Seit dem 27. November findet in den für Menschenrechtsverletzungen bekannten Gefängnissen der Türkei ein weiterer Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans und willkürliche Rechtsverletzungen statt. Die von politischen Gefangenen aus PKK/PAJK-Verfahren angestoßene Aktion wird gruppenweise jeweils fünftägig im Wechsel durchgeführt. Da die Gefängnisverwaltungen unter Berufung auf die Pandemiesituation das Besuchsrecht einschränken sowie kaum Anwaltsgespräche zulassen, ist unklar, wie viele Gefangene in den verschiedenen Haftanstalten an der Aktion teilnehmen.
An dem Hungerstreik beteiligen sich auch prominente Politikerinnen und Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die als politische Geiseln festgehalten werden. Vergangene Woche war bekannt geworden, dass die im Gefängnis von Kandira in der Provinz Kocaeli inhaftierte ehemalige Parlamentsabgeordnete Çağlar Demirel zusammen mit ihrer Zellengenossin Seher Orçu im Hungerstreik gegen den Anstieg von Rechtsverletzungen und Willkürbehandlungen wie Isolationshaft und plötzlichen Zellendurchsuchungen ist, denen politische Gefangene seit Beginn der Covid-19-Pandemie zusätzlich ausgesetzt sind. Zudem ließ die 51-Jährige ausrichten, dass sich ihr Protest gegen die „Terrorisierung“ der Gesellschaft richtet. Nun hat auch die ebenfalls in Kandira inhaftierte frühere Ko-Vorsitzende der Partei der demokratischen Regionen (DBP), Sebahat Tuncel angekündigt, an dem Massenprotest teilzunehmen. Tuncel wird am Hungerstreik der dritten Gruppe teilnehmen.
Überfall auf Zellentrakt von HDP-Politikerinnen
Der Zellentrakt im Hochsicherheitsgefängnis Kandira war vor einigen Tagen aufgrund des Hungerstreiks vom Wachpersonal durchsucht worden. Das hatte der HDP-Frauenrat Anfang der Woche mitgeteilt. Bei den weiteren betroffenen Politikerinnen handelt es sich um Figen Yüksekdağ, Gültan Kışanak, Çağlar Demirel, Edibe Şahin, Aysel Tuğluk, Nurhayat Altun und Gülser Yıldırım. Bei der Durchsuchung wurden Bücher, Stifte, persönliche Aufzeichnungen, Gedichte und literarische Texte sowie Unterlagen für die Verteidigung vor Gericht beschlagnahmt. Von Sebahat Tuncel ist zudem ein Antrag auf Verlegung in das Inselgefängnis Imrali einkassiert worden, in dem der PKK-Gründer Abdullah Öcalan seit 21 Jahren inhaftiert ist.
Hintergrund des Hungerstreiks
Seitdem der Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK im Jahr 2015 von Seiten der AKP-Regierung für beendet erklärt wurde, wird Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali isoliert und kann nicht einmal von seinem Anwaltsteam oder Angehörigen Besuch erhalten. Nach einem 200-tägigen Massenhungerstreik, der Ende 2018 von der kurdischen Politikerin Leyla Güven initiiert wurde, ist die Isolation kurzfristig durchbrochen worden. Der letzte Anwaltsbesuch fand im August 2019 statt, seitdem gibt es keinen Kontakt mehr. Während Öcalans Rechtsbeistand und Familienangehörige weiterhin regelmäßig Besuchsgenehmigungen beantragen, hat die Generalstaatsanwaltschaft Bursa am 23. September ein Besuchsverbot für weitere sechs Monate angeordnet. Grund dafür ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft das Erstellen einer „Road Map“ für eine Lösung der kurdischen Frage, die Öcalan im Jahr 2009 einem Verteidigungsschreiben an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angehängt hatte. Für die politischen Gefangenen aus PKK-Verfahren war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wer ist Sebahat Tuncel?
Die Politikerin, Feministin, Kartografin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit anderen kurdischen Politikerinnen und Politikern die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.
Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die heute 45-jährige Tochter alevitisch-kurdischer Eltern aus Meletî (Malatya) als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.
Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel war. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesterpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.
Sebahat Tuncel wurde im Herbst 2016 erneut verhaftet und im Februar 2019 gemeinsam mit Gültan Kışanak wegen Terrorismusvorwürfen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Revisionsgericht hat das Urteil wegen Formfehlern aufgehoben. Seit Mitte Januar läuft das wieder aufgerollte Verfahren in Meletî (Malatya). Tuncel befindet sich weiterhin in Haft.