Die türkische Politik des Taktierens und die USA

Erdoğan gibt sich dieser Tage wieder demonstrativ selbstbewusst, doch sein ewiges Lavieren und Taktieren in außenpolitischen Fragen verärgert seine Bündnispartner. Welche Haltung werden sie bei einem weiteren Krieg gegen Nordsyrien einnehmen?

Die türkische Außenpolitik unter der Erdoğan-Regierung ist gekennzeichnet durch überraschende Wendungen, Täuschungsmanöver und schmutzige Deals hinter den Kulissen, um ihre expansionistischen Ziele durchzusetzen. Der politische Absturz des ehemaligen Außenministers Ahmet Davutoğlu verdeutlicht jedoch, wie abrupt sich die außenpolitischen Koordinaten ändern. Einst galt Davutoğlu nicht nur als außenpolitischer Stratege und Visionär der AKP-Regierung, sondern auch als Politiker, der das Vertrauen in der Führung der EU und Nato genoss. Das einzige muslimische Nato-Mitglied sollte mit der EU-Mitgliedschaft ein zusätzliches Privileg erhalten. Bei der Umsetzung der von westlichen Wissenschaftlern und „Think-Tanks“ entwickelten „Strategie“ eines Dialogs und der Annährung zur islamischen Welt wurde auf das türkische Modell gesetzt: die Synthese von Islam und laizistischem Nationalismus.

Auf einem Treffen von türkischen Diplomaten sagte der einstige Visionär türkischer Außenpolitik 2010: „2023, zum 100. Jahrestag der Republikgründung, wird die Türkei EU-Mitglied sein, in Frieden mit allen ihren Nachbarn leben und zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehören.“¹ Ausgerechnet eine islamisch orientierte Regierung schien das Vermächtnis Mustafa Kemal Paschas zu erfüllen. Entgegen den Erwartungen hat aber die Erdoğan-Regierung in den vergangenen Jahren einen Kurs eingeschlagen, der in manchen Bereichen den Interessen ihrer westlichen Verbündeten widerspricht. In der EU erwartet inzwischen kaum jemand, dass die Türkei die Aufnahmekriterien für einen EU-Beitritt erfüllen wird. Die USA und Großbritannien zählten einst zu den Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts, aber inzwischen ist Großbritannien selbst aus der EU ausgetreten, und für die USA ist die Frage außenpolitisch bedeutungslos geworden. Der Fortbestand der EU ist indes fraglich, denn sie ist innerlich zerstritten, und auch die wichtige deutsch-französische Achse weist mittlerweile Brüche auf. Angesichts dieser Entwicklung könnte ein Beitritt der Türkei die EU sprengen.

Ein Lehrstück türkischer Diplomatie: die armenisch-türkischen Protokolle von Zürich

Wenn die Türkei tatsächlich an einer friedlichen Nachbarschaft interessiert gewesen wäre, dann hätte sie das im Oktober 2009 nach langen Geheimverhandlungen zustande gekommene Abkommen mit der Republik Armenien umsetzen können. Das wäre ein konkreter Beweis für die Ernsthaftigkeit der von Erdoğans damaligem Außenminister verkündeten Ausrichtung der türkischen Politik gegenüber ihren Nachbarn, aber die Ratifizierung der in Zürich unterzeichneten Protokolle wurde plötzlich von weitgehenden armenischen Zugeständnissen in der Berg-Karabach-Frage abhängig gemacht. Dass die armenische Regierung eine solche im Nachhinein aufgestellte Bedingung nicht akzeptieren konnte, war der türkischen Regierung dabei klar.

Zweifellos bildeten die Verhandlungen für eine Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen eine der seltenen, gemeinsam von Washington, Brüssel und Moskau unterstützten Initiativen. Bei der Vertragsunterzeichnung waren Hillary Clinton, Sergej Lawrow und Javier Solana präsent, womit deutlich sichtbar wurde, wer hinter den Geheimverhandlungen stand. Aber am Ende waren sie nicht in der Lage, die türkische Regierung zur Ratifizierung der Protokolle zu bewegen. Das Scheitern des vom Westen und Moskau unterstützen Annährungsprozesses zwischen Armenien und der Türkei hängt sicherlich damit zusammen, dass der aserbaidschanische Staatschef Aliyew bereit war, einen großzügigen Preis an den türkischen Partner zu zahlen, damit die Protokolle nicht ratifiziert wurden. Somit konnte die Blockade und Isolation Armeniens durch Aserbaidschan und die Türkei fortgesetzt werden. Die massive Aufrüstung und Unterstützung durch die Türkei ermöglichte den aserbaidschanischen Angriffskrieg gegen Berg-Karabach im Herbst 2020, der für die Armenier in einer Niederlage endete.

Problematische Partnerschaft

Für die türkische Regierung ist das entscheidende Hindernis bei der Verwirklichung ihrer expansionistischen Ziele im Osten nicht das kleine, isolierte und seit der Niederlage im Herbst 2020 geschwächte Armenien, sondern die kurdische Freiheitsbewegung und die selbstverwaltete Region in Nordsyrien/Rojava. Gegenwärtig versucht Ankara die Beziehungen zur syrischen Regierung wieder zu reparieren und wirbt auch in Moskau für grünes Licht, um mit einem großen Angriff die demokratischen Strukturen in Nordsyrien zu zerschlagen und nach einer „ethnischen Säuberung“ eine dem türkischen Staat loyale arabische Bevölkerung anstelle der angestammten Bewohner anzusiedeln. Während die Vorbereitungen für einen großen Militärschlag auf Hochtouren laufen, ist bislang noch unklar, ob die USA einer Invasion ihre Zustimmung erteilen werden.

Mit dem Antritt der Biden-Regierung zeichnete sich eine neue Türkei-Politik ab, was vor allem durch die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern deutlich wurde. Die „geostrategischen Interessen“ der USA haben sich verschoben und die einst als antikommunistisches Bollwerk benötigte Türkei hat an Bedeutung verloren. Washington braucht nicht mehr auf die Empfindlichkeiten und Wünsche der Türkei Rücksicht zu nehmen, damit im Gegenzug ihre Forderungen und Erwartungen erfüllt werden. Die Völkermordfrage war sehr lange Zeit als eine Art „Trumpfkarte“ bei Verhandlungen mit Ankara nützlich. Wenn die US-Regierung diese Karte nicht mehr benötigt, dann bedeutet das, dass sie andere Druckmittel in der Hand hat, um ihre Politik durchzusetzen.

Hinzu kommt, dass die Türkei auch wirtschaftlich nicht dieselbe Bedeutung für die USA hat, wie z.B. für Deutschland oder andere EU-Staaten. Es gibt aus Sicht der US-Regierung keinen Grund, die expansionistische Politik der türkischen Regierung zu tolerieren oder gar zu unterstützen. Der Kauf der russischen S-400-Raketensystems, die ambivalente Position im Ukraine-Krieg, die Blockade des Nato-Beitritts von Finnland und Schweden und die Annäherung an die Shanghai-Gruppe haben das Misstrauen der westlichen Bündnispartner verstärkt. Die wiederholten Versuche der Türkei, ihre Bündnispartner mit Erpressung und Drohungen zu Zugeständnissen zu bewegen, dürften vor allem die USA verärgern. Erdoğans demonstrativ selbstbewusstes Auftreten, seine rhetorischen Nebelkerzen, nationalistische Inszenierungen, Drohungen und Erpressungen können lediglich die nationalistischen Teile der eigenen Bevölkerung beeindrucken, aber sicherlich nicht Washington. Solange eine türkische Invasion in Nordsyrien für sie keine „geostrategischen“ Vorteile bringt, dürften die USA keinen Grund haben, dem Plan der türkischen Regierung zuzustimmen. Umso weniger, wenn Ankara offen die Unterstützung der syrischen und russischen Regierung für eine Invasion sucht. Wenn Syrien und Russland sich auf einen schändlichen Deal mit der Erdoğan-Regierung einlassen und einer Invasion Nordsyriens grünes Licht geben, dann wohl auch in der Hoffnung, dass es dort zu einer Konfrontation zwischen türkischen und den in der Region verbliebenen amerikanischen Einheiten kommt.

Das Jahr der Entscheidungen

Die türkische Regierung verfolgt offenbar die Absicht, im Schatten der inzwischen zu einem kleinen Weltkrieg ausgearteten Entwicklungen in der Ukraine ihre eigenen Pläne in Kurdistan umzusetzen. Solange die Nato ihre Aufmerksamkeit auf den Ukraine-Krieg konzentriert, erwartet Ankara keine ernsthaften Probleme bei der Verwirklichung seiner expansionistischen Pläne. Sowohl im Südkaukasus als auch in Mesopotamien hat es die Türkei offenbar auf ein „Endgame“ abgesehen: Im Herbst 2020 konnte das verbündete Aserbaidschan mit massiver türkischer Unterstützung einen Sieg in Berg-Karabach erringen; der im September 2022 erfolgte Angriff Aserbaidschans auf Armenien und die seit Dezember 2022 anhaltende Blockade Berg-Karabachs setzen die Armenier massiv unter Druck, um den aserbaidschanischen und türkischen Forderungen nachzugeben. Teil des von der Türkei inszenierten Kriegsszenarios ist ferner der unter Einsatz von Chemiewaffen verschärfte Krieg gegen die kurdische Guerilla in der Kurdistan-Region Irak und der angekündigte Angriff auf die selbstverwalteten Gebiete in Nordsyrien. Alles deutet darauf hin, dass die Erdoğan-Regierung beweisen will, dass sie genauso große nationale Triumphe erzielen kann, wie vor 100 Jahren die kemalistische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Pascha. Wer könnte die Pläne der türkischen Regierung durchkreuzen?

Angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit und der letzten Jahre, ist von den führenden EU-Staaten außer den üblichen Appellen und diplomatischen Phrasen nichts zu erwarten. Dass die Türkei während der Regierungszeit Erdoğans eine aggressive und expansionistische Politik verfolgt hat, hängt vor allem mit der zurückhaltenden und nachgiebigen Türkei-Politik der EU zusammen. Selbst nach dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen ist es nicht gelungen, die türkische Regierung zur Einhaltung der Menschenrechte zu bewegen. Seit der Entstehung der „Türkischen Frage“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts ging es Europa stets um die Durchsetzung eigener Interessen, aber nie darum, konsequent für die Einhaltung der Menschenrechte im türkischen Machtbereich einzutreten. Die schändliche Konstante der von Feigheit, Opportunismus und Heuchelei bestimmten Türkei-Politik wird von der EU fortgesetzt, wobei Deutschland wieder einmal eine besonders unrühmliche Rolle übernimmt

Entscheidend bei der weiteren Entwicklung in Nordsyrien wird deshalb trotz ihrer geringen militärischen Präsenz vor allem die Haltung der USA sein. Spätestens nach der Verteidigung Kobanês und des erfolgreichen Kampfes gegen den IS hat Washington erkannt, dass die kurdische Freiheitsbewegung eine organisierte, politisch-militärische Kraft darstellt, die einen großen Rückhalt in der Bevölkerung hat und in der Lage ist, stabile demokratische Strukturen aufzubauen. Innerhalb weniger Jahre wurden in den selbstverwalteten Gebieten demokratische Strukturen geschaffen, die allen ethnischen und religiösen Gemeinschaften ein gleichberechtigtes Zusammenleben ermöglichen.

Während in Ankara die Frage nach der weiteren Gültigkeit des vor 100 Jahren abgeschlossenen Vertrages von Lausanne gestellt und offen expansionistische Ambitionen bekundet werden, stellt sich die Frage, wie die USA darauf antworten werden. Die neo-osmanische und neo-turanistische Politik wird unvermeidbar zu Konflikten mit den USA führen, die den Vertrag von Lausanne, der als Geburtsurkunde der Türkei gilt, nicht unterzeichnet haben. Wenn die USA nach der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nun auch eine türkische Besetzung von weiteren Gebieten in Nordsyrien verhindern, wäre das ein weiterer Hinweis darauf, dass sie eine neue Türkei-Politik verfolgen. Welche Auswirkungen das konkret auf die Entwicklung in Kurdistan haben wird, ist zwar nicht absehbar. Klar ist aber, dass die auf Teilung, Unterdrückung und Gewalt beruhende Herrschaft nicht länger aufrechterhalten werden kann.


¹ Visionärer Diplomat“, Frankfurter Rundschau