„Sakine Cansız gibt uns immer noch Kraft“

Suad Mistefa und Rewşen Reşîd aus Dêrik haben Sakine Cansız 1991 im Libanon kennengelernt. Die Begegnung hinterließ einen bleibenden Eindruck und auch in Rojava sind die Spuren der Pionierin der kurdischen Frauenbewegung erhalten geblieben.

Das kämpferische Leben von Sakine Cansız (Sara), die am 9. Januar 2013 zusammen mit zwei ihrer Genossinnen in Paris ermordet wurde, führte von Dersim über den Kerker von Amed nach Rojava und die kurdischen Berge bis nach Europa. „Dieses Buch ist nur ein Ausschnitt dessen, was alles geschehen ist“, schrieb sie 1997 im Vorwort ihrer Bibliografie „Mein ganzes Leben war ein Kampf.“ Die Wahrheit lässt sich nicht mit einer Begegnung beschreiben, aber eine Begegnung kann unvergessliche Spuren im Leben hinterlassen. So geht es auch Suad Mistefa und Rewşen Reşîd.

Die beiden Frauen aus Dêrik haben Sakine Cansız am 15. August 1991 an der Mahsum-Korkmaz-Akademie in der Bekaa-Ebene kennengelernt und einen Eindruck davon bekommen, was es heißt, für Freiheit zu kämpfen.

Suad Mistefa, die Mutter der ermordeten Politikerin Hevrîn Xelef, erzählt von Sakine Cansız

Suad Mistefa hat der Guerilla 1982 ihr Haus geöffnet, als der Bruder von Mazlum Doğan nach dessen Tod im Gefängniswiderstand von Amed bei einem Besuch ein Foto des PKK-Revolutionärs mitbrachte. Damit habe für sie ein neues Leben begonnen, erzählt sie: „Meine Sicht auf die Welt und die Realität von Frauen hat sich geändert. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass Frauen das Haus verlassen und für sich selbst und die Gesellschaft kämpfen und arbeiten. Als die Frauenguerilla kam, änderte sich das.“

Eine der Guerillakämpferinnen, die zu Suad kamen, war Binevş Agal (Bêrîvan), die sich in Europa der PKK angeschlossen hatte. „Sie sprach ständig über Sakine Cansız und erzählte, dass sie die einzige Frau bei der PKK ist, die bereits bei der Parteigründung dabei war. Von Bêrîvan hörte ich, wie Sakine im Kerker von Amed Widerstand geleistet hat und dass sie nicht kapituliert und einen eisernen Wille hat. Sie sagte, dass uns der Kampf von Sakine Cansız erhaben macht“, berichtet Suad Mistefa.

Persönlich kennengelernt habe sie Sakine Cansız 1991, erzählt Suad weiter: „Wir fuhren zu der Feier zum 15. August in den Libanon. Sakine Cansız war gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Eine Freundin sagte: ,Heval Sara ist aus dem Gefängnis gekommen, lass uns sie begrüßen.' Ich fragte: ,Wer ist Heval Sara?' Damals wusste ich nicht, dass sie Sakine Cansız ist. Sie konnte kein Kurdisch, eine Freundin übersetzte für sie. Ich fragte, warum sie ihre eigene Sprache nicht kann. Sie umarmte mich und sagte, dass ich recht habe. Der türkische Staat verbiete muttersprachlichen Unterricht, sagte sie, aber sie war auch selbstkritisch. Dann erzählte sie von der Zeit, als sie vierzig Tage lang ununterbrochen im Kerker gefoltert wurde.“

Suad Mistefa verbrachte drei Tage mit Sakine Cansız und erzählt, was sie von ihr weiß: „Ihr Kampf baute auf der Philosophie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] auf. Davon hat sie gelebt und die Hand der Kapitulation zurückgeschlagen. Sie hat den Widerstand fast zwölf Jahre unter Folter im Kerker der Kapitulation vorgezogen. Das reicht wohl aus, um eine Symbolfigur zu werden. Sie ist ein Symbol für alle Frauen. Die Frauen, die von ihrem Kampf gegen den türkischen Staat hörten, sahen sie als eine Vorreiterin und Pionierin, die für Freiheit kämpfte und die Willenskraft von Frauen bewies.“

Sie steht für den Willen, die Hoffnung und die Revolution von Frauen“

„Frauen haben ihre Freiheit in Heval Sakines Freiheit gefunden“, sagt Suad und berichtet von ihrem Einfluss in Rojava: „Heval Sakine hat sich nicht lange in Rojava aufgehalten, sie konnte ja kein Kurdisch. Nur auf dem Weg in die Berge und zurück war sie mehrmals hier. Es war nur eine kurze Zeit, aber die Spuren sind all die Jahre erhalten geblieben. Sakines Kampf und Leben waren eine ganz neue Seite für Frauen. Ihrem Kampf ist es zu verdanken, dass die Mauern der Angst durchbrochen wurden.“

In Rojava werde Sakine Cansız auch in hundert Jahren nicht vergessen sein, betont Suad und sagt: „Sie ist nicht nur für Kurdinnen eine Pionierin, sondern für Frauen weltweit. Wir geben ihr an jedem Jahrestag von neuem unser Wort. Heval Sakine war eine führende Kommandantin und repräsentiert eine Philosophie, einen Kampf, eine Ideologie und den Willen, die Hoffnung und die Revolution von Frauen.“

Zuletzt spricht Suad Mistefa den Mord an Evîn Goyî (Emine Kara) und zwei kurdischen Aktivisten am 23. Dezember 2022 in Paris an. Der Anschlag habe kurz vor dem Jahrestag des Mordes an Sakine Cansız und ihren zwei Freundinnen stattgefunden, sagt sie: „Weil Frankreich bei dem ersten Massaker ein Auge zugedrückt und sich zum Mittäter machte, konnte es zu dem zweiten Massaker kommen. Das Hauptziel waren Sara und Evîn, aber ihr Kampf wird von ihren Nachfolgerinnen fortgesetzt.“

Rewşen Reşit: „Ihr Begeisterung sagte alles“

Rewşen Reşit fuhr 1991 in die Bekaa-Ebene, um ihren Mann und ihre Schwester zu sehen, beide hatten sich der PKK angeschlossen. An der Mahsum-Korkmaz-Akadamie fragte ihre Schwester, ob sie Sakine Cansız kennenlernen will. „Wenn das möglich ist, warum nicht?“, antwortete Rewşen.

„Heval Sakine begrüßte uns sehr herzlich. Wir konnten ihre Sprache nicht verstehen, aber ihr Enthusiasmus sagte schon alles“, erzählt Rewşen Reşit von dieser Begegnung. „Sie war gerade erst aus dem Gefängnis gekommen und sagte, dass die Menschen aus Rojava sie begeistern. Es waren sehr viele Menschen da und das beeindruckte sie. Sie meinte, dass der Zusammenhalt des Volkes die Bewegung stärkt.“

Sie habe Sakine Cansız wegen ihres Widerstands im Gefängnis bereits gekannt, aber ihr persönlich zu begegnen, sei etwas anderes, sagte Rewşen Reşit: „Die Bewegung hatte für uns eine ideelle Bedeutung, aber eine führende Frau zu treffen, war ein besonderes Gefühl und hat die Verbindung gestärkt. Was sie sagte, musste übersetzt werden, aber die Wut auf den Feind war ihren Augen abzulesen. Mit ihrem Gefängniswiderstand, ihrem Kampf und ihrem leidenschaftlichen Freiheitsdrang war sie ein Vorbild für die Menschen, die in der Akademie zusammenkamen. Sie war eine Quelle der Kraft und ein Symbol für den Widerstand kurdischer Frauen. Ihre Haltung machte uns glücklich und gab uns Mut. Ihr Kampf gibt uns immer noch Kraft und wir sind stolz auf sie. Wir werden diesem Kampf bis zum letzten Blutstropfen folgen.“