Hinter den Angriffen und Kriegsereignissen in Rojava verschwindet immer wieder der gesellschaftliche Aufbau, die Weiterentwicklung des radikaldemokratischen Systems und der Frauenbefreiung in der Region. Das Widerstandsnetzwerk Women Defend Rojava hat einen umfassenden Bericht zu den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, die trotz Angriffen und ökonomischem Embargo in der Praxis weiterentwickelt werden, veröffentlicht.
„Frauen nehmen gleichwertig am öffentlichen Leben teil“
Darin heißt es: „Die Arbeit, die Frauen in den letzten Jahren und sogar schon vor Beginn der Revolution in Rojava geleistet haben, hat vieles verändert. Frauen sind nicht mehr im selben Ausmaß auf ein klassisches Leben, das nur aus Hausarbeit in ihrer eigenen Familie besteht, beschränkt, sondern nehmen gleichwertig am öffentlichen Leben teil. Dies ist das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe der Frauenbewegungen, wie Kongra Star, welche schon vor der Revolution als Yekîtiya Star Frauen organisierte.“
„Die Frauen sind die Vorreiterinnen der Revolution“
WDR weist auf den Frauenwiderstand hin und erinnert an Awaz Urmîye, eine Kämpferin der YPJ, die am 22. Januar 2022 fiel, als sie sich dem massiven IS-Angriff auf das Sina-Gefängnis in Hesekê entgegenstellte. Das Netzwerk erklärt: „Durch die Revolution in Rojava wurde deutlich, die Frau spielt eine Vorreiterinnenrolle in allen Bereichen des Lebens, sei es im Bereich von Ökonomie, Politik oder in den Selbstverteidigungseinheiten YPJ. In der Zeit des syrischen Regimes übernahmen Frauen keine politischen Rollen oder hatten keine Entscheidungsrechte. Heute sind sie gleichwertig beteiligt.“
Tiefgreifende Veränderungen in den zuletzt befreiten Gebieten
Wie WDR berichtet, zeigen sich die Veränderung insbesondere auch in der Situation von Frauen in den befreiten, vorwiegend von arabischer Bevölkerung bewohnten Gebieten: „Der Alltag der Frauen verändert sich, denn durch die Revolution und die Arbeit in politischen Organisationen bekommt die Frau eine ganz neue Stellung, in der sie in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und am öffentlichen Leben gleichwertig teilzunehmen.“
„Frauen auch prägend im Bildungswesen und Bewahrung von Sprache und Kultur“
„Da dies ein laufender Prozess ist, werden viele Errungenschaften, die bereits bestanden, noch weiter ausgebaut oder mit Leben gefüllt. In vielen Bereichen des Lebens sind Frauen heute Vorreiterinnen. Zum Beispiel im Bildungssystem nehmen Frauen heute in Nord- und Ostsyrien die entscheidende Rolle ein, denn wohl neunzig Prozent der LehrerInnen sind Frauen. Dabei können Kinder in ihrer eigenen Sprache Bildung sehen. Es gibt je nach Bedarf in Assyrisch, Kurdisch und Arabisch Unterricht. Auch in den kulturellen Projekten und Institutionen engagieren sich mehrheitlich Frauen. Es sind oft Frauen und Mütter, die die Wichtigkeit ihre eigene Kultur zu bewahren, sehen. Kultur ist ein anderer Aspekt, der die Gesellschaft vor einer Assimilation und Genozid schützt. Die Bewegung der Kultur von Frauen Mesopotamiens in Nord und Ostsyrien, Hîlala Zêrîn organisiert Kulturelle Projekte und Aktivitäten, um die Identität und Selbstbestimmung der Bevölkerung zu erhalten. Eines der letzten Projekte war zum Beispiel das Sammeln alter Märchen, die über den autonomen Frauenfernsehsender JIN TV ausgestrahlt wurden. Jedes Jahr organisiert das Kultur- und Kunstkomitee von Kongra Star ein Festival, in dessen Zentrum die Kultur und Musik der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region stehen. Frauen schreiben Lieder über die Revolution. Im letzten Jahr wurde ein Tonstudio neu eröffnet und zwei Lieder für Zeynep Kınacı (Zilan) aufgenommen. In der Zukunft soll eine Akademie für Frauen, für Kultur und Kunst neu eröffnet werden.“
„Autonomie kultureller Identitäten“
Weiter gibt WDR eine Einschätzung zur Entwicklung der demokratischen Autonomie und des Konföderalismus in Bezug auf Repräsentation kultureller Identitäten ab: „Moralische und ethische Werte, sowie die Bedeutung der eigenen Muttersprache werden von allen Bevölkerungsgruppen in der Region verteidigt, aber es gibt auch viele Dinge, die AssyrerInnen, AraberInnen, KurdInnen, EzidInnen usw. für sich eigenständig entscheiden.“
„Neuer Gesellschaftsvertrag wird diskutiert“
Ein neuer Gesellschaftsvertrag befindet sich in der Vorbereitung. WDR berichtet zum Verfahren: „Derzeit wird der Gesellschaftsvertrag in Nord- und Ostsyrien diskutiert und alle Bevölkerungsgruppen sind dabei in den Diskussionsprozess involviert. Es fanden bereits vier Sitzungen statt, in denen ein Vorschlag für den neuen Gesellschaftsvertrag in Nord- und Ostsyrien erarbeitet wurde. Dieser wird nun zur Diskussion stehen. In dem bisherigen Vorschlag wird festgelegt, dass mindestens fünfzig Prozent der politischen Repräsentation von Frauen besetzt wird. Auch fortschrittliche Rechte für gesellschaftliche Gruppen wurden festgelegt, so ist zum Beispiel zum ersten Mal die ezidische Religion gleichwertig anerkannt.“
„Rechte von Frauen umzusetzen bedeutet auch Bildung“
Zur Entwicklung der Frauengesetzgebung und deren Umsetzung heißt es: „In Nord- und Ostsyrien gibt es eine spezielle Gruppe von Gesetzen und Beschlüssen, die die Rechte von Frauen sichern soll. Diese Rechte jedoch in der Praxis umsetzen zu können, heißt auch, sie durch Bildungen und Diskussionen den Menschen verständlicher zu machen und näherzubringen. Ansonsten werden manche Beschlüsse nicht überall von der Bevölkerung praktiziert und es finden zum Beispiel dann immer noch Eheschließungen von Minderjährigen statt.“ WDR weist insbesondere darauf hin , dass Krieg und Vertreibung als Katalysator für Zwangsehen wirken. Deswegen spielen gerade die Frauenorganisationen in Rojava eine wichtige Rolle dabei, „wirklich jede Frau zu erreichen und solche Eheschließungen zu verhindern“.
„Ökonomische Projekte nehmen Fahrt auf“
WDR begrüßt es, dass insbesondere ökonomische Projekte der Selbstverwaltung in den vergangenen zwei Jahren Fahrt aufgenommen haben. Das Embargo und Unerfahrenheit seien oft hinderlich gewesen: „Frauen waren zwar meist in ihrer Familie für die Finanzen verantwortlich, denn ihnen wurde Fairness und Selbstlosigkeit zugesprochen, doch für die Arbeit in Agrikultur und Projekten braucht es konkrete praktische Erfahrungen. Daher haben auch viele Projekte anfangs ihr Ziel nicht erreicht.“
„Kooperativen produzieren immer erfolgreicher“
Der Misserfolg von Projekten sei jedoch als Ressource von Erfahrungen genutzt worden. Dieser Prozess zahle sich in den vergangenen zwei Jahren aus: „So baut mittlerweile die Demsal Kooperative erfolgreich in größeren Mengen Gemüse an und hat auch verschiedene andere Standbeine wie Tierzucht und Obstplantagen. Es gibt viele weitere Kooperativen, Nähereien, Bäckereien für Süßwaren, die Teil der Frauenbewegung sind. Besonders in Dörfern zeigt sich die Notwendigkeit für solche Projekte, denn Frauen können oft nicht von heut auf morgen ihr Dorf verlassen oder zur Arbeit reisen, weshalb es notwendiger ist, auch Projekte an ihrem Lebensort aufzubauen. Immer noch gibt es Frauen, die ökonomisch auf sich allein gestellt sind, die vielleicht auch Kinder haben. Für sie sind ökonomische Projekte lebensnotwendig. In Cizîrê besteht ebenfalls viel Potenzial für landwirtschaftliche Projekte.
„Angriffe schädigen ökonomische Projekte“
Trotz starker Bemühungen, Projekte im ökologischen und ökonomischen Bereich weiterzuentwickeln, stehen die ständigen Angriffe der Türkei und ihrer Söldnertruppen dem im Weg. In Serêkaniyê gab es große Obstbaumplantagen, die während des Besatzungskrieges komplett verwüstet und verbrannt wurden.“
Frauenorganisierung und Selbstverteidigung
In den vorwiegend arabischen Gebieten in Nord- und Ostsyrien wurde Ende Mai 2021 die Frauenorganisation Zenobia gegründet. Die verschiedenen Frauenorganisationen in der der gesamten Region Nord- und Ostsyriens sind autonom und koordinieren sich gemeinsam unter dem Schirm des Rates der Frauen in Nord- und Ostsyrien. WDR weist insbesondere auf die Rolle von Kongra Star, der ältesten Frauenorganisation in Nord- und Ostsyrien hin und erklärt: „Es ist sehr wichtig, eine gemeinsame Kraft zu entwickeln, um Veränderungen erwirken zu können. Auch im Bereich der Selbstverteidigung der Gesellschaft nehmen Frauen eine Vorreiterinnenrolle ein: von YPJ bis HPC Jin, den gesellschaftlichen Frauenverteidigungskräften. In letzter Zeit hat sich die Arbeit von HPC Jin weiterentwickelt und ist auch weiterhin in einem Veränderungsprozess. Das Ziel ist, dass jede Frau nach ihren Möglichkeiten eine Rolle in der Verteidigung ihrer Heimat einnehmen kann.“ Es gehe um die Verteidigung der Gesellschaft gegen Angriffe von außen sowie um die Lösung innerer Probleme. Seit 2016 bestehen die HPC Jin offiziell. Schon davor hatten auch zivile Frauen mit all ihrer Kraft die Verteidigung der Region organisiert. Die HPC-Jin waren auch bei der Niederschlagung des IS-Angriffs auf das Sina-Gefängnis in Hesekê beteiligt.
„Frauendiplomatie wird weiterentwickelt“
Der Bericht schließt mit einem Hinweis auf die Entwicklung der Frauendiplomatie: „2021 fand die zweite Frauenkonferenz Mittlerer Osten/Nordafrika statt. Kongra Star war dabei eine der Organisatorinnen. Es gibt auch diplomatische Arbeiten und Frauen organisieren sich gemeinsam in Südkurdistan und im Libanon. In diesem Sinne versuchen die Frauenorganisationen in Nord- und Ostsyrien eine Kraft zu werden, die im ganzen Mittleren Osten Veränderung anregt. Darüber hinaus gab es eine Delegation bestehend aus drei Frauen aus Nord- und Ostsyrien, die das Baskenland, Katalonien und Madrid besuchten. Dabei sprachen sie sowohl mit politischen Institutionen des Baskenlandes und Kataloniens als auch mit feministischen Organisationen und Gruppen, sowie mit den Women Defend Rojava Komitees vor Ort.“
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien in allen Bereichen weiterentwickelt. Um so wichtiger ist es, sie gegen alle Angriffe, die darauf abzielen die Frauenrevolution zu zerstören, zu verteidigen. In den letzten Monaten kam es auf allen Ebenen zu Angriffen durch die Türkei. Dabei wurden türkische Drohnenangriffe zum Beispiel zeitgleich mit dem Angriff des IS in Hesekê durchgeführt. Die Türkei und der IS verfolgen dieselbe lebensfeindliche, patriarchale Ideologie. Im Leben vieler Frauen bedeuten beide Gewalt, organisierte Morde, Gefängnis und Folter. Krieg, Gewalt und Vertreibung verschlechtern als Folge der türkischen Invasionskriege die Situation der Frauen immens. Gewalt wird durch die ständigen Angriffe normalisiert. Doch auch innerhalb der Region gibt es immer wieder Angriffe auf oder Handlungen gegen Frauen. All diese Angriffe zielen auf die Errungenschaften der Frauenrevolution ab. Es braucht also einen kontinuierlichen Widerstand und Organisation, um die Errungenschaften der Frauenrevolution zu verteidigen. Nur dadurch kann die Freiheit der Frau und damit der gesamten Gesellschaft im Alltag weiterentwickelt werden.