Gedenkmarsch in Paris: „Frankreich schuldet uns Gerechtigkeit“

Die kurdische Gesellschaft in Europa hat ihre Forderung an Frankreich erneuert, die Verantwortlichen des Dreifachmords vom 9. Januar 2013 endlich zur Rechenschaft zu ziehen: „Dieses Land hat die Pflicht, Gerechtigkeit zu üben. Die Mörder sind bekannt.“

Die kurdische Gesellschaft in Europa hat ihre Forderung an Frankreich erneuert, die Verantwortlichen des Dreifachmords vom 9. Januar 2013 endlich zur Rechenschaft zu ziehen. „Dieses Land hat die Pflicht, Gerechtigkeit zu üben. Die Mörder sind bekannt. Die Geheimhaltung hinsichtlich der Ermittlungen muss aufgehoben werden“, hieß es einstimmig in verschiedenen Reden bei der Abschlusskundgebung zur Großdemonstration an diesem Sonnabend in Paris. An dem Gedenkmarsch beteiligten sich tausende Menschen. Viele waren aus Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Belgien mit Bussen angereist.

Mit dem politischen Attentat vor zehn Jahren wurden drei Generationen der kurdischen Befreiungsbewegung angegriffen: Sakine „Sara“ Cansız war Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eine führende Persönlichkeit der kurdischen Frauenbewegung. Fidan Doğan (Rojbîn) war Vertreterin des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) in Paris, die 25-jährige Leyla Şaylemez (Ronahî) eine Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung in Europa. Sie wurden im kurdischen Informationsbüro in der 147 Rue La Fayette mit Kopfschüssen hingerichtet.


Bis heute niemand bestraft

Für die Morde ist bis heute niemand bestraft worden. Das Verfahren wurde 2016 eingestellt, nachdem der Schütze, ein vom türkischen Geheimdienst (MIT) angeheuerter Faschist, kurz vor Prozessbeginn unter mysteriösen Umständen in Haft starb. Die auf Betreiben der Angehörigen angestrengte Wiederaufnahme der Ermittlungen wird seit 2019 blockiert, denn Frankreich behandelt das Attentat als Staatsgeheimnis. Und dass, obwohl die Täterschaft des MIT hinter den Morden durch viele in jahrelangem Kampf der kurdischen Bewegung aufgefundene Beweise so gut belegt ist, dass sie auch Eingang in die Akten der Polizei und Staatsanwaltschaft fanden.

Türkischen Staatsterrorismus nicht länger ignorieren

„Die Verzögerung der Aufklärung der Morde an Sara, Rojbîn und Ronahî beinhaltet eine grundlegende Verweigerung von Gerechtigkeit und Menschenwürde. Und dieser Zustand dauert seit nunmehr zehn Jahren an“, betonte Agit Polat, Sprecher des kurdischen Dachverbands in Frankreich (CDK-F). Der Aktivist kritisierte, dass ein solcher Angriff nicht ohne die Unterstützung von „verschiedenen Kräften in Frankreich und Europa“ möglich gewesen wäre und wies der damaligen französischen Regierung eine direkte Mitverantwortung für die Morde zu. „Schuldig ist aber auch die derzeitige politische Führung Frankreichs, da sie schweigt und die Gerechtigkeit den zwischenstaatlichen Interessen opfert. Wir Kurdinnen und Kurden fordern eine neue Ausrichtung der Türkei-Politik Frankreichs. Die Regierung muss endlich eingestehen, dass der türkische Staat kein würdiger und verlässlicher Partner ist. Statt den von Ankara hier in Paris und vielen anderen Orten auf der Welt praktizierten Staatsterrorismus zu ignorieren, muss Frankreich aufgrund seiner Verantwortung der kurdischen Gesellschaft gegenüber das Staatsgeheimnis aufheben, alle Schuldigen bekanntgeben und sie verurteilen“, forderte Polat.


Schweigen bedeutet Mitschuld

Der jährliche Gedenkmarsch für die Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez hat nach einem weiteren Anschlag auf die kurdische Gemeinde in Paris, bei dem Emine Kara, Mîr Perwer und Abdurrahman Kızıl kurz vor Weihnachten von einem 69-jährigen Franzosen erschossen wurden, traurige Aktualität erhalten. „Das zweite Massaker hätte verhindert werden können, wenn der erste Dreifachmord restlos aufgeklärt worden wäre“, sagte Metin Cansız, ein Bruder von Sakine Cansız. Cemile Renkliçay von der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E) betonte, dass sich der Kampf kurdischer Frauen um Gerechtigkeit für ihre ermordeten Freundinnen und Freunde nicht untergraben lassen werde. „Wir wissen, dass jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit an unserer Gemeinschaft – ob es in Kurdistan verübt wird oder in Europa – auch die Verantwortung der Staaten ist, die sich an die Seite des Regimes in Ankara stellen, die schweigen und sich damit zu Komplizen machen.“

Wir stehen in der Schuld der Kurden

Neben Vertreter:innen kurdischer und anderer migrantischer Organisationen hielten auch verschiedene französische Politiker:innen, Jurist:innen, Gewerkschaftsvertreter:innen und Akademiker:innen Reden. Alexandra Cordebard, Bürgermeisterin des zehnten Pariser Bezirks, in dem sich die Tatorte beider Massaker befinden, bekundete ihre „tiefe Trauer“ über die Morde und sicherte der kurdischen Community ihre volle Solidarität zu. „Wir stehen in der Schuld der Kurden, weil sie die Hauptlast des Kampfes gegen den IS getragen haben. Ihre Opfer ermöglichten unser sicheres Leben in Europa. Das kurdische Volk sollte wissen: Als Gewählte stehen wir Ihnen bei und teilen Ihre Forderung nach Aufklärung der Morde. Es muss Gerechtigkeit herrschen“, so Cordebard.

Anschlag vom 23. Dezember ist Fortsetzung der Morde vor zehn Jahren

Der Schauspieler Jacques Martial, der zugleich Vize der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist, würdigte die kurdische Gemeinschaft als Volk, das einen „Widerstand für Menschlichkeit“ leiste. „Frankreich trägt die Pflicht, die Kurden zu schützen“, sagte Martial. Für die linke La France Insoumise sprach die Abgeordnete Mathilde Panot. Sie begann mit Worten im Gedenken an „Sara, Rojbîn und Ronahî“. Anschließend hieß es: „Für uns steht außer Frage, dass der Anschlag am 23. Dezember eine Fortsetzung der Morde vor zehn Jahren ist. Wir lehnen die These vom rechtsextremen Einzeltäter, der sich die kurdische Community spontan als Angriffsziel ausgesucht habe, entschieden ab. Die Geschichte hat sich wiederholt, es handelte sich um einen geplanten terroristischen Anschlag.“

Die Politikerin forderte zudem die Aufhebung des PKK-Verbots und betonte, dass politische Morde an kurdischstämmigen Menschen nicht unabhängig von der internationalen Kriminalisierung ihrer Befreiungsbewegung seien. „Solange das Verbot nicht aufgehoben wird, bleibt der Willen des kurdischen Volkes nach Demokratie und Selbstbestimmung im Fokus von Angriffen“, warnte Panot.

Der kommunistische Senator Pierre Laurent, der auch Vizepräsident des französischen Senats ist, appellierte an Präsident Emmanuel Macron, das Staatsgeheimnis zu enthüllen. „Wenn Frankreich das Massaker an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez nicht aufklärt, wird es sich eines großen Verbrechens schuldig machen. Das käme eine Komplizenschaft mit Diktator Erdogan gleich – und wäre fatal für unser Land.“