Mako Qocgirî, Mitarbeiter von Civaka Azad, berichtet, was es mit der Nichteinladung der Kurden zu dem UN-Verfassungskomitee für Syrien auf sich hat.
Seit mehr als acht Jahren findet der syrische Bürgerkrieg kein Ende. Fast ebenso lange dauern internationale Treffen an, die scheinbar die Lösung dieses blutigen Krieges beabsichtigen. In Genf, Wien, München, Astana, Riad, Kairo oder Sotschi fanden zahlreiche Treffen statt, welche entweder die syrische Opposition zusammenbringen oder oppositionelle Kräfte mit dem Regime an einen Tisch bringen sollten. Westliche Staaten, Russland oder gar die Vereinten Nationen (UN) haben versucht, die verschiedenen Parteien des Konflikts zusammenzubringen. Nun steht eine weitere Zusammenkunft an. Unter der Schirmherrschaft der UN sollen Mitglieder aus der syrischen Regierung, der Opposition und der Zivilgesellschaft zusammentreffen und eine neue Verfassung für das kriegsgebeutelte Land aushandeln. Doch das angestrebte Verfassungskomitee hat eine Gemeinsamkeit mit allen bisherigen gescheiterten internationalen Friedensinitiativen für Syrien: Den Ausschluss der kurdischen Akteure aus der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens.
150 politische Akteure an einem Tisch – doch die Kurden bleiben außen vor
Im internationalen Kampf gegen den IS galten die Kurdinnen und Kurden, die einen entscheidenden Faktor der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ausmachen, als zentraler Partner der internationalen Koalition. Von der Befreiung von Kobanê über die Eroberung der vermeintlichen IS-Hauptstadt Raqqa bis hin zur Befreiung der letzten Bastion des „Islamischen Staates“ in al-Baghouz kämpften kurdische Kräfte an vorderster Front und konnten unter großen Opfern den militärischen Sieg über eine Organisation erlangen, welche die gesamte Welt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Heute kontrollieren die QSD nicht nur einen bedeutenden Teil Syriens, sie halten zudem allein im Camp Hol derzeit rund 70.000 IS-Mitglieder und ihre Angehörigen fest. Unter ihnen befinden sich 14.500 Personen mit ausländischen Staatsangehörigkeiten, darunter etwa 2.000 Personen, die aktiv in den Reihen des IS gekämpft haben. Zudem ist in den Gebieten, die von den QSD kontrolliert werden, ein seit Jahren funktionierendes inklusives Gesellschaftssystem geschaffen worden, welches sukzessive auch auf die Regionen ausgedehnt wurde, die vom IS befreit worden sind.
Dass nun unter den 150 Persönlichkeiten, die eine Verfassung für ein zukünftiges Syrien ausarbeiten sollen, keine Repräsentanten dieses Gesellschaftssystems aufgelistet sind, stößt, gelinde gesagt, auf Unverständnis. Wenig verwunderlich ist, dass in der vergangenen Woche tausende Menschen vor einen Stützpunkt der internationalen Koalition in Kobanê gezogen sind, um gegen diese Entscheidung zu protestieren.
Türkei als Hindernis für die kurdische Beteiligung?
Begründet wird der Ausschluss der kurdischen Akteure aus den internationalen Verhandlungen immer wieder mit Verweis auf das Veto der Türkei. Ohne Frage ist die Türkei nicht daran interessiert, dass die kurdischen Akteure ihren Platz an den Verhandlungstischen dieser Welt finden, wenn es um die Zukunft Syriens geht. Doch den Ausschluss der Kurden alleine mit den Befindlichkeiten der Türkei zu begründen, dürfte nur die halbe Wahrheit darstellen.
Denn das Projekt der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens läuft längst nicht den Interessen der Türkei in einem zukünftigen Syrien zuwider. Die selbstbestimmte, basisdemokratische Selbstorganisierung der Gesellschaften Syriens ist auch kein Lösungsmodell, das sich der Westen oder Russland für die Zeit nach dem Bürgerkrieg in dem Land vorstellt.
Die Türkei dient den internationalen Mächten als Knüppel, mit dem die kurdischen Akteure in Syrien „auf Linie“ gebracht werden sollen. So hat Russland beispielsweise, bevor es einer türkischen Intervention in Efrîn grünes Licht erteilte, den dortigen Selbstverwaltungsstrukturen das „Angebot“ unterbreitet, die betreffenden Gebiete kampflos dem Assad-Regime zu übergeben, um eine Intervention der Türkei zu verhindern. Ähnlich agiert auch die internationale Koalition, die notgedrungen ein militärisches Bündnis mit den QSD im Kampf gegen den IS eingegangen ist. Mit Hilfe der türkischen Interventionsdrohungen sollen die kurdischen Akteure Schritt für Schritt zu Kompromissen gezwungen werden, die letztlich der Revolution von Rojava ihren Inhalt berauben sollen. Der Ausschluss der kurdischen Repräsentanten aus dem Verfassungskomitee der UN stellt nichts anderes als ein weiteres Kapitel dieses Schmierentheaters dar.
Ausschluss der Kurden: Eine hundertjährige Konstante
Die internationale Ignoranz gegenüber den legitimen Forderungen der kurdischen Bevölkerung durchzieht die Geschichte der Region des Mittleren Ostens seit knapp 100 Jahren wie ein roter Faden. So saßen Repräsentanten der Kurdinnen und Kurden auch am 24. Juli 1923 im schweizerischen Lausanne nicht am Tisch, als die Grenzen in der Region nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neugezogen wurden. Auch damals war es die Türkei, genauer der spätere Staatspräsident Ismet Inönü, welcher angab, auch im Namen der Kurden zu sprechen, was von den westlichen Vertretern der Verhandlungen wohlwollend akzeptiert wurde. Die Folge war eine Vierteilung der kurdischen Siedlungsgebiete und einem im permanenten Kriegszustand - und somit in westlicher Abhängigkeit - gehaltenen Mittleren Osten.
Welches Kalkül die Siegermächte des Ersten Weltkriegs mit diesem Vorgehen verfolgten, zeigte sich bereits wenige Jahre später, als der nächste Weltkrieg tobte. Zwischen dem 22. und dem 26. November 1943 kamen der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill unter anderem mit Regierungsvertretern der Türkei zusammen, um diese zum Kriegseintritt gegen Nazi-Deutschland und seine Verbündeten zu bewegen. Der damalige türkische Außenminister Numan Menemencioğlu berichtete später, dass sich die Türkei gegen den Druck der USA und der Briten wehrte, als plötzlich Churchill seinen Amtskollegen Inönü fragte, ob dieser kurdisch spreche. Als Inönü verdutzt über die Frage keine Antwort geben konnte, intervenierte Menemencioğlu und gab an, dass gar keine kurdische Sprache existiere. Churchill soll sich auf diese Antwort hin zu einem seiner anwesenden Berater umgedreht haben, woraufhin dieser die Anwesenden des Gegenteils überzeugt und sogar ein kurdisches Gedicht aufgesagt haben soll.
Welche Message hinter dieser historischen Episode steckt, ist eindeutig: Die Briten setzten die türkische Regierung mit der kurdischen Karte unter Druck. Eine mögliche Aufstachelung der Kurdinnen und Kurden sollte die Türkei auf den gewünschten Kurs bringen. Die Nichtlösung der kurdischen Frage erfüllt auch heute noch dieselbe Funktion. Doch das Spiel kann nur funktionieren, wenn auch die kurdischen Akteure mitspielen. Doch im Jahre 2019 weigern sich die kurdischen Repräsentanten der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens diese Rolle weiterzuspielen. Denn zu oft hat dieses Spielchen ein verhängnisvolles Ende in der Geschichte der Kurdinnen und Kurden angenommen. Im Vertrauen auf Großmächte den Aufstand zu proben, hat nämlich immer wieder das Ergebnis mit sich gebracht, dass die Großmächte die jeweiligen Besatzer der Kurden auf Linie gebracht haben, woraufhin die Unterstützung für die Kurdinnen und Kurden eingestellt und die jeweiligen Staaten sich anschließend an ihnen grausam gerächt haben. Die Geschichte der Kurdinnen und Kurden ist voll von Beispielen hierfür.
Die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens hat sich deshalb für einen anderen Weg entschieden. Sie vertraut nicht auf die Unterstützung der Großmächte, sondern allein auf die organisierte Bevölkerung, die sie repräsentiert. Die Revolution von Rojava hat deshalb von Anfang an den dritten Weg propagiert, sich also weder auf die Seite einer Opposition gestellt, die vom Westen und einzelnen Regionalmächten aufgebaut wurde, noch auf der Seite des Assad-Regimes positioniert, das seine Stärke aus der russischen und iranischen Unterstützung bezog. Acht Jahre Bürgerkrieg in Syrien haben die Richtigkeit dieses Weges unter Beweis gestellt. Denn heute können weder die westlichen Mächte noch das Assad-Regime und seine Unterstützer die Kurdinnen und Kurden als entscheidenden Akteur ignorieren. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass jede internationale Verhandlungsrunde über die Zukunft Syriens ohne die Einbindung dieses Akteurs von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Und schlussendlich wird auch das von den UN initiierte Verfassungskomitee dasselbe Schicksal ereilen, sollten die Verantwortlichen ihre Entscheidung nicht überdenken.