweichen wird. Bestimmte Offensiven der Leitung in Nord- und Ostsyrien können dazu führen, dass der Zerfall des Erdoğan-Systems im Inland beschleunigt wird und ihm alle Karten in Syrien aus der Hand genommen werden.