Cenî: Sara, Rojbîn und Ronahî sind unvergessen!

Zehn Jahre nach dem Mord an Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan erfahren Gewalt und Feminizide an kurdischen Frauen einen neuen Höhepunkt, erklärt das Kurdische Frauenbüro für Frieden und ruft zur Selbstverteidigung auf.

Das Kurdische Frauenbüro für Frieden – Cenî warnt in einer Mitteilung anlässlich des zehnten Jahrestages der staatsterroristischen Morde an Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan vor einer eskalierenden Gewalt und Repression gegen Frauen und LGBTQI+ weltweit und ruft zur Ausweitung der Selbstverteidigung gegen patriarchale Gewalt auf. „Wir müssen den Weg weiterführen und zu Ende gehen, den unsere gefallenen Genossinnen angefangen haben und für den sie ihre Leben lassen mussten. Ihren Weg weiterzugehen, bedeutet zugleich zu gedenken und zu kämpfen.“

Die vollständige Erklärung des kurdischen Frauenbüros Cenî lautet:

Zehn Jahre ist es her, dass ein Beauftragter des türkischen Geheimdienstes (MIT) die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız (Sara), Leyla Şaylemez (Ronahî) und Fidan Doğan (Rojbîn) in Paris ermordete. Zehn Jahre nach diesem dreifachen Feminizid kämpft die kurdische Befreiungsbewegung noch immer für Aufklärung, Gerechtigkeit und Wahrheit. Weder wurden die Ermittlungen abgeschlossen, noch wurden die Verantwortlichen je zur Rechenschaft gezogen.

Kurdische Aktivist:innen sind in Europa weiterhin in Gefahr und werden zum Ziel faschistischer Angriffe. Unter anderem weil es damals schon keine Konsequenzen gab, konnte ein solcher Angriff erneut durchgeführt werden: Am 23. Dezember, nur zwei Wochen vor dem zehnten Jahrestag der Ermordung unserer Genossinnen, wurde erneut ein solcher Anschlag in Paris verübt, bei dem erneut drei Personen ermordet wurden: Evîn Goyî (Emine Kara), Abdurrahman Kızıl und Mîr Perwer (Mehmet Şirin Aydın). In beiden Fällen, 2013 wie heute, sprechen wir von Feminizid und patriarchalen Angriffen. In beiden Fällen wurden Frauen ermordet, die Jahre oder sogar Jahrzehnte ihres Lebens dem kurdischen Befreiungskampf und der Frauenrevolution widmeten.

Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez (v.l.n.r.) wurden am 9. Januar 2013 im Kurdistan-Informationszentrum in Paris mit Kopfschüssen hingerichtet. Für die Morde ist bis heute niemand bestraft worden. Das Verfahren wurde 2016 eingestellt, nachdem der Schütze Ömer Güney, ein vom türkischen Geheimdienst (MIT) angeheuerter Faschist, kurz vor Prozessbeginn unter mysteriösen Umständen in Haft starb. Die auf Betreiben von Angehörigen der ermordeten Revolutionärinnen angestrengte Wiederaufnahme der Ermittlungen wird seit 2019 blockiert, da Frankreich das Attentat als Staatsgeheimnis behandelt. 


Sakine Cansız, 1958 in eine kurdisch-alevitische Familie in Dersim geboren, war Mitbegründerin der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eine Vorreiterin im Befreiungskampf der kurdischen Frauen. Sie leistete an der Seite der Gesellschaft, in den türkischen Gefängnissen und im bewaffneten Kampf in den Bergen Widerstand und galt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Frauenbewegung. Leyla Şaylemez wurde 1989 in Mersin geboren. Ihre Familie kam ursprünglich aus der kurdischen Stadt Amed und floh in den 90er Jahren nach Deutschland, als Leyla gerade acht Jahre alt war. Sie wurde dort in der kurdischen Jugendbewegung aktiv und organisierte insbesondere junge Frauen in der Bewegung. Fidan Doğan, 1982 in eine kurdisch-alevitische Familie in Elbistan geboren, kam im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie nach Frankreich. Dort wurde sie später zunächst in der Jugendbewegung und dann beim Kurdistan Nationalkongress (KNK) und dem kurdischen Informationsbüro in Paris aktiv, wo sie diplomatische Arbeit machte.

Emine Kara war Kommandantin im Kampf gegen den IS und ein langjähriges hochrangiges Mitglied der kurdischen Freiheitsbewegung. Sie wurde beim Anschlag im Dezember 2022 als Erstes hingerichtet und es ist naheliegend, dass sie als führendes Mitglied der Bewegung und als Frau ein primäres Ziel des Anschlags gewesen ist. So betrachtet die kurdische Bewegung den Anschlag im Dezember als eine Fortsetzung des Feminizids von 2013.

Zehn Jahre danach sind Gewalt und Feminizide an kurdischen Frauen sowie globale patriarchale Gewalt im Allgemeinen an einem Höhepunkt. Die Frauenrevolution in Rojava wird von der türkischen Besatzerarmee angegriffen, das iranische Regime geht brutal gegen die Revolution der Frauen im Iran vor, und Vorreiterinnen der Frauenbewegung, wie unsere Genossin Nagihan Akarsel, werden vom türkischen Geheimdienst in Südkurdistan ermordet, ohne dass es Konsequenzen gibt.

Auf globaler Ebene sehen wir neben der Neoliberalisierung und Vereinnahmung feministischer Kämpfe ein zunehmend eskalierendes Maß an Gewalt und Repressionen an Frauen und LGBTQI+, die insbesondere jene trifft, die am radikalsten gegen das menschenverachtende System des Kapitalismus kämpfen und von diesem betroffen sind.

Für uns bedeutet das: Wir müssen uns entschlossener denn je verteidigen und organisieren – gegen Invasionen, faschistische und patriarchale Angriffe, Kapitalismus und Krieg. Wir müssen den Weg weiterführen und zu Ende gehen, den unsere gefallenen Genossinnen angefangen haben und für den sie ihre Leben lassen mussten. Ihren Weg weiterzugehen, bedeutet zugleich zu gedenken und zu kämpfen. Lasst uns unsere Selbstverteidigung gegen patriarchale Gewalt auf der Linie aufbauen, die gefallene Frauen wie Sakine Cansız, Fidan Doğan, Leyla Şaylemez, Nagihan Akarsel und so viele andere uns vorgelebt haben.

Şehîd Namirin! Jin Jiyan Azadî!