Bayık: Keine andere Wahl als Erfolg durch organisierten Widerstand

Der Ko-Vorsitzende der KCK, Cemil Bayık, betont, dass die PKK zu Friedensgesprächen bereit ist. Er warnt aber vor einer Invasion in Rojava, dann würde sich der Konflikt auf die ganze Region ausweiten.

Das in Washington ansässige Kurdish Peace Institute führte ein Interview mit dem Ko-Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayık. Im ersten Teil des Interviews geht es um die politischen Entwicklungen in Nordkurdistan, der Türkei, Syrien, Rojava und die Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung.

Bei den bevorstehenden Wahlen spielen die kurdischen Wähler:innen eine entscheidende Rolle. Welche Perspektive haben Sie in Bezug auf die Wahlen und wie bereiten Sie sich auf die Zeit nach den Wahlen vor?

Am 6. Februar wurde die Türkei, insbesondere die kurdischen Gebiete, von zwei starken Erdbeben erschüttert. Offiziellen Angaben zufolge sind bisher mehr als 40.000 Menschen ums Leben gekommen. Einige Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass die Zahl der Todesopfer in die Hunderttausende gehen könnte.

Die Völker in der Türkei zahlen einen hohen Preis dafür, dass die AKP-Regierung alle Ressourcen des Landes für den Krieg gegen die Kurden und die PKK einsetzt. Nachdem wir gesehen haben, welche Zerstörungen das Erdbeben angerichtet hat und wie es die Agenda der Völker in der Türkei und Nordkurdistan bestimmt, hielten wir es als Bewegung für richtig, die Situation neu zu bewerten und moralischen und humanitären Notwendigkeiten den Vorzug vor politischen Entscheidungen zu geben. Aus diesem Grund haben wir die Entscheidung getroffen, unsere militärischen Aktivitäten einzustellen. Diese Entscheidung habe ich persönlich im Namen des Ko-Vorstands des Exekutivrates der KCK allen unseren Kräften und der Öffentlichkeit mitgeteilt. Unsere Kräfte werden in den Städten der Türkei und Nordkurdistans nicht aktiv werden, es sei denn, sie werden angegriffen. Die Haltung der AKP/MHP-Regierung zu diesem Beschluss wird zweifellos die Richtung der weiteren Entwicklungen beeinflussen und bestimmen.

Was die Wahlen betrifft, so wird die AKP/MHP-Regierung die Wahlen höchstwahrscheinlich nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt abhalten. Die AKP hat tatsächlich verloren. In der Geschichte der Türkei hat es noch nie so viel Korruption, Diebstahl und Raub gegeben wie jetzt. Erdoğans Söhne, Schwiegersöhne, Töchter, Verwandte und Gleichgesinnte sind alle korrupt. Die Menschen wissen das. Die Wirtschaft der Türkei ist fast bankrott. Die Inflation ist auf dem höchsten Stand der letzten 40 Jahre. Armut und Arbeitslosigkeit haben ein extremes Ausmaß erreicht, und die politische Instabilität nimmt weiter zu. Hinzu kommt, dass die AKP auch mit der Weltpolitik im Konflikt steht. Erdoğan hat mit seinem fanatischen Nationalismus und seiner neoosmanischen Ausrichtung alle gegeneinander aufgebracht. Daher ist es fast sicher, dass die AKP bei den nächsten Wahlen abgewählt wird.

Der Nationalismus ist das einzige Argument, das die Regierung hat. Wenn eine Gesellschaft mit Unterdrückung und Verfolgung konfrontiert ist, wenn es Hunger gibt, wenn es Korruption auf allen Ebenen gibt, dann glaube ich nicht, dass sie sich von nationalistischer Propaganda beeinflussen lassen wird. Es wird nicht mehr so viel Unterstützung für die AKP/MHP-Regierung geben wie früher.

Das Bündnis für Arbeit und Freiheit, das unter der Führung der HDP gebildet wurde, wird bei den Wahlen entscheidend sein. Sowohl die Republikanische Allianz (AKP/MHP) als auch die Nationale Allianz (CHP, IYI, Saadet) wissen das sehr genau. Weder die Republikanische Allianz noch die Nationale Allianz werden ohne die Unterstützung der HDP gewinnen können. Das gilt unabhängig davon, ob die Wahlen verschoben werden oder nicht. Ich denke, dass die HDP denjenigen unterstützen wird, die einen positiven und konsequenten Ansatz für die demokratische Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei zeigt. Sie ist in der Lage, den Ausgang der Wahlen zu bestimmen.

Die Türkei behauptet, dass die PKK im Nordosten Syriens präsent sei und dieses Gebiet nutze, um die Sicherheit der Türkei zu bedrohen. Können Sie auf diese Behauptungen eingehen? Wie ist Ihr Verhältnis zum Nordosten Syriens?

Die PKK verfügt weder, wie die Türkei behauptet, über militärische Kräfte in Syrien, noch nutzt sie das Territorium Syriens, um die Sicherheit der Türkei zu bedrohen. Das ist eine Lüge. Es handelt sich dabei um einen Versuch des türkischen Staates, seine Besatzung zu rechtfertigen. Es stimmt, dass die PKK nach Nord- und Ostsyrien gegangen war, um Kurd:innen, Araber:innen, Christ:innen und die gesamte Menschheit vor dem IS zu schützen. Es stimmt aber auch, dass die PKK im Kampf gegen den IS große Opfer gebracht hat – und dass sie, indem sie diese Terrorgruppe gestoppt hat, einen großen Sieg für die gesamte Menschheit erzielt hat.

Während der Schlacht um Kobanê zeigten viele Dokumente und Aufnahmen, wie die AKP-Regierung den IS beherbergte, ausbildete und ausrüstete und wie sie die Völker Syriens, insbesondere die Kurden, gemeinsam angriffen. Erdoğan behauptete damals (2014) selbstbewusst: „Kobanê ist gefallen, es wird fallen. Aber dank des Widerstands der PKK, der YPG und der YPJ sowie der Unterstützung durch die US-geführten Koalitionstruppen ist Kobanê nicht gefallen. Im Gegenteil, Kobanê wurde befreit und den menschenverachtenden IS-Schergen wurde ein schwerer Schlag versetzt. Nach der Niederlage des IS zog die PKK ihre Kräfte aus Nord- und Ostsyrien/Rojava ab und ließ nur eine begrenzte Anzahl kranker, älterer und verwundeter Genoss:innen zurück.

Unsere Beziehungen zu Nord- und Ostsyrien/Rojava reichen auf fast ein halbes Jahrhundert zurück. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hielt sich 20 Jahre lang in Syrien auf. In dieser Zeit hat er Beziehungen zu vielen Teilen der Gesellschaft aufgebaut. Er hat großes Vertrauen und Ansehen nicht nur bei den Kurd:innen in Rojava, sondern auch bei den arabischen und christlichen Communities in der Region erworben. Dies zeigt sich in den Millionen von Unterschriften, den vielen Demonstrationen, Kundgebungen und den Forderungen der arabischen und christlichen Gemeinschaften nach Freiheit von Rêber Apo.

Wir sahen es als eine Ehrenpflicht an, die Völker Syriens gegen die vom türkischen Staat unterstützten IS-Söldner zu schützen. Dass die Völker Syriens die PKK lieben, mit ihr sympathisieren und sie unterstützen, ist vollkommen natürlich.

Der türkische Staat sieht diese Situation als Bedrohung an und droht daher mit einer dritten Bodenoperation nach den Angriffen auf Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî (Tall Abyad). Wir wissen sehr genau, dass die AKP expansionistische Ambitionen hat.

Erdoğan stützt sich dabei auf die Tatsache, dass die Türkei die zweitgrößte Armee in der NATO stellt. In Wirklichkeit verhält er sich wie das verwöhnte Kind der NATO. Die Türkei manipuliert die NATO und nutzt die Spannungen zwischen den USA und Russland für ihre eigenen Interessen aus. Infolgedessen hat sie überall interveniert, von Nordafrika über Syrien und Rojava bis in den Irak und nach Südkurdistan. Ihr Regime bedroht den gesamten Nahen Osten und nicht nur die Kurd:innen. Meiner Meinung nach stellt es sogar eine Gefahr für die Weltpolitik dar.

Wie könnte sich ein türkischer Invasionsversuch auf die militärische und politische Dynamik auswirken? Wie würden Sie darauf reagieren?

Sollte der türkische Staat eine neue Invasion gegen Nord- und Ostsyrien starten, werden sich die Auswirkungen und Folgen definitiv nicht auf die Kurden und Rojava beschränken. Ich sage voraus, dass ein neuer Angriff nicht in dem Maße erfolgreich sein wird wie die beiden vorangegangenen Operationen der Türkei. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben aus diesen Invasionen viel gelernt. In ihren Erklärungen kann man erkennen, dass sie sich auf eine solche Invasion vorbereiten. Die Kurden haben keine andere Wahl als Erfolg durch organisierten Widerstand. Ich glaube, dass die Völker der Region aufgrund dieser Erfahrungen die Besetzung nicht hinnehmen werden.

Eine neue Offensive würde eine neue politische und militärische Dynamik für die Kurden schaffen. Die Teilung Kurdistans auf vier separate Nationalstaaten bedeutet nicht, dass es keine politischen und sozialen Beziehungen und keine geistige Einheit unter den Kurden gibt. In diesem Zusammenhang wird eine erneute Invasion zu einer neuen Bewertung der Situation führen und die Kurdinnen und Kurden sowohl politisch als auch militärisch vereinen. Möglicherweise wird sich dies auch auf der internationalen Bühne widerspiegeln und die internationale Gemeinschaft wird sich stärker für das kurdische Volk einsetzen. Kurzum, in Kurdistan kann ein neues Widerstandspotential entstehen.

Wenn der türkische Staat versucht, die Kurden in Rojava zu zerschmettern, könnte er dadurch ein noch größeres kurdisches Problem bekommen. Er könnte angesichts des stärkeren kurdischen Widerstands in eine noch verzweifeltere Lage geraten – oder er könnte gezwungen sein, den Willen der Kurden zu einer Lösung als letzten Ausweg zu akzeptieren.

Bisher hat die Türkei kein grünes Licht für eine Invasion erhalten. Wie betrachten Sie die Position der USA und Russlands in Nord- und Ostsyrien und ihre Haltung gegenüber der Türkei? Wie betrachten Sie den Normalisierungsprozess zwischen der türkischen und syrischen Regierung?

Wenn ich mich nicht irre, hat Russland einen 50-jährigen Vertrag mit dem syrischen Staat. Ihre Beziehung ist strategisch. Tatsächlich hat nach internationalem Recht derzeit nur Russland das Recht, militärische Kräfte auf syrischem Gebiet zu stationieren. Russlands Macht im Mittelmeerraum und sein Einfluss im Nahen Osten hängen von seinen Beziehungen zu Syrien ab. Aus diesem Grund hat Russland Syrien mit aller Kraft und allen Ressourcen unterstützt. Russland hat große militärische und wirtschaftliche Unterstützung geleistet und das Land auf internationalen Ebenen verteidigt.

Die Vereinigten Staaten wollten, indem sie gemäßigte islamistische Kräfte organisierten und mobilisierten, zunächst Einfluss in Syrien nehmen. Die USA versuchten, diese pseudo-islamistischen Kräfte gemeinsam mit der Türkei auf türkischem Boden auszubilden, auszurüsten und vorzubereiten. Doch dieses Vorhaben scheiterte. Diese Kräfte waren instabil, und die Vereinigten Staaten verloren das Vertrauen in sie. Das Verhältnis, das der türkische Staat zu diesen Gruppen entwickelte, war ganz anders. Sie standen sich ohnehin bereits ideologisch nahe. Der türkische Staat versuchte, sie zu organisieren und zu beeinflussen. Aus diesem Grund scheiterte dieses Projekt für die USA. Dennoch stehen die USA immer noch in Kontakt mit einigen dieser Gruppen in Nordsyrien, in Idlib und in anderen Regionen. Die USA gewannen an Einfluss in Syrien, nachdem sie Beziehungen zu den QSD (Demokratische Kräfte Syriens) aufgebaut hatten. Und als NATO-Macht haben sie auch Beziehungen zur Türkei, die ein sehr großes Gebiet in Nordsyrien besetzt hält. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die derzeitige Situation und die Zukunft Syriens weder nach dem Willen Russlands noch nach dem Willen der Vereinigten Staaten gestaltet werden wird.

Die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei waren schon immer problematisch und instabil. Die gegenwärtigen Beziehungen und die Politik der Türkei und Russlands sind stärker aufeinander abgestimmt. Die Tendenz der AKP/MHP-Regierung, Russland zu bevorzugen, ist nicht zu unterschätzen. Der Bruch der Türkei mit der NATO wird als eine Möglichkeit zumindest in Betracht gezogen. Dennoch setzt die Türkei ihre Mitgliedschaft in der NATO als Trumpfkarte ein, sogar gegen die NATO selbst. Mit anderen Worten: Um den USA und Europa mehr Zugeständnisse abzuringen, erinnert sie sie daran, dass es die russische Option gibt. Dies ist zweifelsohne eine prinzipienlose Politik. Russland nähert sich der Türkei an, genauso wie die Türkei sich Russland nähert. Die Beziehungen zum AKP-Staat beruhen lediglich auf einer Handvoll gleichgerichteter Interessen.

Die USA hingegen beobachten, was der AKP-Staat zu tun gedenkt und in welche Richtung seine Politik geht. Da die Türkei ein wichtiges Mitglied der NATO ist, verfolgen die USA gegenüber der Türkei eine Politik der Nachsicht. Obwohl viele der politischen Ausbrüche der Regierung Erdoğan nicht mit den Interessen der USA und Europas übereinstimmen, wird die AKP-Regierung verwöhnt. Sie nutzt diese Beziehung, um Zugeständnisse zu erlangen.

Erdoğan und die AKP-Regierung befinden sich in einer in jeder Hinsicht sehr schwierigen Lage. Angesichts der bevorstehenden Wahlen braucht die Türkei einen frischen Wind. Erdoğan kann mit seiner Syrien-Politik keinen Erfolg haben. Sonst würde er sich nicht um ein Abkommen mit Syrien bemühen. Ob es sich dabei um einen Erpressungsversuch gegenüber den USA und Europa handelt, muss analysiert und verstanden werden. Aber darüber hinaus wollen Erdoğan und die AKP die Beziehungen zu Syrien verbessern, weil sie sich in Schwierigkeiten befinden.

In Syrien hat der Erdoğan-AKP-Staat Gruppen wie den IS und Jabhat al-Nusra nach Kräften unterstützt. Die Tötung von IS-Führer Baghdadi bei Idlib, nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, ist der Beweis dafür. Diese Gruppen sind ein Problem. Die Erdoğan-AKP-Regierung kann diese Gruppen nicht völlig aufgeben, kann aber auch seine Strategie nicht über diese Gruppen fortsetzen. Es scheint für den syrischen Staat schwierig zu sein, seine Beziehungen zur Türkei zu normalisieren, wenn die Türkei einen großen Teil des syrischen Territoriums besetzt hält und eine große Anzahl islamistischer Söldnergruppen unterstützt. Andererseits werden in dem Maße, wie der türkische Staat seine Beziehungen zu Syrien verbessert, die von ihm kontrollierten Söldnergruppen zu einem immer größeren Problem. Die AKP befindet sich also in einer schwierigen Lage.

Auf jeden Fall wird der syrische Staat der Türkei in dieser Frage nicht viele Zugeständnisse machen. Die Türkei hat syrisches Territorium nicht nur besetzt, sondern auch annektiert. Es ist nicht richtig, von Syrien, einem souveränen Staat, zu erwarten, dass es unter diesen Umständen normale Beziehungen zur Türkei entwickelt. Erdoğan wird versuchen, den Prozess bis zu den Wahlen zu managen. Wie auch immer man es betrachtet, Syrien ist ein Problem für ihn.

Wir lehnen jede Form von Nationalismus ab“

Welche Art von Lösung ist erforderlich, um einen Krieg im Nordosten Syriens zu vermeiden? Was wären Sie bereit zu tun, um eine solche Lösung zu fördern?

Es wäre richtiger, über eine Lösung für Syrien im Allgemeinen nachzudenken und nicht nur für Nordostsyrien. Es gibt so viele Konflikte und Interventionen in Syrien, dass es nicht leicht sein wird, in naher Zukunft eine Gelegenheit zu einer Lösung zu finden. Was wir brauchen, ist ein neues und demokratisches Syrien.

Nord- und Ostsyrien regiert sich seit mehr als zehn Jahren auf der Grundlage des Modells der demokratischen Autonomie selbst. Dort leben alle Völker, Glaubensrichtungen und Kulturen ein demokratisches und freies Leben. Diese demokratische Lebensweise und der Status der demokratischen Autonomie müssen geschützt und weiterentwickelt werden. Dazu muss der syrische Staat einen demokratischen Wandel vollziehen. Die Anerkennung der autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien wird Syrien nicht schwächen, sondern das demokratische Syrien stärken.

Aber wenn Syrien sich nicht demokratisiert, wenn es sich so verhält, als ob die Entwicklungen von mehr als zehn Jahren nie stattgefunden hätten, wenn es seine Mentalität nicht ändert, dann wird das zweifellos ein Problem darstellen. Die Menschen im Nordosten Syriens werden ihr demokratisches, freies Leben und ihren autonomen Status verteidigen. Sie haben dafür einen hohen Preis gezahlt. Dafür müssen alle Kräfte, die die Demokratisierung Syriens wollen, das demokratische und freie Zusammenleben aller Glaubensrichtungen, Kulturen und Gesellschaften in Nord- und Ostsyrien unterstützen.

In Syrien existiert eine multireligiöse, multikulturelle und multiethnische Gesellschaft. Wir lehnen jede Form von Nationalismus ab – egal ob religiös, ethnisch oder kulturell. Wir begrüßen und unterstützen alle Bemühungen, eine Lösung auf dieser Grundlage zu erreichen.

PKK ist nicht terroristisch“

Die USA haben die PKK als Terrororganisation gelistet und unterstützen die Türkei politisch und militärisch in ihrem Krieg. Wie reagieren Sie auf diese Terrorismusvorwürfe und andere Formen der Kriminalisierung?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass die Einstufung der PKK als Terrororganisation durch die USA eine große Ungerechtigkeit darstellt. Die USA wissen sehr genau, dass es sich dabei nicht um eine terroristische Bewegung handelt. Reden wir gar nicht vom Terrorismus, sie ist nicht einmal eine nationalistische Bewegung. Die PKK ist eine Bewegung, die die demokratische und freie Koexistenz aller Glaubensrichtungen, Kulturen und Gemeinschaften will, ein Paradigma dafür geschaffen hat und dafür trotz der Völkermordpolitik gegenüber den Kurdinnen und Kurden kämpft. Den Kurden wird eine Existenz als Volk verweigert. Selbst Vögel haben eine eigene Sprache, aber die kurdische Sprache wird nicht akzeptiert, sie wird verleugnet. Es erfordert echtes Einfühlungsvermögen, um zu verstehen, was es bedeutet, als Volk mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen auf diesem Niveau zu missachtet zu werden, so dass sogar seine Muttersprache zu verleugnet wird.

Trotzdem ist das kurdische Volk unter der Führung der PKK nie in den Sumpf des Nationalismus geraten. Kann eine solche Bewegung jemals terroristisch sein? Im Gegenteil, stattdessen sollte man über den türkischen Staat reden und etwas tun. Denn er weigert sich, seine Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Kurden aufzugeben. Und um es ganz klar zu sagen: Der türkische Staat sollte all dies nicht mit der Unterstützung seines wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten, tun können.

Wahrheitskommission einsetzen“

Es gibt Vorwürfe, dass die PKK wahllose Gewalt und andere Taktiken, die gegen das Kriegsrecht verstoßen, angewandt hat. Was sagen Sie dazu?

Wir haben nun bereits fast ein halbes Jahrhundert lang für die Freiheit unseres Volkes gekämpft. In diesen langen und schwierigen Jahren des Kampfes gab es einige Aktionen, die wir nicht gutheißen, die unser Bewusstsein, unsere Moral und unsere Werte nicht ausreichend widerspiegelten. Das ist aber nichts im Vergleich zu den täglichen Handlungen des türkischen Staates. Dennoch kann ich ohne weiteres sagen, dass wir jeden Vorfall und jede Aktion, die mit den Kriegsgesetzen, dem Gewissen und der Moral sowie der Realität der PKK unvereinbar sind, hinterfragt und Rechenschaf dafür verlangt haben.

Es ist eine große Ungerechtigkeit, das mit den Tausenden von Dörfern zu vergleichen, die der türkische Staat niedergebrannt und zerstört hat, mit den Millionen von Menschen, die er vertrieben und exiliert hat, oder mit den chemischen Waffen und verbotenen Substanzen, die er immer noch gegen die Guerilla einsetzt, oder mit den Zehntausenden von Morden, die bis heute ungeklärt sind. Der türkische Staat bekämpft das kurdische Volk auf eine Weise, die nichts mit dem Völkerrecht zu tun hat. Er hat zahllose Komplotte, Provokationen und Morde gegen das kurdische Volk, Geschäftsleute, Patriot:innen, Frauen, Jugendliche, Gläubige, Vertreter:innen politischer und zivilgesellschaftlicher Organisationen verübt und er hat sogar versucht, viele dieser kriminellen Praktiken unserer Organisation in die Schuhe zu schieben.

Aus diesem Grund schlug Rêber Apo die Schaffung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission vor. Er forderte unabhängige und unparteiische Kommissionen, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, um alle Verbrechen zu untersuchen. Der türkische Staat hat diesen Vorschlag jedoch nie akzeptiert. Er hat auch keine andere Initiative oder Vorgehensweise zugelassen.

Die PKK hält sich an das Kriegsrecht. Wir haben in den 1990er Jahren zwei Konventionen mit der Genfer Gruppe der Vereinten Nationen unterzeichnet. Diese Konventionen werden sowohl von nichtstaatlichen Kräften als auch von Staaten unterzeichnet. Die eine besagt, dass Minderjährige nicht im Kampf eingesetzt werden dürfen. Die andere verbietet den Einsatz von Landminen/Antipersonenminen. Wir haben uns verpflichtet, das Völkerrecht zu befolgen. Wir wissen aber sehr wohl, dass der türkische Staat vor den Augen der Weltöffentlichkeit jeden Tag zahlreiche Verbrechen gegen internationale Konventionen begeht. Der türkische Staat sieht keinen Nachteil darin, Verbrechen an Kurden zu begehen, denn er nutzt seine strategische und geopolitische Position und die Vorteile der NATO-Mitgliedschaft aus und stellt sich so über alle Verträge und Abkommen.

Ohne USA wäre die Türkei nicht in der Lage gewesen diesen Krieg zu führen“

Wie hat sich die Unterstützung der USA für den Krieg in der Türkei auf den Konflikt ausgewirkt? Wie hat dies die politische Dynamik und Stabilität in der Türkei und in Kurdistan beeinflusst?

Die USA haben den türkischen Staat in seinem Krieg gegen das kurdische Volk und dessen Freiheitskampf militärisch, materiell, politisch und psychologisch uneingeschränkt unterstützt. Ohne diese Unterstützung wäre die Türkei nicht in der Lage gewesen, ihren Krieg fortzusetzen und so ungehindert Kriegsverbrechen zu begehen. Die USA, die EU, die NATO und andere internationale Mächte haben der Türkei geholfen, Verbrechen zu begehen und sich der Verantwortung zu entziehen. Alle diesbezüglichen Versuche und Anzeigen bei den zuständigen Institutionen wurden umgehend zurückgewiesen. Leider müssen wir feststellen, dass zwischenstaatliche Interessen wieder einmal über das Leben und Freiheit eines Volkes gestellt werden.

Wir befinden uns im Februar. Der 15. Februar ist der Tag, an dem Rêber Apo durch ein internationales Komplott an den türkischen Staat ausgeliefert und auf der Insel Imrali inhaftiert wurde. Seitdem sind 24 Jahre vergangen. Rêber Apo wollte Europa die Hand reichen, um zu sehen, ob er so die kurdische Frage mit demokratischen Methoden lösen könnte. Aber das internationale System, angeführt von den USA, lehnte dies ab und weigerte sich, ihn zu akzeptieren. Dies stellte eine offene Unterstützung des türkischen Staates gegen das kurdische Volk dar. Damit wurde die Saat für einen endlosen Krieg zwischen Kurden und Türken gesät. Rêber Apo verhinderte das jedoch, indem er ein Paradigma für die Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei, frei von allen Formen des Nationalismus, entwickelte.

Die AKP hat die Vorschläge unseres Vorsitzenden Apo nur aus taktischer Perspektive betrachtet. Leider haben die USA und die EU in dieser Zeit keine positive Rolle gespielt. Sie übten keinen Druck auf den türkischen Staat aus und gingen nicht positiv auf Rêber Apos Lösungsvorschläge und die einseitigen Waffenstillstände ein.

Wir haben das Recht zu verlangen, dass die Mächte, die den türkischen Staat unterstützt haben, jetzt die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und Wiedergutmachung leisten, indem sie sich an einer friedlichen Lösung beteiligen. Die USA müssen Verantwortung übernehmen. Die Zeit für eine Lösung der kurdischen Frage ist gekommen. Rêber Apo kann auf allen Ebenen eine vermittelnde Rolle spielen.

Es gibt keine militärische Lösung der kurdischen Frage“

In den USA gibt es eine Tendenz, eine Lösung der kurdischen Frage als positiven Faktor für die Region zu betrachten. Unter welchen Umständen wären Sie zu einem neuen Friedensprozess bereit?

Wir sehen das durchaus als eine positive Entwicklung. Die kurdische Frage ist ein Problem für die ganze Region. Sie betrifft unmittelbar die vier Staaten des Nahen Ostens – Türkei, Irak, Iran und Syrien – und damit den Nahen Osten im Allgemeinen. Es wäre sogar genauer zu sagen, dass die kurdische Frage kein regionales, sondern ein internationales Problem ist. In dieser Hinsicht ist die Tendenz zu einer Lösung, die sich in den USA allmählich entwickelt, sehr wertvoll für die Lösung der kurdischen Frage.

Die Lösung der kurdischen Frage wird in den vier Staaten, in denen die Kurdinnen und Kurden leben, Demokratie und Freiheit bringen, das bedeutet nichts weniger als die Demokratisierung des Nahen Ostens. Dies wird eine internationale Wirkung haben. Es gibt keine militärische Lösung der kurdischen Frage. Eine rein militärische Lösung ist weder für den türkischen Staat noch für die PKK möglich. 40 Jahre Krieg haben dies gezeigt. In diesem Zusammenhang ist es sehr wertvoll, dass ein Beamter der Regierung Biden letzten Sommer erklärte, dass es „keine militärische Lösung“ für den Konflikt gebe. Die Zeit für eine demokratische Lösung ist reif. Die gesamte politische Dynamik in der Türkei erfordert dies.

Wenn es in der türkischen Öffentlichkeit, im türkischen Staat und auf der internationalen Bühne, insbesondere in den USA, einen ernsthaften Willen für eine Lösung gibt, ist die kurdische Seite sowohl bereit als auch willens.

Rêber Apo hat sich mehr als jeder andere auf eine Lösung konzentriert und eine Perspektive, einen Vorschlag und ein Projekt nach dem anderen entwickelt. Er sagte einmal: „Wenn sie mir eine Woche Zeit geben, werde ich die kurdische Frage lösen, ich bin bereit, sie zu lösen.“ Das Problem ist, dass es auf der anderen Seite, beim türkischen Staat, keinen solchen Willen gibt.

Wenn es ein internationales Interesse an einer Lösung gäbe, wäre es unmöglich, keine positiven Entwicklungen zu sehen. Genau an diesem Punkt können und müssen die USA und die internationale Gemeinschaft eine konstruktive Rolle spielen. Der türkische Staat braucht nicht allzu viele Schritte zu unternehmen. Ich glaube, wenn die türkische Seite ihr bisheriges taktisches und oberflächliches Verständnis und Verhalten ablegt, einen ernsthaften Willen zum Frieden und zu einer Lösung zeigt und Verhandlungen mit Rêber Apo aufnimmt, kann eine Lösung erreicht werden. Auf einer solchen Grundlage können die gegenseitigen Anforderungen an einen Verhandlungsprozess entwickelt werden.

Es stimmt, dass wir Erwartungen an die internationale Gemeinschaft, insbesondere an die USA, haben. Dafür gibt es verständliche Gründe: Da die USA den türkischen Staat in seinem Krieg gegen die Kurden und die PKK auf allen Ebenen unterstützen, gibt es in dieser Frage kein Vertrauensproblem zwischen ihnen und der Türkei. Wie ich bereits sagte, der türkische Staat hätte diesen Krieg ohne die Vereinigten Staaten nicht 40 Jahre lang fortsetzen können. Wir wissen das sehr genau, und der türkische Staat weiß das auch. In diesem Sinne ist die Rolle der Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft wichtig. Sie sollten Druck auf die Türkei ausüben, sie ermutigen, ihre Kriegsstrategie aufzugeben und eine demokratische politische Lösung fördern. Dies wäre ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Lösung.